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HINTERGRUND/189: Interview mit dem costaricanischen Bildungsexperten Prof. Dr. Vernor Muñoz Villalobos


die zeitung - terre des hommes, 01/2012

»Auslese führt zu Diskriminierung ...«

Interview mit dem costaricanischen Bildungsexperten Prof. Dr. Vernor Muñoz Villalobos



FRAGE: Herr Prof. Muñoz, was ist eigentlich das Ziel von Bildung?

ANTWORT: Eine verkürzte Definition von Bildung wäre, dass sie Schüler in die Lage versetzt, einen Schulabschluss zu schaffen. Doch Bildung ist mehr: Sie ist eine Voraussetzung für ein freies und selbstbestimmtes Leben. Deshalb ist es so wichtig, dass Kinder nicht nur irgendeine Schule besuchen, sondern dass auch Unterrichtsinhalte und -methoden dazu beitragen, jungen Menschen höchstmögliche Lebenschancen zu eröffnen.

FRAGE: Können Sie dies an einem Beispiel erläutern?

ANTWORT: Oft haben Schüler mit Migrationshintergrund größere Verstehens- und Lernschwierigkeiten als ein heimische Kinder. Ähnliches gilt für in irgendeiner Form behinderte Kinder. Was ich meine ist, dass jeder Mensch nicht nur ein Recht auf Zugang zu Bildung hat, sondern auch auf eine ihm angemessene, qualitativ hochwertige Bildung. Wobei Qualität nicht ausschließlich den über Schule organisierten Erwerb von Wissen und Fertigkeiten bedeutet. Bildung geht über Schulpflicht hinaus. Bildung umfasst auch das Recht auf gehaltvolle, lebenstaugliche Lernprozesse und Erfahrungen, die es Kindern und Jugendlichen, individuell und kollektiv, erlauben, ihre Persönlichkeit, Talente und Fertigkeiten zu entwickeln. Jenseits der formalen Möglichkeit des Bildungszugangs und -abschlusses, ist das Ziel von Erziehung von daher, die Voraussetzung zu schaffen, damit jeder Mensch ein in jeder Hinsicht zufriedenes und würdiges Leben leben kann.

FRAGE: Haben Sie den Eindruck, dass das deutsche Bildungssystem diesem Ziel gerecht wird?

ANTWORT: Streng genommen gibt es nicht »das« deutsche Bildungssystem. Aufgrund der Kulturhoheit der Länder kann jedes Bundesland Bildung nach eigenen Vorstellungen organisieren. Das führt zu sehr unterschiedlichen Bildungsmodellen in den Bundesländern, was man natürlich als Chancenvielfalt sehen kann. Sie kann aber auch dazu führen, dass die fehlende Einheitlichkeit Kindern, die mit ihren Eltern von einem Bundesland in ein anderes umziehen, Nachteile bringt. Chancen scheinen also auch davon abzuhängen, wo man lebt und zur Schule geht. Noch schwieriger ist es, Kindern mit Migrationshintergrund oder Behinderung die gleichen Bildungschancen wie den übrigen Kindern zu garantieren. Dies hat mit der frühen Einstufung zu tun. Auf der Grundlage einer persönlichen Bewertung durch den Klassenlehrer werden Zehnjährige klassifiziert und dem mehrgliedrigen Schulsystem zugeordnet. Viele Untersuchungen und Studien zeigen, dass dieses Verfahren den Kindern nicht gerecht wird.

FRAGE: Deutschland hat alle internationalen Bildungsabkommen ratifiziert. Bildung ist ein in der Verfassung festgeschriebenes Recht. Worin besteht dann das Problem?

ANTWORT: Das Hauptproblem sehe ich in dem selektiven Charakter des Bildungssystems. Auslese führt zu Diskriminierung und Ausschluss. Dies ist insbesondere wieder bei Migrantenkindern und Kindern mit Behinderung der Fall, aber auch bei armen und sozial benachteiligten Kindern. Es ist offensichtlich, dass sie durch die frühe Auslese noch weiter benachteiligt werden. Im Ergebnis gehen Migrantenkinder überdurchschnittlich oft zur Hauptschule und durchschnittlich oft aufs Gymnasium. Diese Kinder sind doppelt benachteiligt: Erst durch ihre Herkunft und dann durch ihre Bildungszuweisung. International betrachtet ist diese sehr frühe Entscheidung für eine Schulform sehr untypisch. Das dreigliedrige Schulsystem hat eine lange und stark verankerte Tradition in Deutschland, und es hat von jeher für die Kinder bestimmenden Einfluss auf ihre Schulkarriere, die Bildungsqualität und ihren Schulerfolg.

FRAGE: Was muss geschehen, damit von Bildung in Deutschland zukünftig alle Kinder gleichermaßen profitieren können?

ANTWORT: Das Bildungssystem muss durchlässiger werden und sich an den Bedürfnissen von Kindern mit den vielfältigsten sozialen und kulturellen Hintergründen und Fähigkeiten orientieren. Die Bedingungen müssen für alle Lernenden gerecht und gleich sein. Das gilt für den Zugang zur Schule, aber ebenso für die Unterstützung und Beachtung der Lernbedürfnisse eines Kindes. Unsere Maxime muss sein: Bildung ist ein jedem einzelnen Kind zustehendes Menschenrecht.


Prof. Dr. Vernor Muñoz Villalobos war UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Bildung.

Das Interview führte Albert Recknagel. Das vollständige Interview finden Sie im Internet unter
www.tdh.de/munoz

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Quelle:
die zeitung, 01/2012, S. 6
Herausgeber: terre des hommes Deutschland e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. April 2012