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AUTOREN/057: Wilhelm Busch - Humorist und Menschenfeind (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 10/2015

Humorist und Menschenfeind
Vor 150 Jahren erschien Wilhelm Buschs Bildergeschichte "Max und Moritz"

Von Hanjo Kesting


Über den Dichter, Zeichner und Maler Wilhelm Busch schrieb Golo Mann in seiner Deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts: "Wer etwas erfahren will vom Geist des deutschen Bürgertums in der Bismarckzeit, der kann es in den Busch-Alben besser als in manchen gesellschaftswissenschaftlichen Traktaten. Die Leute genossen die Werke des nur scheinbar heiteren, unergründlich boshaften, menschenfeindlichen Humoristen mit nie versagender Freude. Sie fühlten sich von ihm erkannt, aber auf eine Weise, die ihnen gefiel."

Für kein Werk Buschs gilt das mehr als für Max und Moritz, das Lieblingsbilderbuch der Deutschen, erschienen im Oktober 1865. Der Verkauf verlief zunächst schleppend, und erst mit der 2. Auflage kam der Erfolg, doch in Buschs Todesjahr 1908 zählte man bereits 56 Auflagen mit 430.000 Exemplaren. Seither ist Max und Moritz in fast 300 Sprachen und Dialekte übersetzt und weltweit viele Millionen Mal verkauft worden, das bekannteste deutsche Buch neben den Grimm'schen Märchen und Marxens Kapital, wie zum Beleg dafür, dass der "menschenfeindliche Humor", den Golo Mann in der Bildergeschichte zu erkennen meinte, in aller Welt verstanden wird.

Dennoch ist Buschs gesamtes Werk tief in der deutschen Kultur- und Mentalitätsgeschichte verankert. Noch heute wird kein anderer Autor, bewusst oder unbewusst, so oft zitiert wie Wilhelm Busch. Seine bündigen und lapidaren Reime, seine Weisheitssprüche und Sentenzen sind Gemeingut geworden. Solche Zitierfähigkeit hat, wie stets, zwei Seiten. Sie belegt einerseits, dass Busch zum festen deutschen Inventar gehört; andererseits lädt sie dazu ein, den Verfasser von Max und Moritz als bloßen "Humoristen" gering zu schätzen, jederzeit willkommen als Notgepäck für gemütliche und gesellige Stunden. Kaum ein Reimeschmied in deutschen Landen, der sich nicht auf Busch beruft, ihn und seine scheinbar einfache Verskunst, die den einfachen Knittelvers bevorzugt, als Modell benutzt.

Ein Missverständnis, wenigstens teilweise. Gert Ueding hat Wilhelm Busch in einem tiefdringenden Buch - es trägt den Untertitel "Das neunzehnte Jahrhundert en miniature" - gegen seinen populären Ruhm zu verteidigen versucht: "Der Erfolg erst", schrieb er, "kreierte jenen Wilhelm Busch, der aufs Deckelblatt der voluminösen Alben passte und zum Bestand bürgerlicher Kulturfassade wurde. Ein Possenreißer von Kleinbürgers Gnaden und weiser Humorist dazu, mit einem schön gereimten Wahrspruch in allen Lebenslügen."

Es ist das Schicksal der großen Humoristen, dass sie zahllose kleine Nachahmer finden, darunter solche, die sich bloß für Humoristen halten. Was ist Humor? Wilhelm Busch hat seine Antwort auf diese Frage in einige - beinahe unsterbliche - Verse gefasst.

Es sitzt ein Vogel auf dem Leim,
Er flattert sehr und kann nicht heim.
Ein schwarzer Kater schleicht herzu,
Die Krallen scharf die Augen gluh.
Am Baum hinauf und immer höher
Kommt er dem armen Vogel näher.

Der Vogel denkt: Weil das so ist,
Und weil mich doch der Kater frisst,
So will ich keine Zeit verlieren,
Will noch ein wenig quinquillieren
Und lustig pfeifen wie zuvor.
Der Vogel, scheint mir, hat Humor.

"Humor ist, wenn man trotzdem lacht", lautet die gemeine Spruchweisheit, von der man hier nicht weit entfernt ist. Das "trotzdem" muss man bei Wilhelm Busch mit großen Buchstaben schreiben, wenn man Ernst und Tiefe seines Humors ermessen will. Gerhart Hauptmann, eine Generation jünger als Busch, nannte ihn "den Klassiker deutschen Humors, und das will in gewissem Sinne auch sagen, des deutschen Ernstes". Kurt Tucholsky schrieb: "Busch ist der Reiter über den Bodensee, der sehr gut weiß, dass er auf einer gefrorenen Eisdecke galoppiert. Und wie dieser kräftige Mann den brüchigen Untergrund fatal lächelnd aufzeigt und dann immer wieder zu dem starken Lebensgefühl zurückkehrt, das es ihm ermöglicht, trotz alledem weiter zu atmen ...!" Tucholsky hat Busch in einem Atem mit Schopenhauer, dem großen Pessimisten, genannt. Tatsächlich hat Schopenhauer großen Einfluss auf Busch ausgeübt, wie auf so viele deutsche Künstler in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Die Konjunktur Schopenhauers und seines philosophischen Pessimismus begann in Deutschland nach der gescheiterten Revolution von 1848. Wilhelm Busch, 16 Jahre alt, erlebte sie als Absolvent der Polytechnischen Schule in Hannover. Und er erfuhr, wie wenig nötig war, um sie niederzuwerfen. Über sein Leben hat er nicht viel mitgeteilt, entsprechend seiner Maxime: "... will [man] partout über sich selbst was schreiben, dann wird man wohl am besten tun, man fasst sich kurz." Busch hat sein Leben auf ganzen acht Seiten erzählt: mit den Stationen im heimatlichen Wiedensahl (wo er 1832 als Sohn eines Krämers geboren wurde), in Hannover (wo er die Polytechnische Schule absolvierte), in Düsseldorf (wo er Student der Kunstakademie war), in Antwerpen (wo er die großen Meister der niederländischen Malerei kennenlernte). Sie blieben zwar für ihn als Maler unerreichbare Vorbilder, bewirkten aber seine künstlerische Selbstfindung. Am 26. Juni 1852 schrieb er nach einem Museumsbesuch ins Tagebuch: "Von diesem Tage an datiere sich die bestimmtere Gestaltung meines Charakters als Mensch und Maler. Es sei mein zweiter Geburtstag."

Buschs künstlerische Laufbahn war zunächst keine Erfolgsgeschichte. 1859 veröffentlichte er seine ersten Zeichnungen in den Fliegenden Blättern und im Münchner Bilderbogen. Mit der Form der Bildverserzählung fand er sein ideales Genre: "Die Situationen gerieten in Fluss und gruppierten sich zu kleinen Bildergeschichten, denen größere gefolgt sind. Fast alle hab ich, ohne wem was zu sagen, in Wiedensahl verfertigt. Dann hab ich sie laufen lassen auf den Markt, und da sind sie herumgesprungen, wie Buben tun, ohne viel Rücksicht zu nehmen auf gar zu empfindsame Hühneraugen ..."

Busch wurde, ohne dass man ihm Denkmäler errichtete, ein nationaler Autor, obwohl er mit dem gloriosen Aufbruch zu nationaler Größe, der seine Zeitgenossen beflügelte, wenig zu schaffen hatte. Die letzten Jahrzehnte seines Lebens verbrachte er in dörflicher Zurückgezogenheit, ein Einsiedler, der gegen die eigene Verbitterung ankämpfen musste. Neben dem populären Wilhelm Busch gibt es den "anderen" Busch, sein dunkles alter ego, das kaum in das Bewusstsein seiner Landsleute eingedrungen ist. "Seine Geschichte", schrieb Gert Ueding, "ist auch die Geschichte des unglücklichen Bewusstseins ...".

In Busch kreuzten sich viele geistige und künstlerische Tendenzen der Zeit: Schopenhauers Pessimismus, Nietzsches Entdeckung des Ressentiments, Darwins Entzauberung des idealistischen Menschenbildes. Insofern hat die Formel "Das neunzehnte Jahrhundert en miniature" seine Berechtigung.

Seinen späten Ruhm hat Busch kaum genossen. "Es war mir sehr peinlich und ekelhaft", schrieb er an einen Freund, nachdem er erleben musste, wie ein Mitreisender auf der Fahrt von Göttingen nach Hannover der ganzen Gesellschaft eines Eisenbahnabteils seine Abenteuer eines Junggesellen vorlas: "ich that, als wenn ich schliefe". Er lebte damals schon lange im heimatlichen Wiedensahl, das er nur noch selten verließ. Die Bildergeschichten, deren letzte - Maler Klecksel - 1884 erschien, galten ihm wenig. Er war, dem eigenen Bewusstsein nach, nicht nur ein gescheiterter Maler, sondern auch ein erfolgloser Schriftsteller, dessen Gedichte bei Publikum und Kritik durchgefallen waren.

Nicht zuletzt war er der einsame Junggeselle, dessen Beziehungen zu Frauen ausnahmslos scheiterten. In dem kleinen Text "Von mir über mich" schrieb er: "Man hat den Autor für einen Bücherwurm und Absonderling gehalten. Das erste mit Unrecht. - Zwar liest er unter anderm die Bibel, die großen Dramatiker, die Bekenntnisse des Augustin, den Pickwick und Don Quijote und hält die Odyssee für das schönste der Märchenbücher, aber ein Bücherwurm ist doch ein Tierchen mit anderen Manierchen. - Ein Sonderling dürft es schon eher sein. Für die Gesellschaft, außer der unter vier bis sechs Augen, schwärmt er nicht sehr. Verheiratet ist er auch nicht. So stehe ich denn tief unten an der Schattenseite des Berges. Aber ich bin nicht grämlich geworden, sondern wohlgemut, halb schmunzelnd, halb gerührt, höre ich das fröhliche Lachen von anderseits her, wo die Jugend im Sonnenschein nachrückt und hoffnungsfreudig nach oben strebt."

Knapp 100 Jahre nach Buschs Tod hat Robert Gernhardt den Autor von Max und Moritz als Pionier der Avantgarde beschrieben, als Vorläufer von Chaplin und den Marx Brothers, als unfreiwilligen Propheten, von dessen Erfindungen bis heute der Comic zehrt. Busch, so stellte Gernhardt halbironisch fest, sei der Vorbote vieler Kunstrichtungen: des Jugendstils, des Pointillismus, des Expressionismus, des Kubismus, des Futurismus, des Surrealismus, der Op-Art und der Pop-Art, aber auch von Henry Moore und Alberto Giacometti. Schaut man danach auf die Zeichnungen Buschs, dann findet man viele Indizien, die solche Vorläuferschaft illustrieren und belegen.

Als Busch 1908 starb, glänzten andere Sterne am poetischen Firmament: Stefan George und Rainer Maria Rilke und auch schon die Expressionisten, die mit dem Dichter aus Wiedensahl in einem Atem zu nennen kaum jemandem einfallen würde. Zu den großen Lyrikern deutscher Sprache wird Busch nicht gezählt. Seine bekannteste Gedichtsammlung Kritik des Herzens, die 1874 erschien, war ein Misserfolg. Das vermutlich, weil der romantische Gefühlston, der damals noch immer en vogue war, hier strikt vermieden ist. Buschs Witz, seine Sachlichkeit und Nüchternheit, erinnern eher an Heinrich Heine, sind auch ein Vorklang zu Erich Kästner. Vielleicht ist ein gewisser Schematismus in der Versbehandlung die größte Schranke, die Busch den Weg auf den Gipfel des lyrischen Parnass verwehrt. In die von Marcel Reich-Ranicki herausgegebene Frankfurter Anthologie hat er nur mit drei Gedichten Eingang gefunden - sein Nachruhm ist und bleibt von besonderer Art, gemäß den Zeilen, die er unter eben diesem Titel Nachruhm schrieb:

Ob er gleich von hinnen schied,
Ist er doch geblieben,
Der so manches schöne Lied
Einst für uns geschrieben.

Unser Mund wird ihn entzückt
Lange noch erwähnen,
Und so lebt er hochbeglückt
Zwischen hohlen Zähnen.


Hanjo Kesting ist Kulturredakteur dieser Zeitschrift. Zuletzt erschienen seine Bücher Augenblicke mit Jean Améry (Wallstein Verlag Göttingen) und Das Geheimnis der Sirenen. Bilder und andere Abenteuer (Wehrhahn Verlag Hannover).

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 10/2015, S. 62 - 64
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Kurt Beck, Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka,
Thomas Meyer und Bascha Mika
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Die NG/FH erscheint zehnmal im Jahr (Hefte 1+2 und 7+8 als Doppelheft)
Einzelheft: 5,50 Euro zzgl. Versand
Doppelheft: 10,80 Euro zzgl. Versand
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Oktober 2015

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