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REZENSION/055: Gert Loschütz - Besichtigung eines Unglücks (SB)


Gert Loschütz

Besichtigung eines Unglücks

von Christiane Baumann


Vom Unglück in Zeiten des Krieges.
Zu Gert Loschütz' Roman Besichtigung eines Unglücks

Es ist das schwerste Zugunglück, das sich jemals auf deutschem Boden ereignete, doch es ist aus dem historischen Gedächtnis verschwunden. Es geschah im Dezember 1939 während des Zweiten Weltkrieges, dessen Ereignisse die Medien dominierten. In solchen Zeiten ist es wenig populär, von Militärzügen zu berichten oder von Auswirkungen der kriegsbedingten Verdunklung der Bahnhöfe, die zu Verspätungen führen und einem Zugunglück Vorschub leisten. Gründe dieser Art wurden in den amtlichen Akten nicht vermerkt, konnten sie doch als Wehrkraftzersetzung ausgelegt werden.

Der Roman des 1946 in Genthin bei Magdeburg geborenen Gert Loschütz liefert eine minutiöse Recherche der Ereignisse rund um den Zusammenprall zweier Züge in der Nacht vom 21. zum 22. Dezember 1939 am Stellwerk Genthin Ost, dem zahlreiche Menschen zum Opfer fielen. Den überlieferten Akten wird eine auf Objektivität und Wahrheit zielende und die offiziellen Papiere der Lüge überführende Dokumentation in Form eines "Notizbuches" an die Seite gestellt. Zur Schreibmethode, die beinah im Sekundenstil die Umstände der Katastrophe festhält, liefert der Text im kritisch reflektierten, weil abgenutzten Zitat ("Der Zug raste führerlos durch die Nacht") einen Hinweis auf das literarische Vorbild. Émile Zolas berühmter Eisenbahn-Roman La bête humaine (Die Bestie im Menschen, 1890) endet mit der dem Deutsch-Französischen Krieg führerlos entgegenrasenden Lokomotive: "Ohne Führer im Dunkel der Nacht, wie eine blinde, taube, vom Tod selbst losgelassene Bestie rollte und rollte sie dahin, bepackt mit diesem Kanonenfutter, diesen von der Müdigkeit schon dumm gewordenen, trunkenen, singenden Soldaten", heißt es bei dem französischen Naturalisten. Der Bezug zur naturalistischen Ästhetik findet im Rückgriff auf Zolas Notizbuchmethode, deren sich Loschütz' Erzähler eifrig bedient, seine Bestätigung. Der personifizierten Lokomotive in Zolas Roman entspricht die Personifizierung des Unglücks bei Loschütz. Krieg und Katastrophe sind die Fixpunkte, um die der Roman, der sich zu einer großangelegten "Unglückserzählung" weitet, kreist. Das Zugunglück, das etwa das erste Drittel der Geschichte dominiert, wird in Loschütz' Roman zunehmend von anderen Unglücken verdrängt, bei denen der Krieg die Fäden zu ziehen scheint.

Es sind vier Sekunden, die alles verändern. Zwei Züge, aus Berlin kommend, prallen aufgrund einer Verkettung unglücklicher Umstände aufeinander. Am Ende wird der Lokführer Erich Wernicke zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt, weil er mehrere Signale überfahren haben soll. Entsprach das den Tatsachen oder fällte das Nazi-Regime, wie in einem DDR-Journal gemutmaßt, ein "faschistisches Willkürurteil" gegen einen Mann, der sich der NSDAP und jedweden Naziorganisationen verweigerte? Wurde er vom Autor dieses Beitrages bewusst zum "proletarischen Helden" stilisiert? Tatsächlich war Wernicke erst mit Kriegsbeginn aufgrund des entstandenen Personalmangels in den Lokführerdienst übernommen worden und wegen mehrerer Verstöße gegen Dienstvorschriften aktenkundig. "Wir hatten stets freie Fahrt", beteuern Lokführer und Heizer der Unglückslok D 180 später, "und lügen", denn, das belegen die Recherchen des Erzählers, ein eingeschobener Militärzug ließ die Züge "aus dem Plan" fallen. Das Signal stand auf Rot. Warum aber stoppte der dem Zug vorausfahrende D 10 seine Fahrt plötzlich? Gab man das Haltesignal für den Unglückszug zu früh, so dass der D 10 es auf sich bezog? Auszuschließen ist es nicht, doch der Mann am Stellwerk hat einen starken Zeugen, den SA-Mann Zeuner. Alles kommt zusammen: "Das ist der Moment, den man einfrieren möchte, der Moment davor" - die Koinzidenz der Ereignisse führt zur Katastrophe. Die Bilanz sind mindestens 186 Tote und 73 Vermisste, deren Verbleib ein "Geheimnis" bleiben wird.

Ein Geheimnis rankt sich auch um zwei Mitreisende im Unglückszug: Carla Finck und Giuseppe Buonomo. Das Romangeschehen, das im ersten Drittel der Schuldfrage nachgeht, verlagert sich nun auf jene, denen der Unfall ohne eigenes "Zutun" passierte, deren Unglück aber eigentlich schon vor der Katastrophe begann. Berichtet wird die Geschichte der 18-jährigen Halbjüdin Carla und ihres 36 Jahre alten jüdischen Verlobten Richard. Die Geschichte, die Carla als "unser Unglück" bezeichnet, prangert in berührender Weise den Holocaust und die unmenschlichen Erniedrigungen an, die Juden, sanktioniert durch die Nürnberger Rassengesetze der Nationalsozialisten 1935, zu erleiden hatten. Zu spät entscheiden sich Carla und Richard für eine Flucht aus Deutschland. Das argentinische Visum bekommen sie nicht. Ihre Liebe bestimmen "Einschnürung, Ausplünderung, Angst". War in dieser Situation die Begegnung mit Giuseppe Buonomo ein Lichtpunkt, ein Hoffnungsstrahl oder gar das Tor in die Welt? Warum verließ Carla Düsseldorf und ging mit ihm nach Berlin, um Richard dann trotzdem Liebesbriefe zu schreiben? War Buonomo die Liebes-Novelle in einer bedrückenden Zeit, oder war er ein Helfer in der Not, der bei der Beschaffung von falschen Papieren half? Die Dinge sind in Zeiten der faschistischen Diktatur nicht immer wie sie scheinen. Am Ende steht ein Verrat, der Richard das Leben kostet und Carla als lebenslanges Trauma begleitet.

Die Lebensgeschichte des Ich-Erzählers Thomas Vandersee, einem Schriftsteller und Alter Ego des Autors, ist mit dem Zugunglück und Carlas Leben in geheimnisvoller Weise verwoben. Er will sich dieser, seiner Geschichte nicht stellen. Er ist ein heimatloser Autor wie der alte Herr Weidenkopf ein "Heimatforscher ohne Heimat". Weidenkopf verließ in den fünfziger Jahren seine Heimatstadt Genthin. Er wird zum Auslöser der Recherchen und schließlich des Erzählens. Als Spiegelfigur des Erzählers tritt er mit ihm in den Dialog. Er rührt mit seinen an Thomas gerichteten Briefen am Trauma des Heimatverlusts und an der verschütteten Familiengeschichte. Auch der Ich-Erzähler Thomas flüchtete vor vielen Jahrzehnten aus Genthin mit seiner Mutter Lisa, die nach einer Denunziation ihrer großen Liebe, einem berühmten Geiger, nach Westberlin folgte: "Die Bilder kommen von weit her und gehören zum Angstvorrat, dem sich nachts mit weit aufgerissenem Maul über mich stülpenden Schrecken ... da ist sie, die schwarze aus der Dunkelheit auftauchende, stets feucht schimmernde Walze des Lokomotivkessels". Die Lokomotive steht für Tod, Flucht und Heimatverlust. Sie ist angstbesetzt und verfolgt den Erzähler "bis in den Schlaf". War es die "Unglückslok" des Jahres 1939, die ihn und seine Mutter aus Genthin nach Westberlin brachte? Die Liebe der Mutter erwies sich als Irrtum. Die junge Frau, die sich in der DDR in einem Arbeitsamt von einer Bürokraft zur Amtsleiterin heraufgearbeitet hatte, rettet sich in Westberlin in eine Heirat. Sie ist eine Gescheiterte, Entwurzelte, in der Liebe wie im Leben.

Loschütz' Geschichte lebt von dem bereits im Titel angelegten Spannungsverhältnis zwischen dokumentarischem (Besichtigung) und fiktivem Erzählen (Gattungshinweis "Roman"), wobei die Übergänge in die Fiktion thematisiert und diskutiert werden ("es könnte so gewesen sein" usw.). Der Ich-Erzähler hat einerseits Distanz zum Unglücksgeschehen des Jahres 1939 und ist mit diesem andererseits durch seine Mutter Lisa unmittelbar verbunden. Er erscheint zunächst als unbeteiligter Zuschauer einer Katastrophe, aus der er sukzessive seine Familiengeschichte aufrollt. Das besichtigte Zugunglück, die verschütteten Schicksale der während der Nazizeit "Ausgegrenzten", der "zur Beraubung, Vertreibung, Ermordung Freigegebenen", wie jene Zwangsarbeiterinnen und KZ-Häftlinge, die im bei Genthin gelegenen Munitionswerk unter unmenschlichen Bedingungen schuften mussten, was alle wussten und hinnahmen, wandelt sich im Erzählvorgang zur "Unglückserzählung" über den Verlust der eigenen Identität, der mit dem Verlust des Vaters begann, aber vor allem mit dem Verschweigen, das bis in die Gegenwart des Erzählers reicht, seiner eigenen Lebenslüge, die ihn mit Yps, seiner verheirateten Geliebten verbindet. "Am Anfang ist die Haltung, dann kommt der Fehler, er ergibt sich aus der falschen Haltung", erinnert Thomas die Worte seiner Mutter. Die falsche Haltung führt in die Katastrophe und in Zeiten des Krieges in den Tod. Loschütz' Roman zeigt eindrucksvoll, wie die Deformationen des Zweiten Weltkrieges bis in die Kinder- und Enkelgeneration nachwirken. Zu seinen Folgen gehörten die deutsche Teilung und schließlich der Kalte Krieg. Damit ist Loschütz' Roman aktueller denn je, denn er offenbart den Krieg als die größte Katastrophe der menschlichen Zivilisation, aus der nur ein Weg herausführt: das Gespräch als Existenzform des Menschen und der Menschlichkeit.

Gert Loschütz
Besichtigung eines Unglücks
Frankfurt am Main: Schöffling & Co. 2021
336 Seiten
24,00 EUR
ISBN: 978-3-89561-157-5

13. Juni 2022

veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 175 vom 1. Juli 2022


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