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REZENSION/012: Veit Noll - Goethe im Wahnsinn der Liebe. Band 2: Tassos Botschaft (Sachbuch) (SB)


Veit Noll

Goethe im Wahnsinn der Liebe. Band 2: Tassos Botschaft

von Christiane Baumann


Gedankenspiele. Zu Veit Nolls zweitem Band Goethe im Wahnsinn der Liebe: Tassos Botschaft

Der Wahnsinn geht weiter, möchte man fast sagen. Nach dem ersten Band Goethe im Wahnsinn der Liebe. Die Flucht 1786 hat Veit Noll den zweiten Band seiner Reihe mit dem Titel Tassos Botschaft im "Forschungsverlag" Salzwedel vorgelegt, einem Verlag, der bislang ausschließlich der Popularisierung dieser beiden Bände dient. Zum Anspruch auf Wissenschaftlichkeit tritt der Stempel "Index verbotener Bücher", der die Buch-Cover ziert und damit Aufmerksamkeit erregen will. Wissenschaftlichkeit und Sensationslust schließen einander gemeinhin aus. Für Publikationen, die sich zur "traditionellen Goethe-Forschung" [1] in Beziehung setzen wollen, ist es zumindest eine merkwürdig anmutende Kombination.

Doch worum geht es? 2003 erregte der Jurist und Schriftsteller Ettore Ghibellino mit der These die Gemüter, Goethes Liebesbeziehung zu Charlotte von Stein sei ein Täuschungsmanöver gewesen, um die Liebe zwischen ihm und der verwitweten Herzogin-Mutter Anna Amalia, die staatsgefährdend gewesen sei, zu verschleiern. Auch wenn die Forschung verschiedentlich darauf hingewiesen hat, dass es hierfür keine Belege [2] gibt, sind neue, überraschende Gedankenspiele aufgetaucht. So war von einer "ménage à trois", einer Dreiecksbeziehung von Goethe, der Frau von Stein und Anna Amalia zu lesen [3]. Schließlich bot Veit Noll, ebenfalls Jurist mit literarischen Ambitionen 2014 mit seinem Band Goethe im Wahnsinn der Liebe: Die Flucht 1786 eine weitere Variante. Goethes Reise nach Italien hatte demnach zwei Gründe. Zum einen habe sich Charlotte von Stein seinem Wunsch, Weimar hinter sich zu lassen und in ein neues gemeinsames Leben aufzubrechen, diesem "Wahnsinn der Liebe" verweigert, so dass Goethe kurzfristig umdisponierte und nach Italien floh. Zum anderen sei er damit Anna Amalias Liebeswerben begegnet, dem er sich entziehen wollte. Auch hier wurde Widerspruch aus der Fachwelt angemeldet, die u.a. darauf verwies, dass Goethe, folgt man seinen Briefen, die Italienreise seit Juli 1786 sorgfältig plante. Sigrid Damm führte überzeugend aus, dass Goethe kein Abenteurer war und ein Bruch mit allen Konventionen, ein Leben in Acht und Bann wohl kaum eine ernsthafte Option für ihn gewesen sei [4]. Hier könnte auch auf seine spätere Eheschließung mit Christiane Vulpius nach achtzehn gemeinsamen Jahren verwiesen werden, die er in dem Moment umsetzte, als er 1806 nach der Schlacht bei Jena und Auerstedt die "Auflösung der alten feudalen Ordnung als Notwendigkeit und Chance einer Neuordnung seines Lebens" [5] begriff. Entwarf Goethe als Dichter Utopien, so war er in den Dingen des Lebens wohl eher Pragmatiker.

Nunmehr hat Veit Noll mit Tassos Botschaft in Sachen "Goethe im Wahnsinn der Liebe" nachgelegt. Wieder werden aufwändig recherchiertes Material und Sekundärliteratur ausgebreitet, die ohne Frage den Goethe-Liebhaber und -Kenner verraten. Wie in einem Indizienprozess fügen sich Beweise und Belege aneinander, um die These zu erhärten, dass Goethe vor der Liebe der Fürstin Anna Amalia nach Italien floh, ihrem Ansinnen nach einem gemeinsamem Italienaufenthalt immer wieder auswich und schließlich seinen Torquato Tasso als literarische Botschaft an die Herzogin-Mutter schrieb, als Absage an ihre Liebe, denn er liebte Charlotte von Stein. Wurde im ersten Band Goethes Iphigenie zur Projektionsfläche für Nolls Befunde, so ist es diesmal der Torquato Tasso. Es ist schon bemerkenswert, mit welcher Akribie der Autor vorgeht, wie er geradezu detailverliebt jedem Hinweis nachgeht, Quellen heranzieht, um dem Wirklichkeitsgehalt in Goethes Dichtung auf die Spur zu kommen. Manches schnitzt er sich, wie zum Beispiel bei der amüsant geschilderten Lesung des Tasso-Manuskripts in Tivoli im Park der Villa d'Este zurecht, wenn es bei einer belegten Zeitangabe heißt, die könne man "als gefühlte Schätzung vernachlässigen". (S. 127)

Doch bei allem lässt der Jurist Noll etwas Entscheidendes außer Acht: Literatur ist nicht für den "juristischen Umkehrschluss" (S. 61) und andere juristische Procedere geschrieben. Das Lesevergnügen, das sich aus ästhetischer Spezifik speist, bleibt letztlich auf der Strecke, betrachtet man Literatur als Objekt eines juristischen Bravourstücks. Und noch wichtiger ist, dass eine Untersuchung, die den literaturgeschichtlichen und historischen Kontext ausblendet, der Goethes innere Zerrissenheit nicht nur in der Liebe zu Charlotte von Stein, sondern in der Kollision des Politikers mit dem Dichter spiegelt, Dichter und Werk wohl kaum gerecht werden kann. Der Rückzug vom Weimarer Hof, von der politischen Macht, für die der Herzog Carl August ebenso stand wie die Fürstin Anna Amalia, hatte eine längere Vorgeschichte. Schon 1881 konstatierte Goethe, dessen Aufstieg und politische Karriere am Weimarer Fürstenhof keineswegs konfliktfrei verlief, frustriert, der Herzog habe "eine enge Vorstellungs Art" und es fehle ihm an "Ideen und an wahrer Standhaftigkeit" [6]. Goethes Projekt der Fürstenerziehung war 1786 ebenso gescheitert wie seine zehn Jahre andauernde Liebe zu Charlotte von Stein.

Wird einerseits der politische Kontext, auch das vorrevolutionäre Gären zwischen 1786 und 1789, vernachlässigt, so andererseits die Liebe zu Christiane Vulpius, die bereits im Juli 1788 von Goethe Besitz ergriff und der in Italien gelebten Sinnlichkeit in der Weimarer Enge Räume eröffnete. Eine auf Anna Amalia verengte Perspektive, die permanent jeden "Beweis" auf deren Beziehung zu Goethe projiziert, dabei unentwegt spekuliert, den Anschein oder nicht überlieferten Brief (u.a. S. 29) als Beleg nimmt, vermag nicht zu überzeugen, auch wenn sich manches durchaus anregend liest. Letztlich wird in der juristischen Beweisaufnahme die Aufmerksamkeit des Lesers zunehmend strapaziert, zumal die Kernbotschaft des 300 Seiten umfassenden Bandes bereits im ersten Band Die Flucht 1786 formuliert wurde. Literatur mutiert zur geheimen biographischen Botschaft, was den komplexen künstlerischen Transformationsprozess ignoriert, wobei unbestritten ist, dass Literatur immer auch biographische Reflexion einschließt. Das allerdings ist nicht neu, auch mit dem Blick auf Goethe.


Anmerkungen:

[1] Noll, Veit: Goethe im Wahnsinn der Liebe. Band 1: Die Flucht 1786. Salzwedel 2014, S. 6.

[2] Klassik Stiftung Weimar. Stellungnahme zur These einer verbotenen Liebe zwischen Goethe und Anna Amalia.
http://www.klassik-stiftung.de/uploads/pics/Goehte_und_Anna_Amalia_Stellungnahme_KSW_05.08.pdf
(abgerufen 21. Juni 2016). Vgl. auch Damm, Sigrid: Sommerregen der Liebe. Berlin 2015, S. 214-215 und Bernhardt, Rüdiger: Johann Wolfgang von Goethe. Iphigenie auf Tauris. Königs Erläuterungen Bd. 15, 2013. Kindle Edition, Pos. 368 ff.

[3] Leithold, Norbert: Graf Goertz. Der große Unbekannte. Eine Entdeckungsreise in die Goethe-Zeit. Berlin 2010.

[4] Damm, Sigrid: Sommerregen der Liebe. S. 359.

[5] Damm, Sigrid: Christiane und Goethe. Eine Recherche. Frankfurt am Main und Leipzig 1999, S. 338.

[6] Goethe an Charlotte von Stein am 12. November 1881. In: Damm, Sigrid: Sommerregen der Liebe, S. 112.


Veit Noll
Goethe im Wahnsinn der Liebe.
Band 2: Tassos Botschaft
Forschungsverlag Salzwedel, 2016
304 Seiten,
29,50 Euro,
ISBN: 978-3-9816669-4-6

22. Juni 2016


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