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REZENSION/039: Sarah Kirsch, Christa Wolf - Der Briefwechsel (SB)


Sarah Kirsch - Christa Wolf

Der Briefwechsel
"Wir haben uns wirklich an allerhand gewöhnt"

von Christiane Baumann


"Woran werden wir uns denn noch gewöhnen ..."
Der Briefwechsel zwischen Sarah Kirsch und Christa Wolf "Wir haben uns wirklich an allerhand gewöhnt"

Am 3. August 1977 schreibt Christa Wolf an ihre Schriftstellerfreundin Maxi Wander: "Die Sarah Kirsch geht nun auch nach Westen [...] Es wird so leer, man fängt an zu frieren. [...] Ich versuch mir vorzustellen, wie sie da leben will - ich kann's schwer." (Wolf, Briefe, 310) Wenige Wochen später, am 27. September, notiert sie in ihrem Tagebuch Ein Tag im Jahr: [...] minutenlang verfiel ich in den Wunschtraum, Sarah käme zurück und wir richteten ihr eine Wohnung ein." (Wolf, Tag, 217) Diese wenigen Briefzeilen und Gedanken lassen die Nähe Christa Wolfs zu Sarah Kirsch erahnen und den Schmerz, den der Verlust der Freundin bedeutete. Es ist ein "schweres Jahr" (Wolf, Briefe, 319), wie sie gegenüber dem Freund Lew Kopelew bekennt, dieses Jahr nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns aus der DDR, die eine Ausreisewelle unter Kunstschaffenden zur Folge hatte. Eine, die die DDR verließ, war die Lyrikerin Sarah Kirsch, an die Christa Wolf in ihrem 1989 veröffentlichten Sommerstück mit dem vorangestellten Gedicht Raubvogel und in der Figur der Bella erinnerte. Es las sich als Abgesang auf den Sommer 1975, den beide mit anderen Künstlern in Meteln im Haus Christa Wolfs nahe Drispeths, einer Künstlerkolonie im Mecklenburgischen, verbrachte. Diesen Sommer verarbeitete auch Sarah Kirsch poetisch. Ihr Band Allerlei-Rauh erschien 1988 in der Bundesrepublik nur wenige Monate vor Wolfs Buch. "Die Metelner Zeit" war, wie Christa Wolf an Sarah Kirsch 1986 schrieb, "unwiederholbar" (196). Dieser Sommer markierte in der Rückschau eine Zäsur. Die Metelner Künstlergemeinschaft zerbrach im Zuge der Biermann-Affäre.

Christa Wolf und Sarah Kirsch gehörten zu den Erstunterzeichnern einer Petition, mit der Intellektuelle der DDR gegen die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann protestierten. Sarah Kirsch war dem sich anschließenden politischen Druck nicht gewachsen, zudem durch ihre Beziehung zu dem westdeutschen Lyriker Christoph Meckel innerlich zerrissen und stellte nur ein Jahr später einen Ausreiseantrag. Christa Wolf, betroffen von diesem Vorgang "von großer menschlicher, literarischer und politischer Tragweite" (Wolf, Briefe, 312), erklärte ihren Austritt aus dem Vorstand des Schriftstellerverbandes und zog sich aus Partei-Gremien zurück. Bemüht um die "Bewältigung des Schocks dieses Jahres", vermerkte sie aber im Tagebuch eine "Verfestigung" ihres "Willens zum Hiersein" (Wolf, Tag, 217). In diesen unterschiedlichen Strategien der Krisenbewältigung beider Autorinnen ist bereits das Scheitern ihrer rund dreißig Jahre andauernden Freundschaft angelegt, die Ende der 1950er Jahre in Halle an der Saale begann und die der vorgelegte Briefwechsel nachzeichnet.

Die Korrespondenz setzt 1962 ein. Der Band enthält 272 Briefe von Christa und Gerhard Wolf, von Sarah und - bis zu deren Scheidung 1968 - auch von Rainer Kirsch. Der Brief-Kontakt läuft zunächst über Gerhard Wolf, der zu diesem Zeitpunkt bereits als Essayist, Kritiker und Lektor des Mitteldeutschen Verlages etabliert war. 1959 leitete er die Arbeitsgemeinschaft Junger Autoren beim Bezirksverband Halle des Schriftstellerverbandes. Dort begann die Karriere von Sarah und Rainer Kirsch. Gerhard Wolf ist ihnen Freund, Kritiker und Mentor, der ihrem künstlerischen Werdegang Wege ebnet. Er netzwerkt auch zwischen dem Mitteldeutschen Verlag und dem Leipziger Literaturinstitut "Johannes R. Becher", wo die Kirschs später, ausgestattet mit einem komfortablen Stipendium, studieren. Seine Anthologien, die jungen Lyrikern eine Plattform bieten, werden für die Literaturentwicklung in der DDR wegweisend. In seiner Lyrik-Sammlung Sonnenpferde und Astronauten, die zehn Autoren vorstellt, darunter Volker Braun und Wolf Biermann, debütiert Sarah Kirsch 1964 mit Gedichten. Gerhard Wolf stärkt den Kirschs, oft humorvoll als "Kirschen" oder auch "cherries" angeredet, gegen ideologische Widerstände den Rücken. Beide geraten im Zuge der von Stephan Hermlin initiierten Lesung in der Akademie der Künste im Dezember 1962 in die Kritik. Es ist "Saison für Lyrik", so der Titel einer skandalträchtigen Anthologie, die 1968 Teil der "Lyrikwelle" in der DDR war, in der eine junge Autorengeneration nachdrücklich ihre individuellen Ansprüche gegenüber der Gesellschaft anmeldete. 1965 erscheint Gespräch mit dem Saurier, ein erster gemeinsamer Lyrikband der Kirschs. 1967 folgt Sarahs Kirschs erster Gedicht-Band Landaufenthalt. Es verwundert insofern nicht, dass 1966/67 die Korrespondenz zwischen den "Kirschen" und den "Wölfen", als welche die Wolfs scherzhaft firmieren, intensiv ist, insbesondere mit Gerhard Wolf. Unter den bis 1972 edierten 56 Briefen sind lediglich vier von Christa Wolf, einen fünften verfasste sie zusammen mit ihrem Mann. Dass man sich nah war, belegen ihre Tagebuchnotizen 1967, in denen sie Gedichte Sarah Kirschs zitiert und Übereinstimmungen im krisenhaften Lebensgefühl benennt.

Auch für Christa Wolf sind die 1960er Jahre bestimmt von der Suche nach ihrer künstlerischen Identität und geprägt von ideologischen Auseinandersetzungen, wie sie 1965 das 11. Plenum des ZK der SED, das so genannte "Kahlschlagplenum" auslöste. Nach Der geteilte Himmel (1963) erscheint von ihr 1968 Nachdenken über Christa T., das Buch, das die Autorin über die Grenzen der DDR hinaus bekannt macht. Die kulturpolitischen Debatten bilden in den Briefen ein Hintergrundrauschen. Das eigene Schaffen wird im Briefwechsel von Sarah Kirsch und Christa Wolf nicht zum Gegenstand, auch nicht 1973/74, als ihre Korrespondenz deutlich an Intensität gewinnt. Es sind vielmehr Zustandsbeschreibungen angesichts empfundener gesellschaftlicher Stagnation, die ausgetauscht werden, und literarische Ermutigungen. Dabei fällt die Polarität in der Perspektive der Briefschreiberinnen auf. Meint Wolf, es sei "das Beste", sich "allmählich in eine Kunstfigur" (115) zu verwandeln, so setzt Kirsch ihre, wie sie formuliert, in der DDR beschnittenen "Menschenrechte" dagegen und resümiert: "[...] wir haben uns wirklich an allerhand gewöhnt" (118).

Nach Sarah Kirschs Übersiedlung in die Bundesrepublik dauert der Kontakt an und führt 1988 bis 1990 zu einer bis dahin noch nicht dagewesenen Briefdichte. Hintergrund sind eine lebensgefährliche Erkrankung Christa Wolfs sowie die Krise in der DDR. Im Zeichen von "Glasnost" und "Perestroika" ist es Gerhard Wolf, der sich zeitlich parallel um die Herausgabe eines Lyrik-Bandes von Sarah Kirsch in der DDR bemüht und 1989 mit Ausschweifungen und Verwünschungen einen der schönsten Essays zu ihrem Schaffen verfasst, der den Bogen zu seinen frühen Bemühungen um diese Lyrikerin schlägt und zurecht in diese Briefedition aufgenommen wurde. Doch die Zahl der Briefe kann ihren Hang zur Alltäglichkeit bis zur Banalität nicht verdecken und offenbart, dass man längst die gemeinsamen gesellschaftlichen Koordinaten verloren hatte. Schon 1978 fragte Christa Wolf die nun im Westen lebende Freundin, wie "man ohne die gewohnte Reibung (die ja Reibungswärme erzeugt, die man, manchmal, in Produktionswärme umsetzen kann)" (135) arbeiten könne. Deutlicher wurde sie 1976 gegenüber Lutz Rathenow, der sich wegen staatlicher Repressalien hilfesuchend an sie gewandt hatte. Sie halte nicht viel "von der Formel 'Alles oder Nichts', weil sie den, der sie anzuwenden versucht, allzu oft in eine Selbstisolierung, in Sektierertum und Unproduktivität" (Wolf, Briefe, 273) treibe, schrieb sie.

Christa Wolf betrachtete die gesellschaftlichen Widersprüche in der DDR als Triebkraft ihres künstlerischen Schaffens und als Möglichkeit, auf politische Veränderungen hinzuwirken. Die Bundesrepublik war für sie keine erstrebenswerte Alternative, da sie in ihr "nie den Hauch einer utopischen Gesellschaftsentwicklung" (Wolf, Briefe, 847) wahrnahm. Dabei respektierte sie Kirschs Entscheidung, die DDR zu verlassen, sah als ursächlich für diesen Schritt die "unauflösbare Identifizierung" mit der DDR, vor der Kirsch und andere hätten "fliehen" (Wolf, Tag, 252) müssen. Sie beanspruchte für sich allerdings dasselbe Recht, wenn sie eine nachträgliche Rechtfertigung ihres Bleibens in der DDR ablehnte. 1990 betonte sie das womöglich Schwierigere dieses Bleibens und wies die Behauptung zurück, es sei an Korrumpierbarkeit geknüpft gewesen. Die weggingen, so Wolf, kompensierten nun ihren "Schmerz von damals" mit Beschuldigungen gegen andere und verdrängten dabei ihren eigenen Tribut, den sie an das System im Westen hätten zahlen müssen: Schweigen oder "Unpolitischwerden" (Wolf, Briefe, 630). Das galt auch Sarah Kirsch, die ihr im Juni des Jahres geraten hatte, "mal 1 Jahr in der Versenkung [zu] verschwinden und lieber was Anständiges [zu] schreiben" (319). In ihrem letzten Brief an die Freundin am 19. Dezember 1990 wurde Kirsch noch deutlicher: "Hoffentlich kannste die Politik auch mal wieder dahin rücken wo sie hingehört, diesz wünsche ich sehr doch von Herzen, sonst ist es kaum möglich zu schreiben." (321) Es war der Bruch und zugleich der Konflikt des deutsch-deutschen Literaturstreits, der sich 1990 an der Veröffentlichung von Christa Wolfs Band Was bleibt entzündete, weil diese sich die Deutungshoheit über ihr Leben und Schreiben nicht nehmen ließ.

Die hier herangezogenen Dokumente aus Christa Wolfs Tagebüchern und Briefen, die sich auf Sarah Kirsch beziehen, fehlen in der Briefedition. Wenn die Herausgeberin, Sabine Wolf, die auch schon die 2016 erschienene Briefauswahl verantwortete, in ihrem Nachwort auf die ,starke Asymmetrie" (361) des Briefwechsels weist, 173 Briefe Kirschs stehen 61 Briefen Wolfs gegenüber, so ist damit das Grundproblem des Bandes, eine Schieflage zugunsten Sarah Kirschs, benannt, der man durch die Aufnahme dieser Zeitdokumente hätte begegnen können. Dies wäre wünschenswert gewesen, da Wolfs Positionen in der Briefedition aufgrund dieser "Asymmetrie" kaum zum Tragen kommen. Der interessierte Leser ist gut beraten, diese Bände mitzulesen, um die Beziehung auch von Seiten Christa Wolfs einordnen und verstehen zu können, insbesondere das Scheitern dieser Freundschaft nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik. Der letzte Brief Sarah Kirschs an Gerhard Wolf vom August 1992, in dem sie sich dagegen verwahrt, ihn als "IM" denunziert zu haben, bleibt in der sorgfältig kommentierten Briefedition ohne Anmerkung. Tatsächlich macht die lapidare Schlussformel "Auweia! Sarah" (322) angesichts des Drucks und der Anwürfe, denen sich die Wolfs in dieser Zeit in der öffentlichen Debatte ausgesetzt sahen, sprachlos. Man stand an verschiedenen Fronten, was die Selbstgerechtigkeit der Kirsch, die Gerhard Wolf als Entdecker und Förderer viel zu verdanken hatte, nicht besser macht. Sarah Kirsch empfand den Zusammenbruch der DDR als späte Gerechtigkeit und als Bestätigung der eigenen Biographie. Christa Wolfs Beharren auf der eigenen Lebensleistung und ihre politische Standortbestimmung als Andersdenkende machten eine Verständigung unmöglich.

Der Briefwechsel ist als Zeitdokument bedeutsam, nicht zuletzt, weil er das Ringen der künstlerischen Elite in der DDR um den Sozialismus als gesellschaftliche Alternative zum kapitalistischen System belegt. Damit wird er auch zu einem Dokument ihres Scheiterns. Zu Kirschs titelgebendem Brief-Zitat "wir haben uns wirklich an allerhand gewöhnt", das sich auf die schwierigen politischen Verhältnisse in der DDR bezieht, findet sich in Christa Wolfs Tagebuchnotizen eine auffällige Übereinstimmung. Es liest sich wie eine Paraphrasierung des Kirsch-Satzes, wenn Wolf im Jahr 1994 vor dem Hintergrund anwachsenden Antisemitismus' im wiedervereinten Deutschland reflektiert: "Woran werden wir uns denn noch gewöhnen, woran noch, und wann ist wieder der Punkt erreicht, wo das demokratische System, das ich aus Aberglauben nicht in Anführungszeichen setzen will, all dies nicht mehr 'auffangen' kann und zerreißt. Und was dann." (Wolf, Tag, 534)


Zitate aus

Christa Wolf: Man steht sehr bequem zwischen allen Fronten. Briefe 1952-2011. Berlin 2016.
Christa Wolf: Ein Tag im Jahr 1960-2000. München 2003.

"Wir haben uns wirklich an allerhand gewöhnt"
Sarah Kirsch - Christa Wolf. Der Briefwechsel
Berlin, Suhrkamp Verlag 2019
438 Seiten
32,00 Euro
ISBN: 978-3-518-42886-3

13. Januar 2020


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