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AUTOREN/034: Günter de Bruyn - Widerständig aus christlichen Wurzeln (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion 12/2008

Widerständig aus christlichen Wurzeln
Der Schriftsteller Günter de Bruyn als Zeitgenosse im Widerspruch

Von Thomas Brose


Der ostdeutsche Schriftsteller Günter de Bruyn wurde in eine spannungsvolle Welt zwischen Preußentum und Katholizismus hineingeboren. Ungewollt wird de Bruyn zu einem politischen Schriftsteller - und damit zu einer Ost und West verbindenden intellektuellen Leitfigur.


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"Von der Gefährlichkeit der Poesie (Jubelschreibe, Trauergesänge, 1991, 169)" - so überschreibt Günter de Bruyn eine zu Heinrich Bölls Ehren gehaltene Rede. Der Reiz des 1989 in Leipzig vorgetragenen Textes liegt heute darin, dass es bei seiner Relecture zu einer aufregenden Spiegelung kommt: Ein ostdeutscher Autor spricht nicht bloß über sein literarisches Vorbild, sondern - mehr noch - ein Intellektueller handelt hier über einen Wahlverwandten. De Bruyn hebt exemplarisch hervor, Böll habe sich gegen die Verharmlosung seines literarischen Werks stets zur Wehr gesetzt. In seinem Porträt des bekennenden Nonkonformisten lehnt er deshalb jeden Versuch einer "Aufspaltung in den Künstler oder den politischen Mahner" kategorisch ab. "Grundlage seiner Ehrlichkeit", so der Berliner Diasporakatholik über den Kölner, "war eine Selbständigkeit, die er sich immer bewahrte; nie opferte er sie einer Gruppe, einer Partei, einer Mode, einer politischen Konzeption oder einer Regierung auf" (Jubelschreibe, Trauergesänge, 178).

"Die Mächtigen, die Karrieresüchtigen, die Mitläufer, die Leidenden und die Verweigerer sind sich rechts- und linkselbisch weitgehend ähnlich. Man lernt den kritischen Blick also auch von einem, dessen Kritik einem anderen Gegenstand gilt" (Jubelschreibe, Trauergesänge, 178). Indem der 1926 in der preußischen Metropole Geborene über den sperrigen katholischen Rheinländer redet, spricht er zugleich über eigene Kämpfe und Erfahrungen. De Bruyn selbst hatte weite Strecken zu überbrücken: vom grüblerischen Außenseiter bis hin zum widerständigen Schriftsteller und kritischen Intellektuellen, der gegen Wolf Biermanns Ausbürgerung protestierte (1976), auf dem 10. Schriftstellerkongress der DDR die Abschaffung der Zensur forderte (1987) und schließlich die Annahme des Nationalpreises (1989) verweigerte.

Alsbald jährt sich die gewaltlose Revolution von 1989 zum zwanzigsten Mal. Dieses Gedenken bietet zugleich Gelegenheit, den Mauerfall nicht pauschal zu bejubeln, sondern nochmals genauer nachzufragen: Welche persönlichen Prägungen waren mitverantwortlich dafür, dass es zu dieser Zeitenwende kommen konnte? Welche Haltungen hatten Bestand? Was erwies sich im erschöpften Osten Deutschlands als lebensfähig, nachdem zwischen Herbstrevolution und Wiedervereinigung alle Kultur auf den Prüfstand gestellt wurde? Woher stammten jene Ressourcen, die den Untergang der DDR herbeiführten und einen kraftvollen Neuanfang möglich machten? Wieso widerstanden manche Intellektuelle der Versuchung, ihr Heil im irdischen Paradies zu suchen?

Es verdient Beachtung, dass de Bruyn, der Verächter jeder Form politischer Religion, Anfang der neunziger Jahre zu einer gesamtdeutschen intellektuellen Leitfigur avancierte, vor allem mit seiner "Zwischenbilanz" (1992). An ihrem Ende gibt der menschenfreundliche Skeptiker einen sprechenden Hinweis auf den autobiografischen Folgeband "Vierzig Jahre" (1996). "Dort werde ich auch die Frage zu beantworten versuchen, warum ich mir die geistige und moralische Mühsal der kommunistischen Utopie hatte ersparen können. Vielleicht spielte dabei der Katholizismus eine Rolle, weil er das nötige Glaubenspotenzial schon abgedeckt hatte, vielleicht wirkte eine auf Autonomie zielende Kindheitsprägung; (...) ganz sicher aber schützten mich meine Erfahrungen mit dem Dritten Reich" (Zwischenbilanz, 376) - auch das eine Erfahrung, die er mit Böll teilt.

Festzuhalten bleibt: Es sind Deutungsmuster einer christlich geprägten Kindheit und Jugend, die den Schriftsteller unter totalitären Vorzeichen dazu befähigen, eine widerständige Existenz zu führen, bei der Leben und Autorschaft eine Ganzheit bilden.


Zwischen Preußentum und Katholizismus

Bereits die Ausgangslage ist verzwickt: De Bruyn wird in eine spannungsreiche Welt hineingeboren. Ihre gegensätzlichen Pole heißen Preußentum und Katholizismus. "Im Erzählrepertoire meiner Mutter", berichtet er in seiner "Zwischenbilanz", "fehlte seltsamerweise die Hochzeitsfeier, erwähnt wurde aber die Tatsache, dass weder ihr Vater, der Briefträger, noch ihr Schwiegervater, ein Schauspieler, mit der Heirat zufrieden war. Dem preußischen Postbeamten war ein bayerischer, katholischer, ungedienter und auswanderungswilliger Schwiegersohn unerträglich; dem Schauspieler dagegen, der aus einstmals vornehmer Familie stammte, war die Schwiegertochter nicht schön, nicht reich und nicht gebildet genug" (Zwischenbilanz, 9).

Mit knappen Strichen skizziert der Sohn einer Brandenburgerin und eines Bayern Rahmenbedingungen seiner Berliner Kindheit: Er ist Schulanfänger, als Hitler die Macht erschleicht, und erlebt das Kriegsende als Achtzehnjähriger. Wie Günter Grass gehört de Bruyn damit zur Generation jener Autoren, die als literarische Zeitzeugen des "Dritten Reiches" ausgeprägtes Publikumsinteresse genießen. Anders als der Nobelpreisträger hatte er sich jedoch auch nach 1945 im Osten Deutschlands mit einem Staat auseinanderzusetzen, der sich im Besitz einer konsistenten Weltformel und absoluter Wahrheit wähnte.

Die Kindheits- und Jugenderinnerungen des Autors der "Zwischenbilanz", die bis in die Nachkriegszeit reichen, werden durch "Vierzig Jahre" eines Erwachsenenlebens bis zum Mauerfall 1989 komplettiert. Beide Bücher sind erzählerische Meisterwerke. Sie eröffnen nicht bloß Einblicke in das spannungsreiche Miteinander von Metropole und Milieukatholizismus, sondern schildern eine dichterische Existenz, die im Kraftfeld sich überstürzender Ereignisse nach moralischen Maßstäben und tragfähiger Wahrheit fragt: Wie also reagiert man auf politische Heilsversprechen und totalitäre Bedrohungen? Welche Rolle spielen familiäre Rituale und christliche Ausdrucksformen? Bietet der Glaube Schutz vor dem Rückfall in die Barbarei?

Gesteigerte Aufmerksamkeit verdient de Bruyns Autorschaft auch deshalb, weil sich darin ein eigenständiger theologischer und anthropologischer Ansatz manifestiert. Der Schriftsteller beharrt nämlich darauf: Elementares intellektuelles Fragen - Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? - ist von gesellschaftlichem Druck niemals zum Schweigen zu bringen. Die Zeitenwende zwischen Weimarer Republik und Nationalsozialismus sowie jene vierzig Jahre, die er im Osten Deutschlands erlebt, durchleidet und als Autor begleitet, schildert de Bruyn deshalb trotz aller Ängste und Anfechtungen als einen Prozess zunehmender Individuation: als vertieftes "Training im Ich-Sagen" (Zwischenbilanz, 7).

Dabei gerät der zweiflerische Einzelgänger immer stärker in die Rolle eines Zeitgenossen im Widerspruch. Ungewollt wird de Bruyn so zum politischen Schriftsteller. An der Nahtstelle zweier Welten kann Schreiben nämlich niemals unpolitisch sein. Bis er jedoch in der Lage ist, Existenzangst zu überwinden und dem herrschenden System die Wahrheit deutlich lesbar ins Stammbuch zu schreiben, muss er selbst weite Wege zurückzulegen: Am Anfang seiner literarischen Laufbahn steht mit dem 1963 erschienenen "Hohlweg" - de Bruyn wird dafür mit dem Heinrich-Mann-Preis ausgezeichnet - ein Wälzer, den der Autor später als "Holzweg" charakterisiert und als literarische Totgeburt verwirft. "Mein Ehrgeiz, gedruckt zu werden, war größer als die Verpflichtung zur eigenen Wahrheit gewesen" (Vierzig Jahre, 116).


Prägende Kindheitsmuster

"Die Sicherheit, der ich das Glück meiner frühen Kindheit verdanke, basierte neben der Liebe der Eltern zu uns und zueinander auch auf einem Familien-Katholizismus, der unser Leben in die festen Regeln von Tisch- und Abendgebet, von sonntäglichem Kirchenbesuch und fleischlosen Freitagen zwängte, sonst aber von Person zu Person individuell gefärbt war." Vom Vater lernt er, "dass die Kirche (im Gegensatz zu den Preußen, die alles perfekt haben wollten) zwar Gehorsam verlangt, aber die Unvollkommenheit von Sündern einkalkuliert. Er gab mir den Schutzengel mit, der mich auf der Straße und im Dunkeln behütete und der Angst vor der Zukunft zu wachsen verbot" (Zwischenbilanz, 36).

Gerade in der "Zwischenbilanz" wird deutlich, wo die Quellen dieser Existenz im Widerspruch zum politischen Zeitgeist zu finden sind. Katholischsein in der Berliner Diaspora bedeutet für das jüngste von vier Geschwistern, Rückhalt im Glauben zu suchen und sein Leben davon imprägnieren zu lassen - etwa durch das Ritual allabendlicher Gewissenserforschung. Ein prägendes Kindheitsmuster. Anders als sein berühmter Kollege Günter Grass, der abfällig "vom katholischen Mief" redet und erst in dem Band "Beim Häuten der Zwiebel" (2006) bekennt, als Siebzehnjähriger Mitglied der Waffen-SS geworden zu sein, geriet der durch sein katholisches Elternhaus geprägte de Bruyn nicht in eine derartige Versuchung.

Als Günter de Bruyn vor über acht Jahrzehnten in Berlin geboren wird, redet alle Welt von Preußens Metropole und ahnt nicht, dass die quirlige Reichshauptstadt bald im Epizentrum einer weltgeschichtlichen Katastrophe wiederzufinden sein wird. Die "Zwischenbilanz" schildert aus kindlicher Perspektive einen Prozess politischer Überwältigung. Die Nazi-Diktatur legt ihre Fesseln zuerst kaum merklich an, verlangt aber schließlich immer fester nach Glaubenseifer und Machtanbetung - zugleich damit jedoch gewinnen Widerstandskräfte an Profil. Da ist vor allem de Bruyns bewunderter Bruder.

Der Ältere - bei ihm stehen Franziskus' Sonnengesang, Platons Werke, Guardinis "Geist der Liturgie" sowie Gedichte von Rilke nebeneinander im Buchregal - bringt dem Jüngeren die katholisch-bündische Welt nahe. "Karlheinz, der, meiner Erinnerung nach, niemals Launen hatte, niemals ratlos oder albern war, stellte für mich das unerreichbare Vorbild dar. In ihm gelangten die aus Religiosität, Intellekt und Pfadfindertum gemischten Ideale (...) auch zu mir" (Zwischenbilanz, 45).

Der Schriftsteller wirft einen Blick auf die "Diasporastadt Berlin". 1930 Bischofsstadt geworden, hatte sie zu jener Zeit "etwa zehn Prozent Katholiken, und denen war Kirchgang Pflicht". Obwohl der junge Günter den Gottesdienst nur selten andächtig mitfeiert, gibt es für ihn hier nie Langeweile. "Zu sehr musste ich darauf achten, beim Aufstehen und Setzen, beim Knien und Kreuzschlagen, Beten und Singen alles richtig zu machen, zu spannend war es, der Liturgie in ihrem Ablauf zu folgen und die vielen fremden Gesichter zu sehen" (Zwischenbilanz, 38). Anders als seine Mitschüler entwickelt der mit Engeln und Heiligen Aufgewachsene große Abneigung gegenüber allem Nazi-Kult. In HJ-Dasein und Wehrertüchtigung erblickt er darum keineswegs die Fortsetzung früherer Winnetou-Spiele mit anderen Mitteln. Vielmehr fühlt sich der spätere Autor unfähig zu Uniformität und Massenexistenz.

Noch im Frühjahr 1945 wird der Achtzehnjährige schwer verwundet, er leidet an Aphasie und ist verzweifelt über den zeitweiligen Verlust seines Schreib- und Sprechvermögens. Nur ganz langsam gelingt es dem Kopfverletzten, sich wieder Dichtergeburtsjahre und Karl-May-Figuren ins Gedächtnis zu rufen. Dabei reift sein Entschluss, später von den Schrecken des Krieges Zeugnis abzulegen.

Sein weiterer Werdegang: Gefangenschaft, Heimkehr und Berufsanfang als Neulehrer, später Ausbildung zum Bibliothekar, Arbeit in der Berliner Staatsbibliothek, ehe de Bruyn das Kunststück glückt, sich als freier Schriftsteller eine eigene Existenz aufzubauen. Wie sehr der Autor und Essayist dabei durch Familientradition, katholische Rituale und seine existenzielle Wahrheitssuche geprägt ist, schildert er glänzend in der genannten Lebenschronik "Vierzig Jahre". In dieser zwischen 1949-1989 angesiedelten Autobiografie - Entwicklungsroman und Epochenpanorama zugleich - fehlt keines der Ereignisse, die den Osten Deutschlands politisch erschüttern: verfehlte Entstalinisierung und der Volksaufstand vom Juni 1953, Mauerbau 1961, Prager Frühling 1968 sowie die Proteste gegen Biermannns Ausbürgerung bis hin zum Mauerfall.

Die 1978 erschienenen "Märkischen Forschungen" zeigen exemplarisch, wie es dem Verfasser mit Ironie und geistreichem Spott gelingt, das Ringen um intellektuelle Redlichkeit und wahrhaftige Existenz darzustellen. Zugleich ist dies de Bruyns gewagter Beitrag, sich in einer brisanten geschichtspolitischen Debatte der DDR zu Wort zu melden.


Gefährliche Forschungen

Erst in der Spätzeit der DDR Ende der siebziger Jahre änderte das herrschende Politbüro seine historiographische Strategie: Vom Staatsratsvorsitzenden höchstpersönlich wurde beispielsweise 1983 zum "Luther-Jahr" ausgerufen. Zu seinem fünfhundertsten Geburtstag galt der Reformator plötzlich nicht mehr als Volksfeind und Fürstenknecht, sondern als einer der progressivsten Deutschen seiner Epoche. Ironie der Geschichte: Über den devisenträchtigen Jubel in Wittenberg und den Trubel auf der Wartburg vergaßen die alten Ideologen beinahe, einen zu ehren, der ihnen ideologisch sehr viel näher stand: Karl Marx. Die Feiern zu seinem hundertsten Todestag fielen denn auch im Vergleich zur bombastischen Luther-Ehrung kläglich aus - ein Begräbnis dritter Klasse.

Beim Wiederlesen der "Märkischen Forschungen" kommt mir lebhaft in den Sinn, wie ich diese - sichtlich an Jean Pauls Vorliebe für Satire geschulte - Erzählung für Freunde der Literaturgeschichte zu Anfang der achtziger Jahre auf einem zugigen Provinzbahnhof aufsog und darüber beinahe den Zug verpasste. Was ich da in meiner Hand hielt, erschien mir als glänzender Kommentar zum spätsozialistischen Zeitgeist, der das Preußen Friedrichs II. feierte und den Eisernen Kanzler Bismarck als ungemein staatstragenden Politiker empfand. Allerdings wurde mir auch erstmals klar: Hier schreibt einer nicht bloß für literarische Enthusiasten, sondern für Menschen, die um wahrhafte Existenz ringen.

Dabei erzählt der Roman am Anfang von einzigartiger Freundschaft. Für den Dorfschullehrer Pötsch bedeutet Heimatliebe, alle Kraft darauf zu konzentrieren, die Biografie eines verschollenen Dichters akribisch zu rekonstruieren. Da lässt es sich als glückliche Fügung bezeichnen, wenn er mitten in der Märkischen Heide auf jenen Mann stößt, der allein diese Anstrengungen zu würdigen weiß: "Sie kennen Max von Schwedenow? Dann sind Sie vielleicht Professor Menzel?" (Märkische Forschungen, 155).

Der Großgermanist Menzel ist Mitherausgeber zahlreicher Fachzeitschriften; er tritt regelmäßig im Fernsehen auf. Ein Stern am Historikerhimmel. Der Professor hat es längst zum "Zentralinstitut" gebracht. Aber Schwedenow soll ihm noch dazu verhelfen, seinen Platz in den Annalen der Wissenschaftsgeschichte zu sichern. Um der historischen Legitimierung seines Staates zu dienen, will er den Autor darum als "Märkischen Jakobiner" porträtieren. Pötsch dagegen entdeckt im Werk des von ihm verehrten Verfassers ein Stück von sich selbst. Zur Feier seines 50. Geburtstages bezeichnet Menzel diesen Pötsch schließlich als seinen besten Freund, bietet ihm das Du an und stellt ihn als Forscher mit sich auf eine Stufe - der Sturz ist desto tiefer.

Unheil braut sich über Pötsch zusammen. Anlass dazu gibt ein Schwedenow-Aufsatz, den der Dorfschullehrer dem Professor als besonderes Geschenk überreicht. Doch der nimmt den Text brutal auseinander und verurteilt die "gefährlichen Thesen eines kleinen Hobby-Historikers" (Märkische Forschungen, 233). Der akribische Heimatforscher hat nämlich ein Tabu verletzt: Schwedenow erscheint aufgrund seiner Recherchen plötzlich in ganz anderem Licht: nicht mehr als märkischer Jakobiner, sondern als Reaktionär, der sein Leben keineswegs in den Befreiungskriegen aufopfert, sondern - welch satirischer Einfall - ab 1815 zum Vizepräsidenten der Berliner Zensurbehörde avanciert. Der wütende Menzel kontert: "Dir geht es um ein Phantom, das du, wie ich dich kenne, Wahrheit nennst. Mir geht es um viel mehr: um Sein oder Nichtsein in Wissenschaft und Nachwelt. (...) Dir muss doch klar sein, dass mir jedes Mittel recht ist, dich daran zu hindern" (Märkische Forschungen, 246).


Wahrheitssucher im Widerspruch

Wahrheitssuche und freies Handeln, so Günter de Bruyn in einem vieldiskutierten Redebeitrag auf dem 10. Schriftstellerkongress der DDR 1987, vertragen sich nicht mit Bücherzensur. Eine Gesellschaft, die Denkverbote erteilt - so der intellektuelle Kritiker wie sein Vorbild Heinrich Böll - nähre dagegen grundsätzliche Zweifel an ihrer Reformfähigkeit.

Wie stark diese Zweifel bei ihm zuvor bereits gediehen waren belegt das Schicksal seiner Satire "Neue Herrlichkeit". Der Roman erschien den Oberzensoren so frech und unerhört, dass die bereits gedruckte Erstauflage von 20.000 Exemplaren makuliert werden musste. Erst nachdem das Buch 1984 bereits im Westen erschienen war, durfte der Band schließlich mit einjähriger Verzögerung auch im Osten Deutschlands publiziert werden.

Den Autor bewegt darin die Frage: Was ist das für einer, dieser Viktor Kösling? Um das herauszubekommen, entsendet der Verfasser seinen Protagonisten in die Abgeschiedenheit des Heims "Neue Herrlichkeit". Wie wird der Sohn aus besten Nomenklatura-Familie hier mit ungewohnten Lebensumständen umgehen? De Bruyn baut eine gesellschaftskritische Versuchsanordnung. Schnell wird dabei deutlich: "Neue Herrlichkeit" ist kein Reservat der Harmonie, sondern erzählt von trostlosen Verhältnissen. Eine Endzeitparabel. Die Abgeschiedenheit der Brandenburger Mark ist für den Autor nicht mehr Rückzugsraum der Seele. Vielmehr wird wie unter dem Mikroskop sichtbar, auf welche Weise ein autoritär vorgeprägter Charakter auf gesellschaftliche Zwänge reagiert: nicht mit großen Gefühlen, sondern mit kleinmütigen Gesten der Machtanbetung.

Der junge Viktor ist ein Großmeister politischer Anpassung. "Er ist gewohnt, der zu sein, der gewünscht wird" (Märkische Forschungen, 27). Die "nicht standesgemäße" Beziehung zu dem Stubenmädchen Thilde findet keine Gnade in den Augen seiner Familie - sie hat für den zukünftigen Diplomaten Besseres im Sinn. Als zeitgemäße Neuauflage von Heinrich Manns "Untertan" (Heßling) erscheint Kösling ganz und gar unfähig, sich emotional zu binden und echte Gefühle zu erwidern. Als seine Liebesfähigkeit im höchsten Maß gefragt ist, ergreift dieser Mann ohne Eigenschaften die Flucht. Er nimmt ein Flugzeug und schwebt ins Ausland davon - weg von sich selbst und aller Verantwortung.

Dass die Torheit des Wahrheitssuchers weiser sein kann als wohlkalkuliertes Machtstreben, erscheint oft bloß als fromme Hoffnung. In den "Märkischen Forschungen" ist es der Machtmensch Menzel, der sich rücksichtslos gegenüber dem aufrichtigen Pötsch durchsetzt. Wenn man jedoch weiß, dass de Bruyn dieser Erzählung einen realen Konflikt zugrunde legt, gewinnt seine Geschichte - angesichts der zu erinnernden Zeitenwende von 1989 - nochmals an Tiefenschärfe.

Die erwähnte Auseinandersetzung zwischen Großgermanist und Heimatforscher um die Gestalt Max von Schwedenows spiegelt nämlich in ironischer Brechung de Bruyns eigenen Konflikt mit dem einflussreichen DDR-Ideologen Wolfgang Harich. "Als er [Harich] später unserer Beziehung, die er gern Freundschaft nannte und durch das vertrauliche Du zu bekunden verlangte, ein Ende setzte, zeigte es sich, dass er meine Ansichten, die ich ihm nicht vorenthalten hatte, erst wahrzunehmen vermochte, als er sie lesen konnte" (Vierzig Jahre, 174).

Was geschehen war? Der politisch hochambitionierte Harich reagiert empört auf de Bruyns "antirevolutionäre" Jean-Paul-Biografie und "entdeckt darin einen Dolchstoß gegen sein Lebenswerk und sich selbst" (Vierzig Jahre, 177).

Denn mit seiner eigenen Darstellung von "Jean Pauls Revolutionsdichtung. Versuch einer neuen Deutung seiner heroischen Romane" (1974) verfolgt der staatsfromme Denker und zeitweilige Dissident das Ziel, den fränkischen Dichter ideologisch zu vereinnahmen und sich damit einen Ehrenplatz in den Annalen der DDR-Wissenschaftsgeschichte zu sichern. Weil er jedoch fürchtet, de Bruyn könne ihm den geplanten Coup noch verderben, droht er ihm vielsagend, für ein Verbot von dessen Buch schon zu sorgen.

Nachspiel: Erst nach der friedlichen Revolution ist bekannt geworden, dass der stalinistisch-linientreue Autor selbst so weit ging, sich mit der Staatssicherheit einzulassen und bei einem Treffen Ende der siebziger Jahre darum bat, seinen Jean-Paul-Wälzer mit persönlicher Widmung an den Staatssicherheits-Minister Erich Mielke weiterzureichen - Wirklichkeit übertrifft Satire.


Mehr als fromme Hoffnungen

In Landschaften der Lüge, so der "märkische Forscher", ist es von entscheidender Bedeutung, der Korrumpierung durch die herrschende Macht zu widerstehen. Und genau darin erblickt er das Exemplarische des kritischen katholischen Intellektuellen Heinrich Böll. "Er hat mir gezeigt, wie man sich öffentlich einmischen müsste, und wenn ich es nicht tat, schämte ich mich speziell vor ihm" (Jubelschreibe, Trauergesänge, 165).

Für Günter de Bruyn sei es verdienstvoller, "die Schwierigkeiten der Realität auszuhalten", so Hans-Rüdiger Schwab (Laudatio zur Verleihung des Literaturpreises der Bayrischen Akademie der Schönen Künste), "als sich mit Tröstungen durch Sehnsüchte zu berauschen. In politischen Dingen setzt er eher auf Skepsis und Wachsamkeit denn auf Glaubensbereitschaft." Es erscheint daher als hoffnungsvolles Zeichen, dass der schreibende Wahrheitssucher nach 1989 zu einer Ost und West verbindenden intellektuellen Leitfigur werden konnte.


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Thomas Brose (geb. 1962), Dr. phil.; Religionsphilosoph, Studium der Theologie und Philosophie in Erfurt, Berlin und Oxford; bis 2004 Bildungsreferent der Katholischen Hochschulgemeinde Berlin, danach Koordinator für Religion und Wertorientierung bei der Konrad-Adenauer-Stiftung; Mitglied der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste; soeben erschienen: "Zwischen Himmel und Erde. Christsein in einer säkularen Welt" (Würzburg 2008).


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
62. Jahrgang, Heft 12, Dezember 2008, S. 643-646
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. März 2009