Schattenblick → INFOPOOL → DIE BRILLE → REDAKTION


REZENSION/023: Christoph Hein - Verwirrnis (SB)


Christoph Hein

Verwirrnis

von Christiane Baumann


Eine moderne "Fruchtbarkeitsatire": Zum neuen Roman Verwirrnis von Christoph Hein

"Es war sein Vater, der vor ihm lag, der vor seinen Augen starb, er war von ihm erzogen worden, geprägt worden, im Guten wie im Schlechten, und er war es auch, der ihn in die schlimmste Verwirrnis seines Lebens gestürzt hatte." (246) Für Friedewald Ringeling, der Hauptfigur in Heins Roman, ist sein Vater lebenslang der "Mann mit dem Siebenstriemer" (247), einer Peitsche mit Lederriemen, mit der er für Ungehorsam und Fehlverhalten körperlich gezüchtigt wurde. Dazu gehörte auch Friedewalds Homosexualität, die der Vater aus ihm herauszuprügeln gedachte, da sie ein "Verbrechen" (105) war, Zeichen eines "gottlosen Lebens" (107). Damit stiftet er beim Sohn "Verwirrnis" im Sinne von Unsicherheit und ein Gefühl von Schuld, das Friedewald lebenslang begleitet. Es ist der Beginn eines Doppellebens, in dem "Verheimlichen" ihm "zur zweiten Natur" (280) wird. Ist Friedewald, der Name sagt es, der "Hüter des Friedens", der sich nicht widersetzt, so der Vater Pius Ringeling, der "Fromme", ein Mann mit festen Grundsätzen, die ihm seinerzeit vom Vater mit dem Siebenstriemer eingebläut wurden. Der Täter ist zugleich Opfer. Gewalt erzeugt wieder Gewalt. Sie machte Pius Ringeling hart, auch gegen eine Vereinnahmung durch die nationalsozialistische Ideologie sowie gegen gesellschaftliche Zumutungen unter russischer Besatzung und in der DDR. Erziehung, Bildung und Glaube bildeten das unerschütterliche Fundament des parteilosen Christen.

Für Friedewald Ringeling wird das Studium in Leipzig, das ihm den Ausbruch aus dem Elternhaus in Heiligenstadt im katholisch geprägten Eichsfeld ermöglicht, zur Auferstehung. Er kann im Geheimen seine Liebe zu Wolfgang leben und trifft an der Universität auf "lebendiges philosophisches Denken" (119), das ihm neue Welten eröffnet: "Hier wurde einem nicht für jedes Problem eine Lösung präsentiert, gebunden an eine Ideologie, an die er zu glauben hatte, hier wurden die Rätsel der Welt nicht gelöst, sondern eher als ebenso dringliche wie unlösbare Aufgaben benannt." (119-120) Im Roman entsteht ein Gegenbild zum Klischee der in Dogmatismus und Formalismus erstarrten DDR der 1950er Jahre. Es ist eine Wissenschaftswelt, die sich mit "Koryphäen" (125) wie Ernst Bloch, bei Hein "Hegel-auf-Erden", und Hans Mayer, "Goethe-höchst-selbst", verbindet. Diese Professoren waren "die eigentlichen Fürsten von Leipzig" (125), und der Roman ist eine Hommage an sie, insbesondere an den Germanisten Hans Mayer. In Leipzig lernen Friedewald und Wolfgang Jacqueline kennen, die in einer lesbischen Beziehung mit der Dozentin Herlinde lebt. Verlobt sich Wolfgang zum Schutz mit der ahnungslosen Helga, so präsentiert Friedewald seinen Eltern Jacqueline als seine Zukünftige. Sie spielen eine "Komödie" (220), um der gesellschaftlichen Norm zu genügen. Wolfgang, der die Liebe etwas leichter nimmt, orientiert sich schließlich als Schüler der Musik-Koryphäe Ernst Pepping gen Westberlin. Friedewald geht am 1. April 1960 die Ehe mit Jacqueline ein - kein Aprilscherz. Seit Ende 1957 sind zwar in der DDR homosexuelle Handlungen unter Erwachsenen kein Straftatbestand mehr, doch man weiß: "Gesetze schaffen ein Tabu nicht aus der Welt." (199) Die Mauer besiegelt endgültig die Trennung von Wolfgang. Friedewald schlägt an der Leipziger Universität eine akademische Karriere ein, wird als Germanist ein Ausnahmewissenschaftler, der sich im Wissenschaftsbetrieb als integre Persönlichkeit behauptet. Auch nach der Republikflucht seines in der DDR in Ungnade gefallenen Lehrers "Goethe-höchst-selbst" verhält er sich diesem gegenüber loyal. Während Wolfgang in der Freiheit des Westens, der Schwule und Lesben weiter strafrechtlich verfolgt, Denunziation und Erpressung immer wieder als existenziell bedrohlich erlebt, sublimiert Friedewald den Identitätskonflikt und den Verlust an Liebe in seine wissenschaftliche Arbeit. Einen Erpressungsversuch der Stasi wehrt er ab, doch der gelieferte "Reisebericht", der lediglich Reisedaten enthält, wird ihm nach der Wende zum Verhängnis.

Heins Verwirrnis rührt an ein gesellschaftliches Tabu. Der Roman liefert ein Beispiel von sozialer Ausgrenzung, die sich in unterschiedlichen politischen Systemen gleichermaßen vollzieht und die nichts an Aktualität eingebüßt hat. Der Roman spannt den Bogen von Friedewalds Geburt 1933 am Beginn der Nazi-Zeit, über die DDR-Ära bis ins wiedervereinte Deutschland im Jahr 1993. Nach dem Mauerbau 1961 wird Friedewalds Leben in großen Sprüngen notatartig skizziert. Der nüchterne Protokollstil, der biographische und historische Fakten ohne Erzählerkommentar ausbreitet, ist typisch für Hein. Historisches Wissen wird vorausgesetzt, Daten werden angerissen, wie der 17. Juni 1953, der als "kurzer, heftiger Aufstand" (126) aufblitzt. Aus der Diskrepanz von ideologisch überformtem Geschichtsbild und dem erinnerten, "faktengesicherten" Einzelschicksal mit seinen Widersprüchen und Ambivalenzen entsteht eine historische Wahrheit, die sich von ideologischer Indoktrination befreit hat. Das vorangestellte Motto "Daran will ich mich später erinnern" weist auf eine Zukunft, die sich der Erzähler ohne diese erinnerte Vergangenheit nicht vorstellen kann. An die Stelle der Forderung "erinnere dich", mit der Heins Roman Horns Ende (1985) begann, ist jetzt der erklärte Wille getreten, da, wie es im Roman Trutz (2017) heißt, "das gute und genaue Gedächtnis [?] nicht immer erwünscht"[1] war. Es gilt, das in der Geschichtsschreibung Getilgte und Verdrängte zu dokumentieren. Ohne dieses Gedächtnis sind wir nichts: "Wir erinnern uns, nur darum leben wir"[2].

Faktizität wird zur Voraussetzung einer Literatur, die sich als historisches Gedächtnis versteht und auf den empfundenen Mangel an Authentizität im öffentlichen Diskurs reagiert. Fand sich in Heins Roman Glückskind mit Vater (2016) der Hinweis, der Geschichte lägen "authentische Vorkommnisse" zugrunde, die Personen seien "nicht frei erfunden", so wird in Verwirrnis die Authentizität einzelner Figuren kaum noch maskiert. Das ästhetische Verfahren zielt auf Glaubwürdigkeit und Wahrheit und markiert den Gegenpol zu den Anfängen des europäischen "Zeitungsromans", über den Friedewald seine Habilitation schreibt. Konkret geht es um den englischen Satiriker Henry Neville, den er zu einem der "geistigen Väter unserer bürgerlichen und spätbürgerlichen Literatur" (229) erklärt. Neville veröffentlichte mit The Isle of Pines 1668 den ersten nachweisbaren Fortsetzungsroman in einer Zeitung. Die Ware "Buch" musste sich den Bedürfnissen des modernen Massenmediums anpassen, was Auswirkungen auf die "Ästhetik der Texte hatte, die Wahl der Stoffe, die Erzählweise, den Stil, selbst auf die Haltung des Erzählers dem Leser gegenüber" (228-229). Nevilles "Räuberpistolen" (229) lieferten das unterhaltsame fiktive Beiwerk im sich gerade etablierenden Zeitungs- und Nachrichtengeschäft, das nun im Zeitalter der Massenkommunikation und Fake-News in einer Glaubwürdigkeitskrise steckt. In dieses Vakuum stößt eine den Anspruch auf Authentizität erhebende Literatur, die mit ihrer obsessiven Detailgenauigkeit gesellschaftliche Vorgänge entlarvt.

Der Hinweis auf Nevilles populäre "Robinsonade" stellt das ästhetische Verfahren in zeitgeschichtliche Zusammenhänge. Er kann zugleich als Fingerzeig verstanden werden mit dem Blick auf den Roman-Titel und auf die intertextuellen Bezüge, die von der Aufklärung bis zu Thomas Mann und Robert Musil reichen. Nevilles Geschichte, erschienen unter dem deutschen Titel Die Insel der Fruchtbarkeit, ist eine Anti-Utopie, eine "Fruchtbarkeitsparodie", in der die einst fortschrittliche englische Gesellschaft in einem Inselparadies der sexuellen Freiheit und des materiellen Überflusses, jedoch ohne geistige Prägungen, in nur drei Generationen zu einer primitiven Inselrasse mutiert. Wenn Thomas Manns Erzählung Tonio Kröger, auf die der Roman weist, den "ewigen Gegensatz"[3] zwischen Leben sowie Geist und Kunst konstatiert, so erscheint er in dieser Robinsonade in seiner schärfsten Ausprägung beziehungsweise stellt sich nicht mehr, wenn "Literatur als Weg zum Verstehen"[4], wie bei Mann zu lesen ist, bedeutungslos wird. Die Gesellschaft entwickelt sich zurück, verkommt zur Barbarei. Gewalt und Krieg haben leichtes Spiel. Aus zeitweiligen, pubertären Verwirrungen des Zöglings Törleß, wie sie Musil aufzeigt, wird "Verwirrnis". Törleß kommt durch sein "schiefes Verhältnis zur Philosophie und Literatur"[5] unter den Einfluss seiner brutalen Gefährten. Er gerät nicht aus "Perversität, sondern infolge einer augenblicklich ziellosen geistigen Situation"[6] in diese "Verwirrungen". Unkenntnis und Nichtwissen lassen ihn zum Täter werden. Gaben Pius Ringeling Matthias Claudius Kriegslied, Grimmelshausen Simplicissimus sowie Cäsars De bello Gallico gegen die menschenverachtende nationalsozialistische Ideologie eine geistige Orientierung, so stehen seinem Sohn Friedewald im DDR-Staat der "Kanon der deutschen Lyrik" (149), Werke von Thomas Mann, Robert Musil oder Hugo von Hofmannsthal zur Verfügung. Diese geistig-kulturelle Tradition scheint nun, wie der Schluss des Romans ahnen lässt, zur Disposition zu stehen.

Als der Staat DDR "erodiert", wird es für Friedewald plötzlich "greifbar, das andere Leben in einem gerechten, einem demokratischen Staat, in dem jeder nach seiner Fasson" (287) leben könnte. Doch statt demokratischer Erneuerung werden Massenentlassungen zum Programm, um den Standard der Universitäten "auf das bundesdeutsche Niveau herunterzufahren" (290) und eine "gesunde und intakte Hochschullandschaft" (302) zu vernichten. Das, "was die SED-Diktatur nie gewagt hätte, nämlich das Eigentum der Universität anzutasten" (302), wird Realität, der sich auch Friedewald ausgeliefert sieht: Nur mit einem schriftlichen Bekenntnis zu seiner Homosexualität könnte er den Vorwurf der IM-Tätigkeit entkräften und seiner Entlassung entgehen. Er wählt den Tod und braucht nur eine Zeile aus dem 66. Shakespeare-Sonett, um seine Entscheidung zu begründen. "Des allen müd bin ich gegangen" (299). In der Übertragung Stefan Georges heißt es: "Dies alles müd möcht ich gegangen sein / Ließ ich nicht - sterbend - meine Lieb allein". Friedewald hält nichts mehr, keine "Lieb" und keine Hoffnung auf die Durchsetzung demokratischer Prinzipien nach dem Tyrannenmord, wie er in Shakespeares Drama Julius Cäsar geschildert ist, das er einst mit Studenten aufführte. Verwirrnis nimmt den Verlust geistig-kultureller Werte zu Protokoll, aus denen die Widerstandskraft erwächst, die das Antidot ist gegen Gewalt, Krieg und Barbarei.


Anmerkungen:

[1] Hein, Christoph: Trutz. Roman. Berlin 2017, S. 190.
[2] Ebd., S. 224.
[3] Mann, Thomas: Sämtliche Erzählungen in zwei Bänden. Bd. 1, Frankfurt a. M. 82002, S. 296.
[4] Ebd., S. 293
[5] Musil, Robert: Die Verwirrungen des Zöglings Törleß. Leipzig 1986, S. 90. (RUB1146)
[6] Ebd., S. 132.


Christoph Hein
Verwirrnis
Roman
Berlin, Suhrkamp Verlag 2018
304 Seiten
22,00 Euro
ISBN: 978-3-518-42822-1

22. September 2018


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang