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AUTOREN/061: Wolfgang Hildesheimer - "Ich will gar nichts mehr - ich will spielen" (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 12/2016

"Ich will gar nichts mehr - ich will spielen"
Wolfgang Hildesheimer zum 100. Geburtstag

Von Hanjo Kesting


"Woran liegt es, dass Wolfgang Hildesheimer in Vergessenheit geraten ist?", lautete im November 2008 die Frage einer Leserin in Marcel Reich-Ranickis wöchentlicher Rubrik der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Die Antwort des Kritikers fiel kurz und bündig aus: "Hildesheimer war ein sympathischer Mensch, aber seine Bücher haben mich nie sonderlich interessiert. Vielleicht haben sie sich mittlerweile überlebt, wie die meisten vor Jahrzehnten entstandenen Bücher."

Mancher Leser, manche Leserin dürfte das mit schmerzlicher Verwunderung gelesen haben, war Wolfgang Hildesheimer doch in den 60er, 70er Jahren und noch bis in die 80er hinein einer der bekanntesten und renommiertesten Schriftsteller deutscher Sprache. Sein 100. Geburtstag im Dezember 2016 gibt nun Gelegenheit, erneut der Frage nachzugehen, ob sich der Verfasser der Lieblosen Legenden und eines bemerkenswerten Buches über Mozart tatsächlich überlebt hat und nur ein weiteres Beispiel für die alte Erkenntnis ist, dass der Ruhm der Welt schnell vergeht.

Endlich allein nannte Hildesheimer 1984 das erste Buch, das er nach einem selbstauferlegten Schreibverbot an die Öffentlichkeit gab. Ein schmales Bändchen mit bildnerischen Arbeiten, hauptsächlich Collagen, die seither sein kreatives Interesse fast ausschließlich beanspruchten. Weil der Schriftsteller Hildesheimer darin beredt schwieg, war es eine fast trotzige Bekräftigung seines Nichtmehrschreibenwollens, Nichtmehrschreibenkönnens.

Hildesheimer hat sich zeitlebens mit Hamlet beschäftigt, dem Tatenarmen, von des Gedankens Blässe Angekränkelten - er war für ihn eine Identifikationsfigur. Das Hamlet-Wort "Sein oder Nichtsein" könnte als Motto über seinem gesamten Werk stehen, vielleicht auch über seinem Leben, vor allem gegen das Ende hin, das so deutlich bestimmt war von Lebensmüdigkeit und Daseinsüberdruss. Der Schriftsteller, der seine literarische Laufbahn mit den Lieblosen Legenden so glanzvoll und virtuos begonnen hatte, war in seinem letzten Lebensjahrzehnt zu einem Apokalyptiker geworden, der das Ende der Welt, die Zerstörung der Natur, die Selbstzerstörung des Menschen wie ein Menetekel beschwor.

Als Schriftsteller war Hildesheimer damals bereits verstummt. Ihm selbst wäre die Feststellung wichtig gewesen, dass er sich das Schreiben gar nicht erst verbieten musste, dass es ihm vielmehr von selbst abhanden gekommen war. Bis auf wenige Ausnahmefälle, wo er dann doch zur Feder griff. Zum Beispiel, als Peter Handke die "Apokalyptiker" unter seinen Kollegen mit den Worten attackierte: "Sicheres Zeichen, dass einer kein Künstler ist: wenn er das Gerede von der 'Endzeit' mitmacht." Da fühlte sich Hildesheimer angegriffen und wies energisch Handkes Feststellung als poetischen Dünkel zurück. Dabei gefiel er sich nicht in der Kassandra-Rolle, denn eben das wollte er nicht sein: ein Poet der ökologischen Krise, ein Konjunkturritter des Weltuntergangs. Deswegen verstummte er, verschloss seinen Schreibtisch, bewahrte aber eine heiter gefasste Haltung.

Meister der Kunstsatire

Man zieht Recht und Richtigkeit der düsteren Weltdiagnose nicht in Zweifel, wenn man für sie auch nach biografischen Wurzeln sucht. Hildesheimer wurde 1916 in Hamburg als Sohn einer deutsch-jüdischen Familie geboren. 1933, nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten, emigrierte er nach Palästina, wo er als Tischler und technischer Zeichner arbeitete. Ende der 30er Jahre studierte er Malerei und Grafik in London. Während des Zweiten Weltkriegs war er britischer Informationsoffizier in Palästina. Nach dem Krieg kehrte er mit der Besatzungsmacht nach Deutschland zurück und arbeitete drei Jahre lang als Simultandolmetscher bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen. Diese Zeit, beginnend mit einer Schiffsreise des angehenden Studenten nach London 1937 bis zum Tod der Mutter 1962, ist nun eindrucksvoll in den soeben unter dem Titel Die sichtbare Wirklichkeit bedeutet mir nichts bei Suhrkamp erschienenen Briefen Hildesheimers an seine Eltern dokumentiert.

Hinter den biografischen Daten stehen Erfahrungen, Verstörungen und Lebenskatastrophen, die auch im Schreiben niemals hinter sich gelassen wurden. Dabei hat Hildesheimer sein eigenes Leben kaum jemals literarisch zur Sprache gebracht: seine "Autobiographie" besteht aus einem Text von nur zwei Seiten Länge. Darin hat er, der ursprünglich Maler werden wollte, auch seine Anfänge als Schriftsteller beschrieben. Das initiale Erlebnis ist hier auf den Februar 1950 datiert: Damals entstanden die ersten seiner Lieblosen Legenden, Kunstsatiren, mit denen Hildesheimer debütierte - von Anfang an ein fertiger Schriftsteller von meisterlichem Stilgefühl. In den Lieblosen Legenden waren schon fast alle Themen und Techniken aus seinem späteren Werk versammelt: die Verkleidungen und Demaskierungen, die Doppelsinnigkeiten und Bodenlosigkeiten, die raffinierten Täuschungsmanöver, die den Leser in aller trügerischen Leichtigkeit des Stils beunruhigen und irritieren.

Schon bald war Hildesheimer ein arrivierter Autor von beträchtlicher Produktivität, vielfach geehrt mit Preisen und Auszeichnungen, darunter der Büchner-Preis. Die Rundfunkanstalten rissen sich um seine Hörspiele (von denen Herrn Walsers Raben das bekannteste ist), und er hatte beachtliche Anfangserfolge am Theater (mit Der Drachenthron und Prinzessin Turandot). Unter dem Einfluss von Samuel Beckett entdeckte er die "Wirklichkeit des Absurden" und damit zugleich die Absurdität der Wirklichkeit. In diesen Jahren wurde er zum wahrscheinlich wichtigsten Vertreter des sogenannten "Absurdismus" in Deutschland. In einer Rede "Über das absurde Theater" lieferte er dafür eine prägnante Formel: "Das absurde Theater", hieß es da, "ist eine Parabel über die Fremdheit des Menschen in der Welt".

Hildesheimers Arbeiten nahmen von nun an Endspielcharakter an. Das gilt auch für die beiden Prosabücher Tynset und Masante von 1965 und 1973. Beide sind vergrübelte Monologe und Endlos-Meditationen einsamer Nachtwandler irgendwo am Ende der zivilisierten Welt, am Wüstenrand oder im hohen Norwegen. Endspiele sind sie schon dadurch, dass sie spürbar auf das Ende des Erzählens hin angelegt sind - als seien Romanentwürfe von James Joyce von Beckett umgeschrieben werden. Tynset gehört zu den seltenen Fällen, wo die Schrecken der deutschen Vergangenheit als Albtraum und Angstfantasie konkret in Hildesheimers Schreiben eindringen. Etwa wenn der Ich-Erzähler erwägt, nachts frühere Nazischergen anzurufen, um sie mit der Frage zu verstören: "Fühlen Sie sich schuldig?" Aber keine Schuld scheint groß genug, als dass sie nicht doch verdrängt werden könnte. Schließlich weitet sich der Monolog aus zu einem geisterhaften, alle Zeiten und Räume durchmessenden Zwiegespräch"mit unser aller Mutter, der Nacht". In Masante verschwindet der Ich-Erzähler am Ende im Wüstensand, dort endet das Geschichtenerzählen, zugleich die Möglichkeit von Fiktionen, von Kunst überhaupt. Der große Essay Das Ende der Fiktionen von 1975 lieferte dazu nur noch die theoretische Begründung. Auch die Kunst bietet keine Auswege, allenfalls Fluchtwege an.

Die ästhetische Rechtfertigung der Welt

Ein solcher Fluchtweg war Hildesheimers großes Buch über Wolfgang Amadeus Mozart, das 1977 als Resultat einer drei Jahrzehnte währenden Beschäftigung mit dem "geheimnisvollsten Musiker aller Zeiten" erschien. Das Wort "Biografie" wird vermieden; der Autor versteht sein Buch als Antibiografie, ausgehend von der These, dass das Geheimnis Mozarts sich ebenso wenig ergründen lässt wie die Wurzeln genialer Kreativität überhaupt. "Nah kommen wir Mozart nicht", heißt es, "er ist nach einem anderen Gesetz angetreten als seine Deuter". Und weiter: "An diesem Werk ist alles von sublimer Fremdheit, alles unheimlich und, objektiv, alles wesentlich. Um so mehr erleuchten seine Selbstäußerungen nur immer wieder das Faktum, dass sich uns die Gestalt entzieht, indem sie sich hinter ihrer Musik verbirgt, und auch sie ist uns, in ihrer tiefsten Bedeutung, unzugänglich, insofern sie keine außermusikalische Begrifflichkeit zulässt." Hildesheimers Mozart ist Kritik der Überlieferung, Korrektur von Legenden, ein "Versuch der Wiederherstellung, der Reinigung eines im Lauf der Jahrhunderte mehrfach übermalten Frescos". Was hinzugefügt werden kann, sind allenfalls "Einzelaspekte einer möglichen Wirklichkeit". Für Hildesheimer selber war die Beschäftigung mit Mozart offenbar eine Form von ästhetischem Eskapismus, Rechtfertigung der Welt durch Kunst, Sinngebung des Sinnlosen.

Auch Marbot, sein letztes großes Buch von 1981, die fiktive Biografie eines vom Autor erfundenen englischen Kunsthistorikers des 19. Jahrhunderts, variiert noch einmal das Geniethema: "Der Künstler spielt auf unserer Seele, aber wer spielt auf der Seele des Künstlers?" Bei Mozart musste die Frage unbeantwortet bleiben. Marbots geniale Überbegabung wird gedeutet durch Kindheitstraumata und ödipale Motivationen. Auch Hildesheimers letzter Protagonist trägt hamletische Züge. Marbot, des Autors heiterstes, ernstestes, vielleicht bestes Buch, in dem Realität und Fiktion, Biografie und Erzählung ununterscheidbar geworden sind, ist ein Spiel universeller Ironie, geschrieben im parodistischen Geist der Lieblosen Legenden, zugleich mit gelassenem Ernst. Mit diesem Meisterwerk vollzog Hildesheimer seinen Austritt aus der Literatur.

So lebte und arbeitete er zuletzt In Erwartung der Nacht - so der Titel des letzten Bandes mit Collagen, der 1987 erschien. Als Bildender Künstler sah sich Hildesheimer entlastet vom unablässigen, notwendig verzweifelten Nachdenken über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Als Schriftsteller leerte er nur noch seinen Zettelkasten. Den letzten Zetteln, die er zu Lebzeiten veröffentlichte, stellte er die Worte Günter Eichs voran: "Ich will gar nichts mehr - ich will spielen."

Versunkene Schätze ans Licht ziehen

Hildesheimer starb 1991, vor 25 Jahren. "Woran liegt es, dass er in Vergessenheit geraten ist?", lautete die eingangs zitierte Frage der FAS-Leserin. Aber er ist ja gar nicht vergessen, jedenfalls nicht mehr vergessen als andere bekannte Autoren seiner Generation: Heinrich Böll, Wolfgang Koeppen oder Alfred Andersch. Zu breiter Prominenz und. hohen Auflagen hatte er es auch zu Lebzeiten nicht gebracht: Dafür waren seine literarischen Mittel zu ambitioniert und seine Themen zu düster. Doch statt sein Werk für überlebt zu erklären, sollte man eher versuchen, die versunkenen Schätze wieder ans Licht ziehen, sei es auch nur, um das Urteil der Geschichte zu prüfen: Marbot, das raffinierte Spätwerk, die herrlich skurrilen Mitteilungen an Max (geschrieben als Hommage an Max Frisch zu dessen 70. Geburtstag), nicht zuletzt das Erstlingswerk, die Lieblosen Legenden. Vor mehr als 64 Jahren erschienen, lesen sie sich noch heute frisch wie am ersten Tag.


Wolfgang Hildesheimer: Die sichtbare Wirklichkeit bedeutet mir nichts. Die Briefe an die Eltern (Hg. von Volker Jehle, 2 Bde., gebunden im Schuber). Suhrkamp, Berlin 2016, 1.584 S., 78 EUR. - Stephan Braese: Jenseits der Pässe: Wolfgang Hildesheimer. Eine Biographie. Wallstein, Göttingen 2016, 588 S., 44,90 EUR.


Hanjo Kesting ist Kulturredakteur dieser Zeitschrift. Zuletzt erschien bei Wallstein seine dreibändige Studie Große Romane der Weltliteratur.

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 12/2016, S. 66 - 69
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Januar 2017

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