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BERICHT/047: Zukunft, Literatur, Gesellschaft - Fortschritt schalten, mitgestalten ... (SB)


Der Neoliberalismus hat viele Gesichter

Tagung im Literaturforum im Brecht-Haus in Berlin Mitte


Die menschheitsgeschichtliche Entwicklung hat zahllose Formen der Zusammenarbeit hervorgebracht, deren Wert und Nutzen sich erst im Kontext der Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse angemessen entschlüsseln läßt. Daß Menschen gemeinsam Hand anlegen, sich zusammenschließen, Bündnisse eingehen, kann vieles bedeuten, solange die Fragen des Eigentums und der Verfügung nicht geklärt sind. Selbst die Scheidung in Zwang oder Freiwilligkeit wird brüchig, legt man solche vermeintlichen Gegensätze auf den Prüfstand einer gesellschaftskritischen Untersuchung der beteiligten Interessen.

Ob man daher von Assoziation, Kooperation oder gar Kollaboration spricht, wie dies Mark Terkessidis vorschlägt [1], ist vom Begriff her zwar nicht beliebig, aber doch nachrangig gegenüber einer inhaltlichen Bestimmung und Bewertung der jeweils erörterten Schulterschlüsse anhand ihrer Interessenlage, Zielsetzung, Entwicklungsfähigkeit und nicht zuletzt Korrumpierbarkeit. Behält man im Blick, daß die Beherrschbarkeit des Menschen nicht nur diverser Zwangsmittel, sondern auch seiner Teilhaberschaft bedarf, schärft dies den Blick für die innovative Fortschreibung der herrschenden Verhältnisse auch und gerade in der Sphäre reformistischer Partizipation an Staatlichkeit und Kapitalverwertung.

Subversive oder oppositionelle Bewegungen im Sinne einer Ermächtigung von unten, radikale Formen lokaler oder kommunaler Selbstorganisation, soziale und ökologische Kämpfe laufen stets Gefahr, von Professionalisierungstendenzen im Dienst eigener Existenzsicherung in die bürgerlichen Mitte gezogen und neutralisiert zu werden. So spielen in politisch umkämpften Feldern wie etwa in sozialökologischen Auseinandersetzungen oder bei den Freihandelsabkommen TTIP, CETA und TISA Beiräte in Bürgerbeteiligungsverfahren fast immer die Rolle, Menschen dazu zu bringen, immanente Werte wie Rechtsstaatlichkeit ohne Rücksicht auf die zugrundeliegende Eigentumsordnung anzuerkennen und sich darüber jegliche Radikalisierung abnehmen zu lassen. Auch wenn solche Verfahren selbstorganisiert erscheinen, werden sie häufig durch NGOs, staatliche oder andere Akteure moderiert, die integrative Interessen verfolgen.

Die verständliche Neigung, alle erdenklichen Phänomene unter das eigene Modell zu subsumieren, um dessen vorgebliche Bedeutung aufzuwerten, führt zwangsläufig dazu, die Welt durch die Brille des jeweiligen Konstrukts zu sehen. Wie jedoch die historische Erfahrung lehrt, war der Schulterschluß aus staatlichen und Kapitalinteressen stets außerordentlich erfinderisch wenn es galt, emanzipatorische Bestrebungen einzubinden und ihre Dynamik in den Dienst verschärfter Zwangsverhältnisse zu stellen. So haben Ansätze zur Humanisierung der Arbeitswelt keineswegs die industrielle Bandarbeit beseitigt, sondern letztendlich der Erprobung und Durchsetzung neuer Formen rationalisierter Arbeitsorganisation wie auch der Spaltung der Belegschaft in Arbeiteraristokratie und Niedriglohnsektor Vorschub geleistet.

Auch die Informationstechnologie hat mitnichten die ihr blauäugig angedichtete Befreiung des Individuums durch Wissensgewinn und Vernetzung ermöglicht, sondern im Gegenteil Denkkontrolle, Überwachung, Verwertung des Menschen selbst und Ausbeutbarkeit der IT-Monaden und miteinander konkurrierenden Miniunternehmen forciert. Während zumeist US-amerikanische Großkonzerne das Feld beherrschen und die Konsumenten ihrer Produkthoheit unterwerfen, rekrutieren sie zugleich ein Heer prekärer Existenzen als gegeneinander wetteifernde Zulieferer oder unterbezahlte Handlanger.


Im Vortrag - Foto: © 2016 by Schattenblick

Mark Terkessidis präsentiert sein Konzept
Foto: © 2016 by Schattenblick


"Kollaboration" - Nomen est omen?

Was Mark Terkessidis in der Sektion III der Tagung "Richtige Literatur im Falschen?" unter dem Thema "Die Zukunft der Gesellschaft - Kollaboration" zur Diskussion stellte, bedarf daher einer eingehenden Nagelprobe entlang des oftmals verschwimmenden Grenzverlaufs zwischen Widerständigkeit und reformistischer Einbindung. Der promovierte Pädagoge, Kulturwissenschaftler und Publizist hat für die Spex als Teil des poplinken Diskurses gearbeitet und sich als Autor über Rassismus und Migration einen Namen gemacht. 2006 verfaßte er zusammen mit Yasemin Karasoglu ein intensiv diskutiertes Plädoyer für mehr Rationalität in der Integrationsdebatte. 2013 erschien bei Suhrkamp sein Buch "Interkultur", in dem er versucht, einen Begriff gegen die Leitkultur zu entwickeln. Darauf aufbauend entwirft er in seinem 2015 erschienenen Buch "Kollaboration" ein Plädoyer für einen gesellschaftlichen Aufbruch, für eine andere Idee des sozialen Miteinanders.

Terkessidis verortet in der deutschen Gesellschaft ein geradezu epidemisches Bedürfnis nach Engagement - sei es aus Mißtrauen gegenüber jeglichen großen Institutionen oder aufgrund der deprimierenden Wahrnehmung, daß sich das große Ganze nicht ändern läßt. Er steuert dazu seinen Ansatz bei, ein handlungsbegründendes Leitprinzip des Wandels zu beschreiben: Es gelte, den Diskurs der Eigenverantwortung ernstzunehmen und daraus eine normative Grundlage der gesellschaftlichen Veränderung zu entwickeln. Der politische Raum sei zunehmend komplex und artikuliere sich weniger über Inhalte als über Affekte, wie die großen sozialen Bewegungen der Empörten zeigten. Viele Menschen wollten spontan tätig werden, nicht aber die Ochsentour einer Partei durchlaufen. Man habe insbesondere die zahllosen Partialkämpfe satt und wolle soziale Gerechtigkeit thematisieren. Angesichts dieser Vielheit von Ansprüchen und Themen bedürfe es eines Prozesses der Diskussion, welche Stoßrichtung die Bewegung haben soll.

Er habe dafür den Begriff "Kollaboration" gewählt, wenngleich dieser aus deutscher Sicht im Sinne einer Zusammenarbeit mit dem NS-Staat stets negativ konnotiert sei. Im englischsprachigen Raum werde "collaboration" hingegen neutral bis positiv für Zusammenarbeit verwendet. Dieses Konzept werde nicht zuletzt in Wirtschaftskreisen forciert, wenn es darum geht, Verantwortung nach unten zu verlagern. In einem instabilen wirtschaftlichen Umfeld könne man nicht mehr nur hierarchisch von oben entscheiden, sondern müsse die Mitarbeiter auf die eine oder andere Weise einbeziehen. Bei dieser neuen Arbeitskultur komme es darauf an, einerseits Autonomie zu ermöglichen, aber andererseits den Prozeß nicht in Chaos ausarten zu lassen, so der Referent.

Im Postkapitalismus gehe es bei der Selbstorganisierung darum, Wissen, Quellcodes, Autos und vieles mehr zu teilen. Man benutze mit Wikipedia ein Lexikon, das auf kollaborativen Prinzipien beruhe. Während beim traditionellen Lexikon ein Gremium weiser Männer über die Relevanz eines Themas entscheide und die entsprechenden Artikel unter Rückgriff auf sogenanntes Expertenwissen verfasse, arbeiteten bei Wikipedia zahlreiche Menschen daran, die Einträge fortgesetzt zu verbessern. Wie dieses Beispiel zeigt, beläßt es Terkessidis bei einem oberflächlichen Konsens, der die Selbstdarstellung Wikipedias unüberprüft kolportiert. Weder thematisiert er die essentielle Frage, ob eine solche Ansammlung von Informationen überhaupt mit Wissen gleichzusetzen sei, noch geht er auf die bei jeglichen Widersprüchen maßgebliche Entscheidungshoheit ein. Wer jemals mit einer solchen Kontroverse befaßt war, stößt auf die absolute Intransparenz eines inneren Zirkels und dessen undurchschaubare Kriterien, die dem proklamierten Anspruch auf inhaltliche Qualität und Quellensicherheit wie auch einer demokratischen Kontrolle Hohn sprechen.


Darf's ein bißchen neoliberal sein?

Angesichts des positiven Bezugs auf Selbstverantwortung, das ideologische Kernstück des Neoliberalismus, bringt der Autor Thomas Wagner sein "Entsetzen" zum Ausdruck. Er sehe in "Kollaboration" ein durch und durch neoliberales Buch, wobei er diese Einschätzung anhand ausgewählter Zitate begründet. Zum Konzept von Subjektivität heiße es dort (S. 159): "Wir brauchen keine Pädagogik der Befreiung mehr. Die Individuen müssen befähigt werden, sich quasi eine eigene Verfassung zu geben, um sich zu entlasten, einen kleinen Kosmos zu gründen, der ihnen Sicherheit bei ihren Entscheidungen und Handlungen gibt." Das sei eine sehr isolierte, auf sich selbst bezogene, entsolidarisierte Beschreibung dessen, was Individualität sein könnte. Sein zweiter Einwand beziehe sich auf die Rolle, die Terkessidis der öffentlichen Hand in der Finanzierung des Gemeinwesens zuspreche (S. 250): "Die öffentliche Hand wird diese Wissenszentren ohnehin nicht mehr finanzieren können. Sie benötigen private Zuflüsse und kommerzielle Angebote, was auch in den meisten europäischen Ländern längst der Fall ist. Unternehmen, die sich als Stifter oder Spender betätigen, sind innovativen Konzepten gegenüber möglicherweise aufgeschlossener. Auch Kommerz muß in der Entwicklung von Kunst nicht etwas Schlechtes sein." Das erinnere ihn an die Diskussion in den 90er Jahren, als von seiten der Sozialdemokratie forciert auf die private Alimentierung des Öffentlichen gesetzt wurde.

Zum dritten die leidige Bürgerbeteiligung: Er habe seit Jahren Kontakte zu Menschen quer durch die Republik, die vor Ort Erfahrungen mit der Einbindung in Bürgerbeteiligungsverfahren gemacht haben. Diese Einbindung erfolge auf Grundlage von Theorien, die sich stellenweise so lesen wie "Kollaboration" und sich auch ähnlich nennen wie z.B. "kollaborative Demokratie". Auch dort werde Stuttgart 21 als Beispiel dessen angeführt, was passiert, wenn man die Bürgerinnen und Bürger nicht frühzeitig einbindet, so daß sie keine Protestform entwickeln, die gefährlich werden kann. Gegen die Politisierung der Stadtbevölkerung richte sich die Beteiligungsindustrie, die unter dem Ticket "kollaborative Demokratie" oder "strategische Dialoge" firmiere. Diese drei Kritikpunkte machten dieses Buch zur neuesten Variante einer Form von neoliberaler Theorie.

In seiner Erwiderung räumt Mark Terkessidis zwar ein, daß die Bürgerbeteiligung tatsächlich teilweise dazu führe, Protest zu verhindern. Er wolle sie jedoch nicht in Bausch und Bogen ablehnen, da er ein Interesse an Reformen habe und daher aufnehme, was es diesbezüglich an Positivem gebe. Dann setze er einen Begriff ein, der die Entscheidung tatsächlich nach unten verlagere, und versuche so, derartige Ansätze im Sinne radikaler Demokratie zu vertiefen. Da der Neoliberalismus nun einmal vorherrsche, nehme er eine gewisse neoliberale Energie mit und fordere für das Individuum genau die Zugänge ein, die ihm nicht gewährt werden.

Das war beileibe nicht die einzige Aussage, mit der Terkessidis den Neoliberalismus nicht gänzlich verwirft, sondern ihm gewisse begrüßenswerte Ansätze bei der Zerschlagung traditioneller Institutionen zuschreibt: Er berge einige Aspekte, die man in bezug auf das Individuum durchaus mitnehmen könne. Nach 25 Jahren neoliberaler Predigt, man müsse eigenverantwortlich handeln, seien die Bürgerinnen und Bürger tatsächlich immer eigenverantwortlicher geworden, doch das Versprechen, man bekomme im Gegenzug etwas dafür, werde nicht eingelöst. Die Regierung setze ihren autoritären Kurs fort, wie sie das bislang getan habe.

Bei Großprojekten glaube die technologische Expertokratie, sie könne den Menschen weiter Vorschriften darüber machen, wie Stadtplanung funktioniere. Aber die eigenverantwortlichen Individuen seien auch eigensinnig geworden und forderten, einbezogen zu werden. Bei der vielzitierten "Partizipation" hätten viele Leute die Erfahrungen gemacht, daß sie lediglich absegnen sollten, was die Verwaltung längst entschieden hatte. Demgegenüber setze Kollaboration nicht nur voraus, daß Entscheidungen vom Zentrum wegverlagert werden, sondern daß auch ein Lernprozeß in den Institutionen stattfindet. Kollaboration schließe nicht zuletzt eine Veränderung aller Beteiligten ein.

Ein anderes Beispiel: In Kreuzberg sei vor einigen Jahren ein Stück vom Landwehrkanal abgerutscht. Die zuständige Bundesbehörde für Wasserwege habe sofort angefangen, die Bäume am Ufer zu roden, um dieses neu einzufassen. Dagegen habe sich Protest von Leuten geregt, die sehr viel über Wasserwege wußten und mit der Behörde in einen Prozeß gegangen seien. Am Ende habe man eine wesentlich billigere und bessere Lösung unter Erhalt der Bäume gefunden.

Mark Terkessidis mangelt es nicht an Beispielen gelungener Bürgerbeteiligung, die belegen, daß betroffene Menschen vor Ort in der Lage sein können, dank ihres Engagements soviel Kompetenz zu entwickeln, daß sie Probleme kostengünstig und dauerhaft lösen - wenn man sie denn läßt und darin unterstützt. Dies aber dem neoliberalen Zwangsregime nicht entschieden entgegenzusetzen, sondern im Gegenteil als mögliches positives Folgeprodukt aus ihm abzuleiten, zeugt nicht nur von einer höchst selektiven Auswahl passender Beispiele. Vielmehr vermißt man in diesem Zusammenhang eine fundierte Einschätzung des Neoliberalismus als Entwurf zur rigorosen Bewältigung der kapitalistischen Verwertungskrise mittels einer tiefgreifenden gesellschaftlichen Umgestaltung. Angesichts des Endes des Sozialstaats mittels Agenda 2010 und Hartz IV, der deutschen Vorherrschaft in Europa, der Kriegsbeteiligung und wachsenden Repression der Regierung lediglich vorzuhalten, sie gebärde sich nach wie vor bürgerfern und autoritär, mutet nicht nur ausgesprochen defensiv an, sondern läßt auf Scheuklappen schließen, die sich der Autor und Referent selbst verordnet hat.


Im Kreis der Disputanten - Foto: © 2016 by Schattenblick

Kollaboration kontrovers
Foto: © 2016 by Schattenblick


Ein Niemandsland zwischen Kapital und Staat?

Wie Terkessidis durchaus eingesteht, gehe es ihm nicht darum, den Kapitalismus abzuschaffen. Er sehe sich mit der eigenen Ohnmacht konfrontiert, da der Kapitalismus weiter walte. Damit müsse er sich auf die eine oder andere Weise arrangieren, weshalb er im Grunde immer auch Kollaborateur im negativen Sinne sei. Andererseits wahre die Linke oftmals Distanz und kritisiere die Gesellschaft von außen, wobei sie sich radikal gebe, aber die Dinge im Nahbereich einfach weiterlaufen lasse. Sein Vorschlag sei hingegen nicht eine gesellschaftliche Utopie, sondern ein ethisches Leitprinzip, das er bei der Gesellschaftsveränderung einsetze.

Wo wäre Kollaboration angesiedelt? Es gehe um einen Zwischenbereich, wie ihn Michel Foucault hinsichtlich der Disziplin zwischen dem Souverän und dem Volk ansiedelt. Dort zielten Institutionen darauf ab, die Individuen mit körperlicher Dressur in Schule und Fabrik zu einem bestimmten Verhalten zu verpflichten. Kollaboration könnte in all diesen Institutionen an die Stelle der Disziplin treten, wie man das in besseren Schulen vorfinde, in denen kollaborative Prinzipien das Disziplinarsystem abgelöst hätten. Dabei plädiere er keineswegs für einen Rückzug des Staates, sondern für eine vergesellschaftete Bildungspolitik.

Zwar sei Kapitalismuskritik notwendig, doch gelte es vor allem, das Feld auf Selbstorganisation hin zu vermessen. Dabei entfalte sich ein komplexes Bild der Kämpfe, das nicht mehr auf einen revolutionären Prozeß der Arbeiterklasse hinauslaufe. Die vielfältigen Proteste engagierten sich vielmehr auf kleineren Feldern wie beispielsweise der Stadtplanung oder Bildungspolitik. Das Ziel der Kapitalismuskritik im marxistischen Sinne sei die Vergesellschaftung von Produktionsmitteln, die man nicht noch einmal mit Verstaatlichung verwechseln dürfe. Doch was bedeute Vergesellschaftung dann, wie gestaltet man sie?

Mark Terkessidis wirft diese Frage wie ein pseudolinkes Feigenblatt auf, ohne ihr weiter nachzugehen, denn wie er betont, setze er nicht bei Kapitalismuskritik, sondern eine Ebene darunter an. Im übrigen sei er kein Antietatist, denn wenn wir alle der Staat seien, gehöre uns dessen Eigentum, zieht er sich auf ein schon von der bloßen Alltagserfahrung widerlegtes bürgerliches Staatsverständnis zurück. Er selbst sei ein linker Demokrat und strebe mehr Gerechtigkeit, Gleichheit und demokratische Verfahren an. Dazu brauche man Räume, um etwas auszuprobieren und Erfahrungen zu machen. Allerdings müßten sich die Institutionen auch als reformfähig erweisen, zumal der institutionelle Wandel von oben einer veränderten Regierung bedürfe, proklamiert Terkessidis letztlich ein Modell vertiefter Bürgerbeteiligung, dem auf parlamentarischer Ebene der Weg geebnet werden müsse.


Schnurstracks in die Selbstausbeutung?

Wie der Sozialwissenschaftler David Salomon zu bedenken gab, bevorzuge er einen Konfliktbegriff von Demokratie unter bestehender Klassenherrschaft als Kampf um Gleichheit. Demgegenüber habe die Partnerschaftspädagogik in Deutschland eine sehr ambivalente Geschichte. In den 50er Jahren habe sie ein Maximum von Hitlerjugendkameradschaft in den Sozialpartnerschaftsdiskurs der Bundesrepublik gerettet, der die Volksgemeinschaft beerbte. Später habe das neoliberale Moment Begriffe wie Service Learning hinzugefügt, bei denen es gerade nicht um Selbstermächtigung von unten gehe, sondern daß Schülerinnen und Schüler einen demokratischen Habitus ausbilden, indem sie ein Praktikum im Altersheim machen. Als weitere Säule der sozialen Politik komme längst das ehrenamtliche Engagement hinzu. Wie wolle man den Kollaborationsbegriff vor einer solchen Vereinnahmung schützen?

Der Sozialwissenschaftler und Autor Raul Zelik vertrat die Auffassung, daß man Praktiken der Kollaboration aus einer parteiischen Perspektive angehen und in politische Prozesse einbetten müsse. Aufgrund seiner mehrjährigen Arbeit zum Thema Almende könne er sagen, daß die These, digitale Commons hätten die Almende gestärkt, völliger Blödsinn sei. Die alten Almendepraktiken seien in der Regel viel stabiler und gesellschaftlich wirkungsmächtiger als die digitalen Prozesse. So existierten Almendeprozesse in Europa, an denen Zehntausende beteiligt sind, wie zum Beispiel die Wasserversorgung im Ebro-Becken. Innerhalb Spaniens hätten sehr unterschiedliche Selbstorganisationspraktiken Bestand wie zum Beispiel im Baskenland, wo es für nahezu alle Belange Nachbarschafts- und Kulturvereine gebe, die im übrigen Spanien durch den Postfrancismus zumeist zerschlagen worden seien.

Bemerkenswert an den großen Platzbesetzungen in Spanien sei gewesen, daß wie aus dem Nichts heraus eine Kooperation zwischen Unbekannten entstand. Es habe sich weniger um eine Bewegung, als vielmehr ein soziales Klima gehandelt, in dem kooperative Praktiken wieder möglich waren. Alle seien einander zunächst gleich, anonym und ohne Codes begegnet, so daß sie sich als singulärer Bestandteil der Vielheit erfahren konnten. Das sei jedoch stets eine politische Konstruktionsleistung und Errungenschaft und gehe nicht aus technologischen oder anderen Veränderungsprozessen zwangsläufig hervor. Deswegen müßte es Teil der strategischen Debatte sein, diese Dinge zu stärken, aber keinesfalls die gesamtgesellschaftliche, staatlich vermittelte Verantwortung dadurch zurückzufahren, also keine Selbstorganisierung der Armut herbeizuführen.

Er halte die Debatte um Verstaatlichung für wichtig, wenn es um Gesellschaftsalternativen gehe, die man als Demokratisierungsprojekt begreife. Die Vergesellschaftsversuche des 20. Jahrhunderts hätten zwar das Privateigentum formal überführt, aber nicht eine reale Demokratisierung herbeigeführt. Man brauche Kooperationspraktiken, weil das Konkrete utopische Momente enthalte, die über das Bestehende hinwegweisen können. Dabei müsse man jedoch die Frage des Staates mitdiskutieren, weil andernfalls die Flanke des Aufstiegs neuer Eliten völlig offen wäre.

Dem schloß sich der Schriftsteller Michael Wildenhain mit der Aussage an, es sei eine Nagelprobe für solche Kollaborationen, daß sie aus einem Konflikt heraus entwickelt und gegen die Autorität durchgesetzt würden. Engagements in den Zwischenräumen gebe es überall, doch könne er nichts Fortschrittliches darin erkennen, wenn Eltern wie in Kreuzberg ständig selber die Klassenräume renovieren. Im Bereich der Subkultur ziele das Engagement leider häufig darauf ab, selber Eingang in die Institutionen zu finden und sich einen Arbeitsplatz zu schaffen, wogegen auch nichts einzuwenden sei. Aber das kollaborative Prinzip werde konterkariert, solange man auf etwas ziele, das schon längst da sei und nur einem selbst keinen Platz lasse.

Als Leiter der Sektion hob Ingar Solty den konzeptionellen Widerspruch hervor, das große Ganze für unveränderbar zu erklären, aber Reformen im Sinne einer Füllung der Zwischenräume zu postulieren. Sei der Staat nicht offen für die erforderlichen institutionellen Veränderungen, mache man sich mit einem solchen Kollaborationskonzept zum willfährigen Unterstützer des Neoliberalismus und bestärke das System. Der Dramaturg Bernd Stegemann habe in seinem Vortrag zutreffend gesagt: Die Verwirklichung der Kulturkritik führe, solange sie die Eigentumsfrage nicht beantworte, zur Selbstausbeutung. Der Staat könne an der schwarzen Null festhalten, weil so viele Leute unbezahlte Arbeit leisteten. Mark Terkessidis richte den Blick eher auf die Institutionen als auf die sozialen Bewegungen, die allein in der Lage wären, den erforderlichen Druck auszuüben, um eine Veränderung herbeizuführen.


Blick auf die Diskussionsrunde von oben - Foto: © 2016 by Schattenblick

Abgehoben, nicht entrückt
Foto: © 2016 by Schattenblick


Fußnote:

[1] Mark Terkessidis: "Kollaboration". Suhrkamp Verlag, Berlin 2015, 332 Seiten, 18 Euro, ISBN: 978-3-518-12686-8


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25. Juni 2016


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