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REZENSION/010: Siegfried Lenz - Der Überläufer (Roman) (SB)


Siegfried Lenz

Der Überläufer

von Christiane Baumann


Beispiellose Zensur, Verdrängung und Verschweigen bis in die Gegenwart.

Zu Siegfried Lenz' posthum erschienenem Roman Der Überläufer

Es kommt nicht so häufig vor, dass ein Autor nach seinem Tod mit einem neuen Roman für Schlagzeilen sorgt, ja sogar Bestseller-Listen erobert, obgleich Nachlässe immer mal wieder Überraschungen bereithalten. Siegfried Lenz' Roman Der Überläufer, der bereits 1952 fertiggestellt und nun posthum aus seinem Nachlass im Deutschen Literaturarchiv in Marbach am Neckar veröffentlicht wurde, hat geradezu für einen Paukenschlag gesorgt. Der Roman ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Zunächst ist es ein außergewöhnlicher literarischer Text. Doch noch ungewöhnlicher ist seine Entstehungs- und Publikationsgeschichte, die ein Schlaglicht auf bundesdeutsche Wirklichkeit der 1950er Jahre wirft, auf Zensur und Verdrängung, die bis in die heutige Zeit nachwirken.

Aber zunächst zur Geschichte, die am Ende des Zweiten Weltkriegs einsetzt. Der 29 Jahre alte Soldat Walter Proska kehrt 1944 an die Ostfront zurück. Dabei gerät sein Zug bei Prowursk in den Rokitno-Sümpfen in einen Hinterhalt der Partisanen. Proska überlebt als Einziger, kommt zu einem deutschen Wachkommando, das in den Sümpfen stationiert ist und den Bahndamm sichern soll. Sechs Soldaten und ein Unteroffizier gehören zum Wachkommando der Festung "Waldesruh". Der Name erweist sich als trügerisch: Die Festung spiegelt im kleinen, abgeschiedenen Raum alle Facetten des mörderischen Krieges wider.
Schon Proskas Ankunft wird von einem Toten begleitet, dessen Platz im Wachkommando er nun einnehmen soll. Wieder sind sie sieben Mann, wie im Märchen, doch es ist ein Märchen des Grauens. In dieser kleinen Welt "führen auch die Mücken und die Fliegen gegen uns Krieg" (S. 78), erklärt einer der Kameraden Proska. Der Krieg hat von Mensch und Tier Besitz ergriffen: Jan Zwiczosbirski widmet sich dem "Spiel der tödlichen Verführung" (S. 168) eines Hechtes, der Koch Baffi erlegt fast genussvoll eine Ratte und domestiziert ein Huhn. Der Soldat Helmut Poppek zerstört mit Freude Birken und Proska, der vom baldigen Ende des Krieges überzeugt ist, erkennt im Korporal Willi Stehauf einen Unteroffizier, der menschenverachtend agiert, ein "Schwein" (S. 84), das skrupellos einen Pfarrer hinterrücks erschießt und mit Sprüchen wie "Halten Sie das Maul, sonst erkältet sich Ihr Darm" (S. 73) oder das Denken "überlassen Sie ruhig mir und Ihren Vorgesetzten" (S. 119) blinden Gehorsam einfordert.

Mitten in dieser Welt des Todes erlebt Proska eine Liebesgeschichte mit der Partisanin Wanda, auf die er bereits im Zug trifft und der er wie im Märchen drei Mal wiederbegegnet. Wie ein mythisches Wesen taucht Wanda überraschend in den Sümpfen auf. Sie ist 27 Jahre alt, wobei nicht nur die Sieben nachdrücklich auf das Mythische deutet, auch ihre "grünblauen Augen" (S. 26) erinnern an eine Wassernixe oder Sphinx. Wegen ihres roten Haares, das einer Hexe entstammen könnte, nennt Proska sie liebevoll "Eichhörnchen" (S. 113). Der erfüllte Augenblick, der in lyrischen Versen seine poetische Entsprechung findet, bleibt nicht folgenlos. Wanda und Walter werden ein Kind haben, "wenn der Winter fortgeht" (S. 265). Die Geburt des neuen Lebens, das aus der Liebe eines deutschen Soldaten und einer Partisanin, die auf Seiten des Feindes kämpft, entstanden ist, fällt mit dem Ende des Krieges und einem Neubeginn zusammen. Das Kind wird zum Symbol einer Liebe, die stärker ist als Krieg, Tod und Vernichtung und erinnert an Anna Seghers bereits 1949 erschienenen Roman Die Toten bleiben jung ebenso wie an Bruno Apitz' 1958 veröffentlichten Welterfolg Nackt unter Wölfen.

Proska, der mit seinem Kameraden, dem Studenten Wolfgang Kürschner, immer wieder über Flucht nachgedacht hat, wechselt nach der Einnahme der Festung durch die Partisanen wie dieser die Seiten. Es ist keine Kurzschlussreaktion, sondern er will "die Klicke" (S. 241), die für diesen Krieg verantwortlich ist, aus der Welt schaffen und damit das "nationalistische Ressentiment" als "die Wurzel des deutschen Hochmuts und der Quell dieses gottverdammten Auserwähltheitsbewusstseins" (S. 238). Lenz' Überläufer Proska sollte 1955 in Thomas aus Franz Fühmanns in der DDR erschienener Novelle Kameraden einen Bruder finden. Doch während bei Fühmann die Novelle mit dem Desertieren endet, schildert Lenz, wie Proska auf Seiten der Sowjetarmee gegen seine einstigen Kameraden kämpft. Gemeinsam mit einem deutschen Offizier ist er an der Front per Lautsprecherwagen im Einsatz, um deutsche Soldaten zum Überlaufen zu bewegen. Nach Kriegsende wird er im Auftrag der sowjetischen Militäradministration tätig, erlebt dubiose Verhaftungen, Säuberungsaktionen und entzieht sich schließlich seiner eigenen drohenden Festsetzung durch Flucht in den Westen. Dort findet er die Behauptung eines russischen Obersts bestätigt. Er erlebt den "Stillstand" (S. 299) der bürgerlichen Welt, die nach dem mörderischen Krieg ohne zu zögern zur Tagesordnung, zum Alltag übergegangen ist. Hier schließt sich der Kreis, als Walter Proska, noch am Bahnhof, eine Anzeige seiner Schwester liest, die ihren Mann sucht. Allein Proska weiß um sein Schicksal, hat er ihn doch nach seiner Desertion noch in den letzten Kriegstagen erschossen.

Proska ist 35 Jahre alt, als er sich entschließt, seiner Schwester in einem Brief Rechenschaft über sein Handeln abzulegen. Dieser Brief wird zum Auslöser für das Erinnern und gehört zur Rahmenhandlung des Romans. In einer fast groteske Züge tragenden Erzähleröffnung bemüht sich Proska, von einem alten Apotheker, der seine Kriegserinnerungen mit Morphium-Spritzen betäubt, Briefmarken zu bekommen, um diesen Brief abzusenden. Während der Alte Erinnerungen ablehnt, weil nur Wenige "aus dem lernen, was gewesen ist" (S. 15), stellt sich Proska seiner Vergangenheit. Doch sein Brief voller Erinnerungen kommt als "nicht zustellbar" (S. 337) zurück. Finden diese Erinnerungen im bundesdeutschen Alltag des Jahres 1950 somit einerseits keinen Adressaten, so kann sich Proska andererseits seiner Vergangenheit nicht entledigen.

Lenz' Roman atmet Authentizität. Er ist kunstvoll gebaut und schwebt über einem mythischen Grund, der das Erzählte immer wieder in archetypische Zusammenhänge stellt. Die Liebe und das Töten werden als Gegenpole menschlicher Existenz erfahrbar und finden ihre Aufhebung in den Elementen "Wasser oder Erde", die die Heimat aller Menschen sind und die "Brücken der Unversöhnlichkeit" (S. 135) fortreißen werden. Die Utopie einer geradezu beschworenen Brüderlichkeit leuchtet auf und wird von Versen eingeleitet, die mit ihrem "Reibe, reibe, dummer Knabe, dir den / Morgen aus den Augen; / bald wird dich die Nacht verprügeln, / und das Wasser fließt von neuem" (S. 135) an Goethes Ballade Der Zauberlehrling erinnern. Doch die Autorität eines Meisters wird und kann den "Lehrling" in dieser Welt des Krieges und der Vernichtung nicht mehr retten. Er muss sich selbst "den Morgen aus den Augen reiben" oder wie es der Soldat Wolfgang Kürschner ausdrückt und damit sein Desertieren begründet: "Der untätige, der passive Pazifismus ist ein impotentes Gespenst. Wer nur immer sagt: Ich bin gegen den Krieg und es dabei bewenden lässt und nichts außerdem tut, damit der Krieg ausgerottet wird, der gehört ins pazifistische Museum." (S. 237) Ist es Zufall, dass diese Roman-Passage, die die Vision einer menschlichen Welt entwirft, mit dem Satz beginnt: "Der junge Vormittag saß ahnungslos über dem Sumpf; mit vergnügter Torheit rieb er die Landschaft heiter" (S. 135), und damit mit einem Satz, der an Anna Seghers erste Veröffentlichung aus dem Jahr 1928, an ihre mit dem Kleist-Preis ausgezeichnete Erzählung Aufstand der Fischer von St. Barbara erinnert? Dort allerdings "saß der Aufstand noch auf dem leeren, weißen, sommerlich kahlen Marktplatz und dachte ruhig an die Seinigen, die er geboren, aufgezogen, gepflegt und behütet hatte ..." [1]

Lenz' Romanheld trägt autobiographische Züge. Wie Proska wurde er im ostpreußischen Lyck geboren. Auch Lenz desertierte in den letzten Kriegstagen und kam in britische Kriegsgefangenschaft. Das Thema des Desertierens und Fraternisierens hat ihn intensiv beschäftigt wie auch seine 1984 entstandene Erzählung Ein Kriegsende belegt, in der ein Steuermann eines deutschen Minensuchbootes für die Befehlsverweigerung der Besatzung die Verantwortung übernimmt, um nach erfolgter deutscher Teilkapitulation deren Leben zu schützen, was er - vor ein Kriegsgericht gestellt - letztlich mit seinem Leben bezahlt. Da stellt sich umso nachdrücklicher die Frage, warum Lenz diesen Roman zu Lebzeiten nicht veröffentlichte.

Der Kommentar von Günter Berg, früherer Lektor des Verlages Hoffmann und Campe, der dem Roman beigegeben wurde, enthüllt einen Skandal. Lenz, der nach seinem Romanerstling Es waren Habichte in der Luft mit dem Verlag Hoffmann und Campe einen Vertrag über einen zweiten Roman geschlossen hatte, legte diesen 1951 vereinbarungsgemäß vor. Der Verlag beauftragte verschiedene Gutachter, schließlich den "Germanisten und Volkskundler Dr. Otto Görner in Karlsruhe" (S. 343-344), der sich in seinen kritischen Anmerkungen zur ersten Romanfassung zunächst auf das "Technische, das Handwerkliche" (S. 344) beschränkte. Als Lenz die überarbeitete, zweite Fassung im Januar 1952 vorlegte, in der er die Motive für das Desertieren offenbar noch deutlicher herausgefiltert hatte, lehnte Görner den Roman rundheraus ab. Aus seiner Sicht war es in der Adenauer-Ära vor dem Hintergrund des Kalten Krieges nicht mehr opportun, die Geschichte eines Überläufers der Deutschen Wehrmacht zur Roten Armee zu erzählen. "Ein solcher Roman hätte 1946 erscheinen können. Heute will es bekanntlich keiner mehr gewesen sein. [...] Sie können sich maßlos schaden, da helfen Ihnen auch Ihre guten Beziehungen zu Presse und Funk nicht" (S. 347). Damit war Lenz' Roman de facto abgelehnt. In seinem Antwortschreiben stellte der Autor einmal mehr seine moralische Integrität unter Beweis, in dem er die von Görner empfohlene Umarbeitung konsequent ablehnte.
Die Frage, warum Lenz dem Verlag dennoch zeitlebens die Treue hielt und den Roman zu den Akten legte, muss unbeantwortet bleiben. Dass der Verlag von diesem Roman, inzwischen ein Bestseller, der in einem Akt beispielloser Zensur verhindert wurde, nun sogar profitiert, kann als Ironie der Geschichte gelten. Dass er jedoch die Identität des einstigen Gutachters Otto Görner in seinem Kommentar im Dunkeln lässt, befremdet zutiefst. Görner, der 1930/31 bei André Jolles und Theodor Frings studierte, die später dem NS-Regime ergeben waren, wurde Ende 1937 in Dresden Referent für Volkskunde beim nationalsozialistischen Heimatwerk Sachsen. Nach dem Krieg ging er in den Westen und schlug sich als Lektor durch. Dass Görner Lenz' Antikriegs-Roman und seine Verbrüderung mit dem Feind im Osten gegen den Strich ging, kann somit nicht verwundern. Dass der Verlag seinem Votum folgte, belegt, dass die "Görners" in der Bundesrepublik des Jahres 1952 keine Ausnahme waren. Zudem erfolgte die Zensur ohne staatlichen Eingriff. Das Verschweigen dieses gesellschaftlichen Hintergrunds im Textkommentar stimmt bedenklich, ist es doch Ausdruck einer fehlenden kritischen Auseinandersetzung mit der bundesdeutschen Geschichte und einer Verdrängung, die bis in die Gegenwart reicht.


Anmerkung:

[1] Seghers, Anna: Aufstand der Fischer von St. Barbara. Die Gefährten. Berlin und Weimar 1990, S. 7.

Siegfried Lenz
Der Überläufer
Roman
Hoffmann und Campe, Hamburg, 2016
817 Seiten
25,00 Euro
ISBN: 978-3-455-40570-5

28. April 2016


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