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BERICHT/050: Zukunft, Literatur, Gesellschaft - Kunst befreit die Wirklichkeit ... (1) (SB)


Realismus zwischen Affirmation und Kritik

Tagung im Literaturforum im Brecht-Haus in Berlin Mitte


Mehr "Realismus" in Kunst und Literatur zu verlangen erscheint in Zeiten der unhintergehbaren Sachzwänge und des information overkill eher abwegig. Hat der Mensch es nicht Tag für Tag mit einer Wirklichkeit zu tun, die ihm alles abverlangt und deren Signaturen immer tiefere Spuren in Psyche und Physis hinterlassen? Wird, wie auf der zweiten Schriftstellertagung "Richtige Literatur im Falschen?" über "Chancen des Realismus" debattiert, dann ist von vornherein nicht damit gemeint, einer bloßen Abbildung der ohnehin nicht selten als über- bis ohnmächtig erlebten Realität das Wort zu reden. Eine realitätsgetreue, gerne auch als "naturalistisch" bezeichnete Widerspiegelung machte auch deshalb wenig Sinn, weil sich sofort die Frage aufdrängt, wieso das offen zutage Liegende auch noch kognitiv verdoppelt werden sollte. Wo Sinne und Nerven, Muskeln und Sehnen bis aufs äußerste von den Forderungen sozialer und gesellschaftlicher Wirklichkeit angespannt werden, drängt sich eher der Wunsch nach Entlastung von dem Zwang, allem und jedem reaktiv entsprechen zu müssen, auf.


In der Diskussion auf der Schriftstellertagung - Foto: © 2016 by Schattenblick

Bernd Stegemann (Bildmitte)
Foto: © 2016 by Schattenblick

Vorgeschlagen wurde daher, mit dem Dramaturgen, Theaterwissenschaftler und Kulturtheoretiker Bernd Stegemann über einen Realismus zu diskutieren, der "die soziale Abhängigkeit seiner Figuren, aber auch ihre Kämpfe gegen diese Abhängigkeiten dokumentiert" [1], um schließlich nach der gesellschaftlichen Wirksamkeit eines solchen, in seinen formalen und stilistischen Kriterien näher bestimmten Realismus zu fragen. Im Titel von Stegemanns 2015 vorgelegter Schrift "Lob des Realismus" klingt nicht von ungefähr die Erinnerung an das Lied "Lob des Kommunismus" an, in dem Bert Brecht für dessen Verwirklichung mit den Worten "Er ist vernünftig, jeder versteht ihn. Er ist leicht." warb. Doch "Er ist das Einfache, das schwer zu machen ist.", enden die Strophen der von Hanns Eisler vertonten Hymne mit einem Musterbeispiel für angewandten dialektischen Realismus. So sehr die Kinderfrage, warum sich die Menschen gegenseitig erniedrigen, berauben, umbringen, den Widersinn des nicht enden wollenden Massakers auf den Punkt bringt, so schwer tun sich Erwachsene mit einer Antwort, die der von ihnen beanspruchten Vernunft anders genügte, als ihr das Fundament unumstößlicher Gewißheiten unter den Füßen wegzuziehen.

Stegemann ist weit entfernt davon, einer Hippie-Romantik zu frönen, deren Blütenträume schon in den 1960er Jahren so gründlich als Brennstoff popkultureller Überproduktion absorbiert wurden, daß allein der Begriff der Liebe zu einer konsumistisch kontaminierten Peinlichkeit verkam. Er ist allerdings auch nicht bereit, der postmodernen Konsequenz, sich jeder folgenschweren Stellungnahme, die den Menschen in gesellschaftlichen Kämpfen streitbar positioniert und dementsprechend angreifbar macht, den Zuschlag einer Kontingenz zu geben, deren programmatische Wechselbarkeit sich wie eine zweite Haut an die nur dem bourgeoisen Schein nach abstrakten Tauschwertverhältnisse anschmiegt. So grausam materielle Eigentumsverhältnisse über die Abgründe von Sein und Nichtsein befinden, so leicht und locker gibt sich das angestrengte Bemühen, der Unumkehrbarkeit sozialen Niedergangs mit distinguierter Eleganz auf bewundernswerte Weise zu entkommen.

Das Gesicht des Elends ist niemals in konventionellem Sinne schön, und der strahlende Heros radikaler Freiheitskämpfer wird von den Schattenwürfen zweckdienlicher Kompromisse verdunkelt. Was im commercial realism Hollywoods auf den ersten Blick den Anschein veritabler Widerständigkeit erwecken kann, erweist sich bei genauerem Hinsehen als kulturindustriell ausformulierte Vereinnahmungstrategie, die ein auch noch so empörtes und empathisches Aufbegehren in jenes Verwertungsinteresse einspeist, gegen das es sich originär richtet. Zweifellos gibt es Beispiele für avancierte postmoderne Produktionen in Literatur und Theater, die sich mit dem Problem einer affirmativen Ästhetik auseinandersetzen. Doch der negative Gegenentwurf des betont Häßlichen, Destruktiven und Disparaten bleibt zumindest solange in seiner diametralen Austauschbarkeit verhaftet, als seine Autorinnen und Autoren nicht die eigene Affinität zu einem kapitalistischen Kulturbetrieb aufs Korn nehmen, um zumindest eine Diskussion über die Möglichkeit zu eröffnen, das Anliegen des Widerstands an die erste Stelle künstlerischer Produktivität zu stellen.

Was an der sichtbaren Oberfläche bleibt, sind Modeprodukte, die mit einer Eleganz des Kaputten und Verbrauchten kokettieren, oder eine zum Surrogat des uneingelösten Mutes zur offenen Konfrontation geronnene Pseudokritik. So läßt etwa die Darstellung exzessiver menschlicher Niedertracht im preisgekrönten Spielfilm "Zeit der Kannibalen" vermuten, damit sei eine inhaltliche Kritik am globalen Kapitalismus gemeint. Die Gleichgültigkeit des Inhalts kann gegenüber der skandalisierten Form jedoch nicht zugunsten seiner kritischen Bestimmung aufgehoben werden, solange sich die menschlichen Realität unternehmerischer Raubzüge in ihrer zynischen Verächtlichkeit selbst genügt. Dies taugt ebensowenig zur handlungsleitenden Kritik am globalen Kapitalismus, wie die hyperrealistische Darstellung der Invasion in der Normandie 1944 in Steven Spielbergs "Der Soldat James Ryan" den Anspruch eines Antikriegsfilms erfüllt, nur weil den Zuschauern die Kugeln förmlich um die Ohren fliegen. Tatsächlich wurde diese cineastische Inszenierung einer historischen Schlacht von den US-Streitkräften dazu benutzt, Soldaten auf ihren Kriegseinsatz im Irak vorzubereiten. Schmerzhaft auf den nichtvorhandenen Punkt ihrer Widerständigkeit gebracht wurden auch rebellisch anmutende Rock- und Hip-Hop-Stücke bei ihrem Einsatz zur akustischen Folterung sogenannter Terrorverdächtiger in Guantanamo.

Stegemann setzt der affirmativen Wirkung einer sich nicht nur in künstlerisch avancierten Produktionen, sondern auch in massenkompatibler Unterhaltungsware dissident bis oppositionell gerierenden Kulturindustrie das eingreifende Denken des kämpferischen Realismus Bertolt Brechts entgegen. Der bekennende Sozialist verwahrte sich gegen ein Theater, dessen Inszenierungen so "undurchschaubar wie das Leben selber" sind, so "daß der Eindruck siegt, es sei eben nur so und nicht anders möglich, der Mensch immerfort als Opfer der Verhältnisse, des Klimas, des Eigentums, der Passion, des Gangs der Dinge". Brecht propagierte hingegen eine realistische Kunst, "welche die Realität gegen die Ideologien führt und realistisches Fühlen, Denken und Handeln ermöglicht."

Gängigen Erklärungen, die Welt sei unbegreifbar und unveränderbar, weil sie sich aufgrund ihres konstruierten Charakters nicht dingfest machen lasse oder ihrer Abbildung durch den unzusammenhängenden und fragmentarischen Charakter ihrer Erscheinungsformen entziehe, stellt Stegemann die schlichte Materialität einer Realität entgegen, die von Konstruktion und Interpretation unabhängig gegeben sei. In der doppelten Negation des am konstruktivistischen Postulat scheiternden Wahrheitsanspruchs des Subjekts wie der durch menschliches Tun hervorgebrachten "Tat-Sachen", die auf nicht hinterfragbare Naturphänomene reduziert werden, bleibt das Interesse an konkreten Interventionen auf der Strecke einer Sachlichkeit, deren zwingender Charakter schlicht dementiert wird.

Wie Stegemanns Ausführungen nahelegen, beschreibt diese auch außerhalb des kulturkritischen Diskurses auszumachende Haltung ein ignorantes bis verächtliches Verhältnis zu Menschen, die in ihrer Ohnmacht kaum noch Bewegungsraum haben, weil sie staatlicher oder irregulärer Repression ausgesetzt, Ausbeutung durch Sklavenarbeit unterworfen oder vom Entzug essentieller Lebensressourcen betroffen sind. Es fußt auf der vermeintlichen Unberührbarkeit eines Beobachters, dessen Sicherheit im Zweifesfall mit aller zu Gebote stehenden Gewalt der privatwirtschaftlichen Rechts- und Eigentumsordnung durchgesetzt wird. Diesen Klassenstandpunkt nehmen nicht nur die Eigentümer der Produktionsmittel und Lebensressourcen ein, er wird vielmehr auch im digitalen oder kognitiven Kapitalismus anhand der Suggestion, alles Leben ließe sich im virtuellen Raum verlustlos simulieren, zu einer Rezeptur symbolischen und delegierten Handelns entwickelt, die die vorauseilende Freiwilligkeit der Unterwerfung nicht besser sicherstellen könnte.

Was Stegemann "eine politische Entscheidung" nennt, "deren Ideologie heute zu den am besten versteckten Geheimnissen der abendländischen Zivilisation gehört", bringt dementsprechend je nach politischer Neigung systemtheoretische, postmoderne oder marktliberale Erklärungsmodelle hervor, deren Eigendynamik keinerlei Handhabe zu ihrer Überwindung mehr bietet. Dieses aus dem erkenntnistheoretischen Prozeß resultierende Arrangement mit den herrschenden Verhältnissen, um nicht gleich von Kapitulation zu sprechen, bringt, so Stegeman, "quasi durch die Hintertür der postmodernen Ideologie eine sehr alte Gewohnheit europäischen Geistes wieder auf die Bühne: das moralische Gefühl". Sollten also die geschilderten Erklärungsmodelle einer haltlosen Relativierung oder grenzenlosen Ausdifferenzierung der als überkomplex erlebten Realität in individueller Moralität enden, dann liegt für Stegemann die Schlußfolgerung nahe, daß die Postmoderne automatisch zu einem permanent moralisierenden Diskurs führt, anstatt zu politischen, ökonomischen oder dialektischen Formen der Auseinandersetzung zu ermutigen.

Demgegenüber einen zeitgenössischen Realismus zu propagieren, ohne sich des Vorwurfs auszusetzen, zu überholten Gestaltungsformen des sozialistischen Realismus zurückkehren zu wollen oder gar einer rechtsoffenen Ästhetik zu frönen, verlangt nach konkreter Bestimmung dessen, was mit diesem Anspruch genau gemeint ist. Stegemann wird dem in seinem Vortrag im Literaturforum des Brecht-Hauses unter anderem durch die kritische Rezeption der Debatten, die auf dem ersten Allunionskongreß der sowjetischen Schriftsteller im August 1934 geführt wurden, wie auch durch Verweis auf Friedrich Engels gerecht. Für diesen bestand die Aufgabe des Realismus in der Wiedergabe des Klassenkampfes in strukturierter Form, wobei jedes Detail nicht als bloß unterhaltsame, aber ansonsten undurchschaubare Folge von Ereignissen, sondern im Zusammenhang konkreter Widersprüche der Gegenwart sichtbar gemacht werden sollte.

Trotz der offenkundigen Mängel des bürgerlichen Realismus waren die sowjetischen Schriftsteller ausführlich mit ihm befaßt, wurde ihm doch eine wichtige Rolle beim Kampf der bürgerlichen Klasse gegen den Adel zuerkannt. Zugleich jedoch wurde festgestellt, daß der kritische Realismus mit dem Aufstieg des Bürgertums zur herrschenden Klasse im Kapitalismus in die Phase der Reaktion eintritt, indem er in der Konvention erstarrt und nur noch als schöner Schein für eine zynische Realpolitik taugt. Dies läßt Stegemann nach der Rolle der Avantgarden in der bürgerlichen Kultur fragen, deren Versuche, den Kapitalismus mit kritischen Mitteln künstlerisch zu reflektieren, auf dem sowjetischen Schriftstellerkongreß ausführlich debattiert wurden.

Das Ringen der Kunst um ästhetische Formen und Methoden gegen die kapitalistische Realität sei aufgrund der einseitigen Betonung der formalen Mittel und der Abwertung der inhaltlichen Seite häufig in die Sackgassen des Formalismus und der Dekadenz geraten, so Stegemann. Auf die Vertreter des neuen sozialistischen Realismus wirkten die formalen Experimente der Avantgarde wie ein Rückzug aus der Realität, hätten sie doch durch die Überbetonung der Formfrage den paradoxen Versuch gestartet, im Inneren der bürgerlichen Seele eine Revolution anzuzetteln, die von den realen Produktions- und Eigentumsverhältnissen widerlegt wurde.

Insofern sei man schon 1934 zu der Auffassung gelangt, daß die künstlerischen Versuche, sich mit Formfragen zu beschäftigen, ohne die Frage des Klassenbewußtseins zu stellen, lediglich formale Spielereien hervorbrachte, die trotz ihres für die bürgerliche Kunst provokanten Charakters affirmativ zur kapitalistischen Gesellschaft blieben. Die avantgardistische Kunst vertrete gerade in ihren gelungensten Experimenten zwangsläufig die Klasseninteressen der Besitzenden, spitzt Stegemann zu. Für ihn tritt an die Stelle der Aufklärung, die zu einem revolutionären Denken führt, die Verschleierung der Interessen durch komplexe ästhetische Ereignisse, und die Emanzipation schlägt um in die Feier eines unternehmerischen Egoismus, der in seinem verfeinerten Kognitionsvermögen zu sich selbst kommt.

Wenn also die Provokation des individuellen Geschmacks die stärkste Bestätigung des Systems ist, das eine solche Provokation erlaubt, dann hat die große Toleranz des bürgerlichen Kunstmarktes nichts zur Folge, was über Kauf und Verkauf der dort verhandelten Kunst hinausgeht. Das gilt, wie zu ergänzen wäre, auch für die informationstechnisch auf höchstem Niveau allgegenwärtiger Verfügbarkeit medialisierte Öffentlichkeit westlicher Metropolengesellschaften. So folgenlos fast alles, was dort mit großem Aplomb enthüllt, skandalisiert und kritisiert wird, im Sande schnellen Vergessens zerläuft, so sehr drängt sich die Frage nach einer politischen Handlungsfähigkeit auf, die nicht mehr gegen sich selbst gekehrt werden kann, um in der Endlosigkeit des gesellschaftlichen Wind- und Wellenschlages auf eine Weise zu vergehen, als hätte es sie nie gegeben.

(wird fortgesetzt)


Fußnote:

[1] http://lfbrecht.de/event/literatur-gesellschaft-zukunft-tag-1/


Berichte und Interviews zur Tagung "Richtige Literatur im Falschen?" im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → DIE BRILLE → REPORT:

BERICHT/044: Zukunft, Literatur, Gesellschaft - Lesen, schreiben, stören ... (SB)
BERICHT/045: Zukunft, Literatur, Gesellschaft - vom Mut nicht nur zu träumen ... (SB)
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8. Juli 2016


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