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BERICHT/021: Linksliteraten - Widerspruchssymptom EU ... (1) (SB)


19. Linke Literaturmesse Nürnberg

Detlef Hartmann über sozialen Widerstand gegen eine EU unter deutscher Hegemonie und die Schaffung eines Europas von unten, das an ihre Stelle tritt



Die Frage danach, wie sich linke Bewegungen zur EU positionieren, ist schon deshalb vielschichtig, weil mit diesem Etikett ganz unterschiedlich umgegangen werden kann. Ob Bundesstaat oder Staatenbund, ob territorial, kulturell oder geschichtlich bestimmt, ob institutioneller Überbau existierender Nationalstaaten oder Katalysator einer eigenständigen Staatenbildung, ob emanzipatorisch zu veränderndes oder ganz und gar zu verwerfendes Projekt kapitalistischer Herrschaft - gerade weil die EU häufig als virtuelles Konstrukt technokratischer Verfügungsgewalt wahrgenommen wird und auf ihrer Ebene getroffene Entscheidungen zugleich tiefgreifende Auswirkungen auf das Leben der Bevölkerungen haben, scheiden sich an diesem Punkt die Geister.

Sicherlich auch aus diesem Grund stand die Eröffnungsveranstaltung der 19. Linken Literaturmesse am 31. Oktober 2014 unter dem Titel "Europa und die Europäische Union - Analysen, radikale Kritik und linke Perspektiven". Wie häufig bei öffentlichen Veranstaltungen von maximal drei Stunden Dauer könnten die dazu aufgeworfenen Fragen kaum in einem mehrtägigen Seminar angemessen behandelt werden. Es blieb mithin ganz Karin Maler von der Interventionistischen Linken, dem Stellvertretenden Vorsitzender der Partei Die Linke, Tobias Pflüger, und Detlef Hartmann, Rechtsanwalt und sozialrevolutionärer Autor, überlassen, dem ambitionierten Anspruch der Veranstaltung gerecht zu werden. Ihrem stark moderierten Charakter gemäß und zwecks besserer Überschaubarkeit werden die Positionen der Referenten an dieser Stelle weitgehend unabhängig von ihrem situativen Kontext zusammengefaßt.

Referent auf dem Podium - Foto: © 2014 by Schattenblick

Detlef Hartmann
Foto: © 2014 by Schattenblick

Hartmann warf gleich zu Beginn die Frage auf, wie zweckmäßig es sei, soziale Verhältnisse vom Begriff der EU aus zu untersuchen. Für ihn ist die Europäische Union ein Zeitgebilde und ein krisenhaftes Projekt, das ständig seine Gestalt und seine Machtmittel verändert. Solche Formationen schöpfen ihren Sinn nur aus sozialen Auseinandersetzungen, aus Kämpfen, aus Bewegungen von Menschen gegen Menschen und von Menschen mit Menschen, so der Referent unter Verweis auf die Frühschriften Karl Marx'. In Europa habe es rasch aufeinanderfolgende Bewegungen gegeben, die sich stetig veränderten und einander ablösten. So habe keines der Länder, die heute die EU ausmachen, vor 150 Jahren eine Zentralbank besessen. Banken waren relativ unterentwickelt, und als sie sich herausbildeten, habe das vor allem damit zu tun gehabt, Arbeitskraft in Wert zu setzen und die Menschen als ihre Träger zu unterwerfen. Marx habe denn auch völlig zu Recht gesagt, daß das immer mit der Zerstörung sozialer Verhältnisse verbunden war.

Zusammen mit John Malamatinas hat Hartmann 2011 in dem Buch "Krisenlabor Griechenland" [1] die These aufgestellt, daß mit dem der Bevölkerung aufoktroyierten Spardiktat eine Politik der Veränderung aller Lebensverhältnisse initiiert wurde. Diese Politik der Entwertung von Arbeit und menschlicher Existenz in ihren sozialen Zusammenhängen wurde radikal und rasant in fast allen gesellschaftlichen Bereichen umgesetzt, stößt aber dort wie woanders in der EU auf wachsenden Widerstand. Während die Menschen in Griechenland auf die Barrikaden gingen, brach in Deutschland 2010 eine sozialrassistische Kampagne gegen die "Pleitegriechen" los. In Spanien wehren sich die Menschen gegen die Politik der Vertreibungen aus ihren Wohnungen, die sie nicht mehr bezahlen können, nachdem sie diese, ermutigt durch die offizielle Politik des billigen Geldes, mit Hypotheken belastet haben. Auch in Italien können viele Menschen das Wohnen nicht mehr bezahlen, was dazu führte, daß zur Zeit in Rom rund 5000 Wohnungen besetzt sind und sich eine dichte Struktur von Solidarität und gegenseitiger Hilfe herausgebildet hat. Hartmann erinnert auch an den starken Widerstand im Susa-Tal, das durch eine europäische Infrastrukturpolitik bedroht ist, die keine Rücksicht auf die Interessen der davon betroffenen Bevölkerung nimmt. Die NO TAV-Bewegung, die sich gegen eine Hochgeschwindigkeitstrasse für den Zugverkehr zur Wehr setzt, deren Bau mit erheblichen Gefahren für Mensch und Natur einhergeht, sieht er als ein gutes Beispiel für die Möglichkeiten basisdemokratischer Selbstorganisation.

In Köln erlebt Hartmann bei der Unterstützung rumänischer und bulgarischer Arbeitsmigrantinnen und -migranten die Auswirkungen eines EU-Spardiktates, die diesen Menschen in ihren Herkunftsländern kaum noch Bewegungsraum läßt. Die sozialen Verhältnisse in Rumänien seien derart zerstört, daß Menschen inzwischen ganze Stadtteile besetzen oder Selbstverbrennungen vollziehen, um überhaupt auf sich aufmerksam zu machen. Ihnen bliebe keine andere Chance, als in Europa mobil zu sein und eben auch in die Bundesrepublik zu kommen, wo sie zum Teil unter übelsten [2] Bedingungen bei informeller Lohnarbeit ausgebeutet werden. Zweifellos hat sich hier ein Feld für linke Solidaritätsarbeit und damit auch den praktischen Widerstand gegen das Austeritätsregime der Troika aus EU-Kommission, EZB und IWF aufgetan. Das alles geschieht innerhalb Europas, dessen südliche Peripherie durch ein regelrechtes Todesmeer gegen Menschen abgeschottet wird, die aus höchster Not fliehen wollen und dabei zu Tausenden ums Leben kommen.

Auch in der Bundesrepublik gibt es sehr viel Elend und viele Prekarisierte. Im Gesundheitsbereich, in der Altenpflege, im zweiten und dritten Arbeitsmarkt wie bei der Leiharbeit wurde eine Politik der Lohnsenkung initiiert, die mit der Agenda 2010 ihren Anfang nahm. Dieses Arrangement zwischen den Gewerkschaften und dem Kapital war praktisch ein Stillhalteabkommen, um den Griff nach der deutschen Hegemonie in Europa nicht zu behindern. Die Vertreter der Lohnabhängigen ließen sich auf eine Politik ein, mit der die europäischen Arbeiterschaften gegeneinander ausgespielt werden sollten. Hartz IV wurde als eine gnadenlose Politik des öffentlichen Ausziehens - was hast du, was kannst du, was willst du, erzähle uns alles über dich, wo bist du verwendbar - mit einem enormen Aufwand durchgesetzt und als Vorreitermodell für Europa eingerichtet.

Die deutsche Politik der Lohnzurückhaltung hat große ökonomische Differenzen zu den anderen EU-Staaten hergestellt. Zwar wurden dort bisweilen höhere Löhne als in der Bundesrepublik gezahlt, doch das hat auch dazu geführt, daß das Niveau der Schulden anstieg, aus denen solche Löhne mittelbar und unmittelbar finanziert worden sind. Diese Daumenschraube wurde letztlich von den sogenannten internationalen Finanzmärkten angelegt. Länder wie Spanien, Italien, Griechenland, aber auch Irland konnten zeitweise international keine Anleihen mehr verkaufen, weil dies sofort mit der Forderung quittiert wurde, die Sozialhaushalte einzuschmelzen und etwa das öffentliche Gesundheitswesen abzubauen, wie es in Griechenland mit katastrophalen Folgen für die Bevölkerung geschah. Die institutionellen Anleger, die solche Anleihen nur noch kaufen, wenn sie hochverzinst sind, spekulieren zudem darauf, eventuelle Ausfälle durch die EU oder EZB erstattet zu bekommen. Dieser komplizierte Mechanismus wurde, so Hartmann, virtuos von europäischen legitimierten Strukturen wie der Troika gehandhabt, allerdings stets unter dem Vorzeichen der aggressiven Politik Deutschlands, alle möglichen Leute mit ins Boot zu holen, um andere wiederum besser ertrinken lassen zu können.

Das ist die Basis einer Auslese, bei der die Grenzen zwischen Arm und Reich kaum mehr von den Leuten bestimmt werden, die Kapital haben und Zinsen kassieren. Für Hartmann sind es eher die High potentials, die Leute, die erstklassige Jobs haben und Exzellenzinitiativen an den Universitäten führen: Du gehörst entweder dazu, oder du bist Dreck, du kommst in die Warteschleife, wo du fünf Jahre Bewerbungen schreiben und zahlreiche Praktika absolvieren kannst, bis du irgendwann habilitierst, um einen neuen Anlauf zu starten und irgendwo unterzukommen. Das wissen die Menschen inzwischen ganz genau, was bei aller um sich greifenden Verunsicherung, der sie aufgrund ihrer prekären Lebensumstände und der massenmedialen Indoktrination ausgesetzt sind, positiv übersetzt bedeutet, daß wir eine konkrete "Masse" sind, es aber bloß noch nicht wüßten.

Hartmann plädiert für die Schaffung eines Europas - und nicht einer EU - von unten. Zu unterstützen sei jede Form von Selbstorganisation, bei der die verschiedenen Initiativen und Kämpfe zusammenfinden, um gegen die EU als Traum des Kapitals und des deutschen Kapitalismus vorzugehen. Dieser Traum sei etwa 100 Jahre alt. Er habe seinen ersten großen Aufschwung nach der Stagnation bis 1896 erlebt, als dem deutschen Kapital das Kleid zu eng wurde und es zu dem Schluß gelangte, Europa mit der D-Mark als Leitwährung und mit dem Anschluß der europäischen Politik an die Politik des Deutschen Reiches neu zu organisieren. Der Ausbau des europäischen Binnenmarktes richtete sich vor allem gegen die Wirtschaftsmacht der USA. Der erste Anlauf des vor 100 Jahren unter dem Begriff Mitteleuropa firmierenden Hegemonialstrebens des Deutschen Reiches scheiterte 1918, der zweite brach 1945 zusammen, nachdem der NS-Staat versucht hatte, alle Arbeitskraft in Europa mit kriegsökonomischen Mitteln unter deutsche Kontrolle zu bekommen.

Die Europäische Zentralbank (EZB) als tragende finanztechnische Organisation Europas ist das Produkt dieses Versuchs, so Hartmann. Während der Jahre 1941 bis 1944 wurde eine Verrechnungsunion zwischen den im Krieg eroberten Ländern eingerichtet, in der die Reichsmark praktisch die zentrale Währung war. In dieser Verrechnungsunion, die die Bank für internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) in Basel betrieb und in allen einzelnen Vorgängen verwaltete, wurden zu einem späteren Zeitpunkt zu begleichende Gutschriften für reale Leistungen ausgestellt. Die BIZ wurde 1946 zur ersten Organisatorin einer europäischen Zahlungsunion auf der Basis eines Zusammenschlusses der europäischen Zentralbanken bis auf die der Sowjetunion und der DDR und damit praktisch Vorläuferin der Europäischen Zentralbank (EZB).

Angesprochen auf die Frage, ob die EU nicht zu zerschlagen sei, gibt Hartmann zu verstehen, daß es ihm darum nicht gehe. Wenn die Bewegungen von unten anwachsen und es uns möglich ist, etwas zu tun und zu organisieren, dann setzen sie sich an die Stelle der EU. Das klinge zwar utopisch, aber sei nicht aus der Luft gegriffen. Die EU ist ein Apparat, und Hartmann empfiehlt, einmal zu schauen, was mit Apparaten geschieht, wenn man sie wirklich konfrontiert. Tagespolitik von Macht und Gegenmacht folge ganz anderen Regeln als denjenigen, mit Hilfe derer Organisationen aufgebaut werden.

Ein Europa von unten in neuen Formen der Selbstorganisation, das Detlef Hartmann als sein Herzensanliegen bezeichnet, wäre mithin dringend geboten, um gegen die Strategie der Zerstörung, die als eine neue Politik der Spannung in die Ukraine und nach Nordafrika ausgreift, vorzugehen. Er sieht in der heutigen Entwicklung Parallelen zu den beiden vergeblichen Versuchen, die deutsche Hegemonie über ganz Europa zu etablieren, und schlägt eine Gegenbewegung vor, in der Einzelinitiativen und überregionale Organisationsformen wie Blockupy sich mit Flüchtlingen und Arbeitsmigrantinnen zusammenschließen.

Diesen Fluß von Menschen zu unterstützen und damit eine Bewegung von außen nach innen zu schaffen, die der Machtbewegung von innen nach außen etwas entgegenzusetzen hat, ist eine Antwort, die Hartmann auf die Frage nach einer linken Perspektive zur EU gibt. Der Virus der Selbstorganisation und der Selbstherstellung im Protest, der dich wieder zu einem Akteur macht, sei gegenseitig zu verstärken. Die große Gefahr bestehe immer in der Vermittlung, die überall gegenwärtig sei, was jeder wisse, der einmal einer kadermäßig organisierten Partei oder ähnlichem angehört habe. Die Politik der Knechtung, der Entwertung und Zerstörung wird in alltäglichen Prozessen manifest, da müssen wir uns sammeln und etwas dagegen tun. Das können wir nur mit den Leuten machen, die davon betroffen sind. Gehen wir zu ihnen hin und machen es mit denen zusammen. Self empowerment und Selbstorganisation auch unter Einbeziehung der Nachbarn lautet das Credo Hartmanns, dessen Enthusiasmus und Energie ansteckend wirkt auf eine Linke, die sich nicht hinter Arrangements mit den herrschenden Verhältnissen versteckt, sondern es mit ihrer Überwindung ernst meint.

(wird fortgesetzt)


Fußnoten:


[1] http://www.schattenblick.de/infopool/buch/sachbuch/busar565.html

[2] http://www.zeit.de/2014/51/schlachthof-niedersachsen-fleischwirtschaft-ausbeutung-arbeiter/komplettansicht


Zur "19. Linken Literaturmesse in Nürnberg" sind bisher im Pool
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unter dem kategorischen Titel "Linksliteraten" erschienen:

BERICHT/017: Linksliteraten - Aufgefächert, diskutiert und präsentiert ... (SB)
BERICHT/018: Linksliteraten - Sunnitische Ränke ... (SB)
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29. Dezember 2014


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