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BERICHT/048: Matthias Politycki-Lesung - gedichtet, geschrieben, erzählt ... (SB)


Dies irre Geglitzer in deinem Blick

Matthias Politycki liest neue Gedichte

im Hamburger Ledigenheim Rehhoffstraße am 13. Juni 2016

Gedichte wie Brühwürfel

Das Haus hat zweifellos bessere Tage gesehen. Farbe blättert von den Wänden, an der Decke bröckelt der Putz, darin Spurrillen, die darauf verweisen, daß hier jemand offensichtlich alte Leitungen entfernt hat, ohne neue zu verlegen. Das Ledigenheim in Hamburgs Neustadt, einen kurzen Blick vom Michel entfernt und nur ein paar Schritte bis zu den Landungsbrücken am Hafen, kämpft um seine Existenz.


links: Blick auf das Straßenschild Rehhoffstraße mit Hamburger Michel im Hintergrund - rechts: Vorderfront Ledigenheim - Foto: © 2016 by Schattenblick links: Blick auf das Straßenschild Rehhoffstraße mit Hamburger Michel im Hintergrund - rechts: Vorderfront Ledigenheim - Foto: © 2016 by Schattenblick

Einen kurzen Blick vom Hamburger Michel entfernt: Das Ledigenheim in der Rehhoffstraße
Fotos: © 2016 by Schattenblick

1912 als architektonisch eigenständiges Quartier im Dreieck zwischen Herrengraben, Rehhoffstraße und Pasmannstraße aus rotem Backstein erbaut, bot es einmal 112 Hafenarbeitern, Matrosen und sonst wohnungslosen Männern eine Unterkunft, die sich bis dahin als Schlafgänger ein Bett in einer der umliegenden Arbeiterwohnungen mieten mußten, für ein paar Stunden bis zur nächsten Schicht. Das Haus stand allen Nationalitäten, Berufsgruppen und Konfessionen zur Verfügung, die acht Quadratmeter großen Einzelzimmer, obwohl als temporäre Bleibe ausgerichtet, konnten auch dauerhaft angemietet werden. Mit großzügig angelegten Gemeinschaftsräumen, einem Speise- und Lesesaal, in dem auch Veranstaltungen stattfanden, einem kleinen Laden und einem Verwalter und Pförtner entstand im Herzen der Stadt ein milieuübergreifendes Mehrgenerationenhaus, das Alleinstehenden und Durchreisenden bezahlbaren Wohnraum und ein behütetes Zuhause in familienähnlichen Strukturen ermöglichte und in seiner Offenheit nicht nur für die Verhältnisse zu Anfang des 20. Jahrhunderts ungewöhnlich war, sondern auch heute noch oder wieder wegweisend sein könnte. "Die Kombination von funktionalen Einzelzimmern, großzügigen Gemeinschaftsräumen und sozialen Einrichtungen und Diensten war ein zukunftsweisender Ansatz und kann auch die heutige Diskussion um Wohn- und Lebensformen und die Organisation unserer sich wandelnden Gesellschaft bereichern", heißt es auf der auch unter stadtgeschichtlichen Gesichtspunkten sehr lesenswerten Website www.rehhofstrasse.de.


Blick in ein kleines Zimmer mit Bett, Schrank, Tisch, Stuhl und Sessel - Foto: © 2016 by Schattenblick

Ein Hauch von Zuhause - Zimmer des Ledigenheimes mit der urspünglichen Grundausstattung.
Foto aus dem Katalog 'Das Ledigenheim erhalten!'
Foto: © 2016 by Schattenblick

Im Laufe der letzten 30 Jahre wurde das Gesamtgebäude allerdings - wie so viele in innenstadtnahen Vierteln - Gegenstand von Finanzspekulationen. Notwendige Instandhaltungsarbeiten wurden nicht mehr vorgenommen, die Gemeinschaftsräume vom Wohnbereich abgetrennt und extern vermietet und die sozialen Dienstleistungen fast gänzlich abgeschafft. Die momentan ca. 80 Bewohner, viele ehemalige Seemänner, Hafenarbeiter und Monteure, wurden einer Reihe von willkürlichen Entscheidungen ausgesetzt, die überwiegend älteren Männer sahen sich mit einer ihnen fremden und bedrohlichen Situation konfrontiert.


links: Blick in den renovierungsbedürftigen ehemaligen Gemeinschaftsraum - rechts: Schiffsmodell Dreimastschoner vor gammeliger Innenwand - Foto: © 2016 by Schattenblick links: Blick in den renovierungsbedürftigen ehemaligen Gemeinschaftsraum - rechts: Schiffsmodell Dreimastschoner vor gammeliger Innenwand - Foto: © 2016 by Schattenblick

Hilfsbedürftiger Heimathafen
Fotos: © 2016 by Schattenblick

Die Pläne eines dänischen Investors, der das Gebäude vor sieben Jahren kaufte, um dort Eigentumswohnungen einzurichten, scheiterten allerdings am Veto des Bezirks Hamburg-Mitte.

2013, inspiriert durch die Not der Bewohner des Ledigenheims, begründeten die Mitglieder der in der Nachbarschaft ansässigen sozialen Initiative »Ros e.V.« unter der Leitung von Antje Block und Jade Jacobs eine Kampagne zur Unterstützung der Menschen im Kampf um ihren "Wohn- und Würderaum" und zur Wiederherstellung des Gebäudes. "Dabei entdeckten wir eine über Jahrzehnte gewachsene, sensible Hausgemeinschaft und interessante Charaktere mit faszinierenden Biografien." [1] Als zukünftige Eigentümerin, so der Plan, will die gemeinnützige Stiftung Ros am weiteren Vorgehen zum Erhalt des Ledigenheims in Anlehnung an das ursprüngliche Konzept arbeiten. Dazu ist erst einmal eine Menge Geld für den Erwerb nötig.


Beim Gespräch mit dem Schattenblick - Foto: © 2016 by Schattenblick

Friedrich Block
Foto: © 2016 by Schattenblick

Friedrich Block, der Vater der Stiftungsgründerin, unterstützt das Projekt seit 2014 mit der Organisation von Benefiz-Abenden namhafter Künstler, die ohne Gage und bei freiem Eintritt im ehemaligen Gemeinschaftsraum des Ledigenheims lesen. Dabei füllt so ein Abend weniger die zahlreich umherstehenden Spendentöpfe, die zur Unterstützung einladen, sagt Block, als er zur Publizität des Projektes beiträgt. Ob denn auch die Bewohner manchmal zu den Lesungen kämen, möchte der Schattenblick wissen. "Äußerst selten", sagt der ehemalige Deutsch- und Gemeinschaftskundelehrer, das sei eine ganz andere Kultur. 20 Lesungen sind es bis heute gewesen, darunter Namen wie Frank Schulz, Tina Uebel, Doris Gercke, Luc Jochimsen, Rolf Becker, Michael Jürgs, Hannelore Hoger, Regula Venske und viele mehr.

Am Abend des 13. Juni war die Reihe an Matthias Politycki. Er kam, ganz sportlich, mit dem Rad. Was niemanden wunderte, kennt man ihn doch als Läufer im Marathon, über den er einen autobiographischen Essay "42,195 - Warum wir Marathon laufen und was wir dabei denken" veröffentlicht hat. Für ihn lag die Lesung im Ledigenheim sozusagen auf der Strecke, denn er ist sowieso gerade auf Reisen mit seinem jüngsten, 2015 erschienenen Lyrikband "Dies irre Geglitzer in deinem Blick". "Ein ganzes Panoptikum an lyrischem Personal feiert sein Weltgericht in freien und gebundenen Versen, in Sonetten, Liedern oder Haikus. Sie erzählen vom 'Böhmischen Wind', vom 'Trost der Dinge' und vom 'Soundtrack des Frühlings'", teilt der Verlag zum 111 Gedichte umfassenden Werk mit.

Polityckis Gedichte verarbeiten, teils akribisch gesetzt, teils umgangsprachlich formuliert, Alltäglichkeiten, Kneipenrealitäten hier und anderswo, Reiseerlebnisse, Jahreszeiten, Schuhschränke, Telefonnummern ..., vor allem aber Beziehungen, vorwiegend die zwischen Mann und Frau und die Lust und das Leiden daran. Anekdotische Versuche, etwas zum Ausdruck zu bringen, das im allgemeinen ohnehin zur Rede steht; weniger Entdeckungen von nie so Gehörtem, nie so Gesehenem, bestenfalls Erahntem, sondern eher ein sich Wieder(ein)finden im Bekannten. Aber fast immer mit etwas Melancholie, einem Gedanken, der nachhängt, einer Traurigkeit ob des Scheiterns, der Jämmerlichkeit oder vielleicht gerade ob dieser Nichtigkeit.

Lohnt es sich, darüber Gedichte zu schreiben? Lektüre, sagt der Leipziger Lyriker und Kritiker Jan Kuhlbrodt, habe nur dann einen Sinn, "wenn ich mich durch die Lektüre verändere." [2]


Während der Lesung mit Mikrophon - Foto: © 2016 by Schattenblick

Matthias Politycki
Foto: © 2016 by Schattenblick

Was ist für den Schreibenden selbst ein gutes Gedicht, wollte der Schattenblick in einem kurzen Pausengespräch vom Autor wissen: "Ein gutes Gedicht ist für mich eines, dem eine Kommunikation zwischen Autor und Leser über Zeiten und Räume hinweg gelingt. Das kann nicht jedem Gedicht eines Autors mit demselben Leser gelingen, aber immer mal wieder. Das heißt, darin müssen Erfahrungen verarbeitet sein. Reine Artistik ist für mich mittlerweile uninteressant. Vor Jahrzehnten habe ich die entgegengesetzte Haltung vertreten, ich komme ja von der experimentellen Literatur, aber ich habe mich davon im Laufe des Älterwerdens sehr gerne immer weiter weg bewegt." Um sich selbst kreisende Sprachgebilde, sagt Politycki, seien bestenfalls für Insider-Leser nachvollziehbar, Verständlichkeit ein viel schwierigerer Weg in jeder Art von Literatur. Die Aufgabe beim Schreiben bestehe darin, die Komplexität eines Gedankengangs in der Tiefe zu verbergen, so daß der Leser dann zwischen den Zeilen Anspielungen entdecken könne.

[...] wartete nicht darauf, daß sich
von der gegenüberliegenden Straßenseite
eine Frau hüftschwingend in Bewegung setzte,
keinesfalls eilig, oh nein,
obwohl die Fußgängerampel
ja auch für sie rot leuchtete und
auf sämtlichen Spuren der Altonaer Straße
die Autos Schlange fuhren.

Doch siehe, es geschah, daß jedermann anhielt
und kein einziger lästerte ihrer und hupte,
als sie durch den Verkehr wandelte wie durchs Rote Meer,
das sich bereits beim ersten Schritt
für sie geteilt. [...]
[3]

Vier Sorten Schmerz heißt der erste von 11 Zyklen des neuen Bandes, den der Autor an diesem Abend vollständig zu Gehör bringt und der sich mit der Liebe in ihren vielfältigen und eben schmerzhaften Erscheinungsformen befaßt: der gelebten mit all ihren Abschieden, Sehnsüchten, unüberbrückbaren Distanzen, der unerreichbar vorüberziehenden, die bestenfalls ein Traum bleibt, seltene Augenblicke des Aufbruchs und Neubeginns, verpaßte Momente, Enttäuschungen, Erinnerungen.

Es folgen Gedichte aus den "Mühen der Ebene", so der Name eines weiteren Zyklus, über den Alltag in einer Kleinstadt oder Erfahrungen beim Erwachsenwerden:

"Zum ersten Mal aus der Flasche trinken
(ohne daß es nach Milch schmeckt) ...
Zu ersten Mal ein Bier aus der Flasche trinken
(ohne daß man sich deswegen für besonders cool hält) ...
Zum ersten Mal ein Bier in einem einzigen Zug aus der Flasche trinken
(ohne daß man sich danach als Held feiern lassen müßte),
und dann die Flasche absetzen,
den Blick ins Leere richten und ..." [...]
[4]

Auch vom Tod und dessen Vorgeschmack im Leben liest Politycki und übers Älterwerden, ein Thema, dem der Autor sich auch schon in Romanen und diversen Essays gewidmet hat. Politische Gedichte schreibe er nicht, sagt er, solche Themen seien eher seinen Essays vorbehalten. Jedes Gedicht entspreche mindestens einer Szene in einem Roman, wenn nicht einem ganzen Roman. Es sei wie ein hochkonzentrierter Brühwürfel, der sich erst durch Zugabe von heißem Wasser zur Suppe entfalte: Erst durch Lesen, Bedenken, Wiederlesen entfalte sich das Gedicht im Kopf des Lesers. "So, glaube ich, daß Gedichte funktionieren."

Politycki gilt als Weltreisender unter den deutschen Autoren. Aus Japan, wo er eine Zeit als 'writer in residence' verbracht hat, bringt er aphorismenähnliche "Denksprüche eines Zenmeisters" mit - "Bleib sitzen und schau. Das meiste versäumst du sowieso." [5] - und Haikus, die traditionelle Gedichtform der Japaner, in der in 5 bis 7 Silben alles gesagt sein muß, was es in einem solchen Gedicht zu sagen gibt. Diesen und anderen Impressionen von seiner Reise nach Fernost widmet er einen eigenen Zyklus "Asahi-Blues". Überhaupt legt Politycki großen Wert auf die Kenntnis literarischer Formen. Jeder Lyriker, meint er, solle sein Handwerkszeug beherrschen. Wer nicht die traditionellen Formen auch wirklich immer wieder übe und sich weiter darin schule, sei in den freien Rhythmen wahrscheinlich auch eher frei als rhythmisch.

Daß er sich während der Lesung immer mal für seine Gedichte entschuldigt, für deren Deftigkeit oder zu großen Ernst, bleibt unverständlich, will man es nicht als Koketterie werten, die nicht nötig wäre. War man denn nicht gekommen, gerade auch so etwas zu hören - oder soll's immer nur lustig sein? Das gab es an diesem Abend auch, zum Beispiel mit Rudi Schachtelmacher, einem von Polityckis Rollenspielern, der eine Hymne auf die Rülpser seines unbekannten Nachbarn (aus dem Gedichtband "Die Sekunden danach") zum Besten gibt, oder beim Gedicht über den Vogelkönig.

Politycki schreibt, so erzählt er während der Lesung, seine Gedichte nicht allein, holt sich Anregungen von Freunden, seiner Frau, seinem Lektor oder Verleger. "Also ohne Team geht's auch beim Schreiben nicht, und manchmal such' ich mir mein Team, indem ich bei Freunden anfange und bei Wildfremden weitermache, oft im Café oder in der Kneipe, und ihnen allen die immergleiche Frage stelle. Ihre Antworten sammle ich, füge sie in eine gewisse Abfolge und bearbeite sie allenfalls stilistisch da oder dort, auch so entstehen Gedichte." Dabei müsse er manchmal zwei Gedichte machen, "weil Männer und Frauen so unterschiedlich antworten." Deshalb haben manche seiner Werke ein ♀ oder ♂ im Titel. Bisweilen beschäftige ihn ein Thema auch länger und mehr, als in ein einzelnes Gedicht paßt und kehre dann in späteren Gedichten wieder.

Setzt er für seinen ganz persönlichen Zugewinn beim Schreiben eher auf Erfolg oder auf Mißerfolg? "Weder noch, beides passiert, wenn man es am wenigsten erwartet hat, es wäre müßig, beim Schreiben darüber zu spekulieren. Ich wähle meine Stoffe nicht und auch nicht meine spezielle Art von Getriebenheit für ein Projekt, sondern die Stoffe wählen mich und ich beuge mich ihrem Druck. Dort, wo der Druck am größten ist, beginne ich mit dem Abarbeiten. Da stellt sich die Frage gar nicht, ob ich auf dieses oder jenes setze, sondern ich will den Stoff schlichtweg loswerden."


Eingang zum Ledigenheim mit Lesungsplakat - Foto: © 2016 by Schattenblick

Lyrik hilft Ledigenheim
Foto: © 2016 by Schattenblick


Anmerkungen:


[1] www.rehhofstrasse.de

[2] http://www.deutschlandfunk.de/lyrikdebatte-wie-relevant-ist-lyrikkritik.700.de.html?dram:article_id=352537

[3] aus Hohelied in: Matthias Politycki, Dies irre Geglitzer in deinem Blick, Hamburg 2015, S. 13

[4] aus Erwachsen werden (♂) in: Matthias Politycki, ebd., S.27

[5] aus Fleißig Tee trinken, das Unauffällige tun, den Dingen näher rücken in: Matthias Politycki, ebd., S. 71


27. Juni 2016


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