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BERICHT/077: Linke Buchtage Berlin - Arbeitskämpfe bodenlos ... (SB)



Den Deutschen ist es egal. Wir müssen selber kämpfen!
Leiharbeiter im Streik bei LAW-Volkswagen in Changchun [1]

Wenngleich die erbitterten ideologischen Grabenkämpfe zwischen den verschiedenen Fraktionen der deutschen Linken ebenso wie deren Einfluß auf gesellschaftliche Entwicklungen zumeist der Vergangenheit angehören, scheiden sich an einer Einschätzung der gesellschaftlichen Verhältnisse in China noch immer die Geister. Handelte es sich um einen sozialistischen Staat oder war der maoistische Ansatz, den Sozialismus in einem Land zu entwickeln, von vornherein ein stalinistischer Irrweg, wie überzeugte Trotzkisten argumentieren würden? Herrschte vordem ein Sozialismus, dessen Spuren noch immer so bedeutsam sind, daß sich China signifikant von westlichen kapitalistischen Staaten unterscheidet? Oder wurden Errungenschaften des Maoismus durch die Reformen zu Grabe getragen, so daß man verschiedene Phasen der Entwicklung klar gegeneinander abgrenzen kann? Ist das chinesische Modell der Gegenwart am Ende eine Herrschaftsform mit Strukturen der Ausbeutung und Verfügung, wie man sie gleichermaßen in anderen Weltregionen findet?

Sollen diesbezügliche Überlegungen keine akademische Diskussion bleiben und nicht abermals in fruchtlosem Wahrheitsstreit versanden, führt kein Weg daran vorbei, die Stimme der Arbeiterinnen und Arbeiter in den chinesischen Produktionsstätten zu hören. Wer könnte besser über die Arbeitsbedingungen und Lebensverhältnisse Aufschluß geben, als jene Menschen, die dem dortigen Fabriksystem unterworfen sind und dagegen Widerstand leisten, denn daß an Arbeitskämpfen in China kein Mangel herrscht, dürfte hinlänglich bekannt sein. Internationale Solidarität ist kein elitäres Schachspiel, das sich im Diskurs über Bündnisse und Fehden staatlicher Akteure erschöpft. Damit es nicht bei der eingangs zitierten Einschätzung der streikenden chinesischen Fabrikarbeiter bleibt, gibt es alle Hände voll zu tun. Unverzichtbar und hilfreich sind dabei aufbereitete Quellen, die aus einer positionierten Erforschung und Dokumentation von Arbeitskämpfen und sozialen Bewegungen resultieren.


Buchcover 'Arbeitskämpfe in Chinas Autofabriken' - Foto: 2018 by Schattenblick

Foto: 2018 by Schattenblick


"Arbeitskämpfe in Chinas Autofabriken"

Im Rahmen der Linken Buchtage, die vom 1. bis 3. Juni 2018 im Berliner Mehringhof stattfanden, wurde das im Mandelbaum Verlag erschienene Buch "Arbeitskämpfe in Chinas Autofabriken" [2] von Zhang Lu, übersetzt und herausgegeben von Ralf Ruckus, vorgestellt, der den Workshop leitete. Zhang Lu ist Chinesin, lebt aber schon lange in den USA. Sie war Schülerin von Beverly Silver und Giovanni Arrighi, die aus dem operaistischen Flügel der Weltsystemschule kommen. Als Soziologieprofessorin an der Temple-Universität in Philadelphia forscht sie unter anderem zur politischen Ökonomie Chinas und Ostasiens. Ralf Ruckus schreibt, übersetzt und publiziert Texte zu sozialen Kämpfen, Genderverhältnissen und Migration in China und anderswo. Er gab unter anderem 2014 in der Reihe kritik & utopie des Mandelbaum Verlags "Streiks im Perlflussdelta" heraus, das er auch übersetzt hat.

Ruckus gehört dem Kollektiv Gongchao an, dessen Mitglieder in Europa, den USA und in China leben. Gongchao steht im Chinesischen für Streik, Streikbewegung oder -welle, Arbeitermobilisierung oder -bewegung. Gongchao.org [3] startete im September 2008 als Projekt zur Erforschung und Dokumentation von ArbeiterInnenkämpfen und sozialen Bewegungen in China aus der Perspektive von Klassenkampf, Migration und Gender. Die Webseite bietet eine Auswahl von analytischen Texten und ArbeiterInnenerzählungen in mehreren Sprachen. Neben dem Schreiben und Übersetzen von Artikeln und Büchern beteiligt sich gongchao.org an Untersuchungen und Interviewprojekten in China und organisiert Veranstaltungen und Diskussionen zu den ArbeiterInnenkämpfen in China und anderen Ländern. [4]


Entwicklung Chinas im Überblick

Ralf Ruckus schickte der Vorstellung des Buches zum besseren Verständnis einen kurzen Überblick über die Entwicklung Chinas voraus. Das chinesische Entwicklungsmodell war in den 50er Jahren stark an der Sowjetunion in den 20er und 30er Jahren orientiert und darauf angelegt, das Mehrprodukt vom Land in die Stadt zu verteilen, um einen Industrialisierungsprozeß anzuschieben. Die Arbeiterklasse in den Städten konnte die "eiserne Reisschüssel" genießen, doch kam diese staatliche Absicherung nicht allen zugute. Anfang der 60er Jahre wurde eine rigide Migrationskontrolle durchgesetzt und die Haushaltsregistrierung eingeführt. Noch bis Ende der 70er Jahre lebten nur 20 Prozent der Bevölkerung in der Stadt, während es heute über 60 Prozent sind. Wurden mehr Arbeitskräfte gebraucht, holte man sie zeitweise in die Städte, um sie dann wieder aufs Land zurückzuschicken. Und diese MigrantInnen spielten bei Kämpfen und Streiks, die es auch unter dem Maoismus gab, eine wichtige Rolle.

Seit drei Jahrzehnten erlebt China nun ein rapides Wachstum. Die Reformen setzten bereits in den 1970er Jahren ein, nahmen aber erst in den 90ern rasant Fahrt auf. Es dauerte mehr als zehn Jahre, bis die Investitionen aus dem Ausland deutlich zunahmen und China zum Fließband der Welt wurde, das einen großen Teil der weltweiten Konsumgüter produzierte. Inzwischen ist China zur zweitgrößten Wirtschaftsmacht nach den USA aufgestiegen und könnte in zehn Jahren an der Spitze stehen. Das Bruttoinlandsprodukt hat sich in den letzten zwölf Jahren versechsfacht, und vor Ort erfährt man die Entwicklung um so eindrücklicher, als Städte regelrecht aus dem Boden schießen und sich die Migration in historisch beispielloser Geschwindigkeit vollzieht. Diese Entwicklung geht mit sozialen Umwälzungen gewaltigen Ausmaßes einher, ist doch eine interne migrantische Arbeiterklasse von etwa 280 Millionen Menschen entstanden, wobei die Regierung weitere 100 bis 150 Millionen in den nächsten Jahren für erforderlich hält, um insbesondere die Sonderwirtschaftszonen des sogenannten Sonnengürtels im Südosten mit Arbeitskräften zu versorgen. Zugleich fand eine Zersetzung der sozialistischen Arbeiterklasse statt, da viele Menschen ihre festen Jobs einbüßten. So haben Ende der 90er Jahre 50 bis 60 Millionen Menschen innerhalb einer kurzen Zeitspanne ihren Job verloren und mußten sich einen anderen suchen. Bis Anfang der 90er Jahre waren noch 60 Prozent in der Landwirtschaft beschäftigt, heute sind es deutlich unter 30 Prozent. Die Urbanisierung und Ausweitung der Industriearbeiterschaft ging rasant vonstatten. Zudem fand wie in anderen Industriestaaten eine Verlagerung von Industriejobs hin zu Dienstleistungsjobs statt. Die Migration steigt immer noch, jedoch nicht mehr in demselben Maße wie zuvor. Zugleich werden die MigrantInnen immer älter, in vielen Industrieregionen herrscht inzwischen Arbeitskräftemangel, was mit der Überalterung der Gesellschaft und der Weigerung, sich allzu weit vom Heimatort zu entfernen, zusammenhängt.

Schon in den 90er Jahren nahmen die sozialen Auseinandersetzungen deutlich zu, worauf die Regierung ab 2005 keine offiziellen Zahlen mehr vorlegte. Aus anderen Quellen ist jedoch bekannt, daß weiterhin sehr viele Streiks geführt werden, obgleich sie mangels Streikrecht illegal sind. Es kämpfen nicht nur IndustriearbeiterInnen, die Hälfte aller Streiks fand in jüngerer Zeit im Bausektor statt, und es gab auch viele im Transportsektor, Einzelhandel und Bildungsbereich. Die Sorge um Sozialversicherungsabgaben nimmt zu, da die MigrantInnen jetzt älter werden und bald in Rente gehen. Haben die Firmen nicht einbezahlt, bekommen die Leute keine Altersversorgung. Als in Shanghai 3000 StraßenreinigerInnen aus verschiedenen Firmen streikten und die Regierung daraufhin den Mindestlohn erhöhte, strichen die Firmen kurzerhand die Zulagen. Eine beispielhafte Initiative war der Protest von 200 LehrerInnen Ende Mai 2018, die einen Leistungszuschlag und dieselbe Bezahlung wie Beamte durchsetzen wollten. Ende April/Anfang Mai streikten etwa 10.000 Kranführer in rund 30 Städten, die oft selbständig sind und den Kampf über Chats und Emails organisierten. Sie verdienen mit Überstunden umgerechnet etwa 600 bis 700 Euro und fordern das Äquivalent von 1000 Euro. Das zeigt, in welchem Maße sich die Löhne entwickelt haben, so der Referent.

Der staatlich festgelegte Mindestlohn in Shanghai hat sich zwischen 2008 und 2018 fast verdreifacht, wenn man einmal von der Inflation absieht. Der Lohnanteil am BIP hat insgesamt zugenommen, es bleibt mehr von dem geschaffenen Reichtum bei den ArbeiterInnen hängen als früher. Die Profitrate ist seit 2007/2008 deutlich zurückgegangen, die Lohnstückkosten sind gestiegen. Daher wandert die Bekleidungsindustrie, in der Löhne die entscheidende Rolle spielen, nach Bangladesch und Vietnam ab oder verlagert ihre Betriebe innerhalb des Landes in Billiglohnregionen. In der Autoindustrie nimmt der Lohn hingegen keine derart zentrale Rolle bei der Wertschöpfung ein, und so werden im Gegenteil weiter neue Fabriken gebaut.

Ein wichtiger Umbruch war die globale Krise 2007/2008, auf die China mit massiven staatlichen Konjunkturprogrammen reagiert hat, wodurch die Verschuldung deutlich wuchs. Diese dramatische Entwicklung flachte erst im letzten Jahr ab. Steigen die Schulden so schnell, kann es zu Kriseneinbrüchen kommen. Andere Länder haben zwar ähnlich hohe Schulden, die aber langsamer angewachsen sind. Inzwischen verzeichnet China insgesamt eine geringeres Wachstum und geringere Lohnzuwächse. 2013 stiegen die Löhne im Schnitt um 14 Prozent, heute sind es 6,4 Prozent. Der Staat reagiert auf diese Normalisierung der Wirtschaftsentwicklung mit einer Antikorruptionskampagne, die Millionen von Kader betrifft. Die Repression nimmt seit einigen Jahren zu, es kommt zu Festnahmen von feministischen Aktivistinnen, Menschenrechtsanwälten und Unterstützern von Arbeitskämpfen.

Zugleich versucht China, außerhalb des Landes mehr Einfluß zu gewinnen, da es politisch und militärisch noch weit hinter den USA zurückliegt. Seit einigen Jahren wird die Initiative Neue Seidenstraße vorangetrieben, ein im Grunde irreführender Begriff. Es geht um Infrastrukturkredite an viele Länder in Südostasien, Mittelasien, im Mittleren Osten, in Europa, Afrika und Südamerika. Regional findet eine militärische Expansion im südchinesischen Meer statt, ein erster Marinestützpunkt außerhalb des Landes wurde in Dschibuti errichtet.

Droht China, das lange als Motor der Weltwirtschaft und Hort stabilen Wachstums galt, eine Wirtschaftskrise? Wie jede kapitalistische Ökonomie ist auch die chinesische nicht vor Krisen gefeit. Jedenfalls sind diverse krisenhafte Entwicklungen im Land zu beobachten: Umweltprobleme, Spekulationsblasen, leerstehende Stadtteile und Städte, eine der größten sozialen Ungleichheiten der Welt, und die politische Führung ist längst nicht so homogen, wie sie oftmals wirkt.


Ausbeutung in einem autoritären System

Nach diesem einführenden Überblick ging Ruckus näher auf das Buch ein. Die vorliegende Untersuchung in den Autofabriken Chinas erstreckt sich über einen Zeitraum von zehn bis zwölf Jahren, wobei Zhang Lu vor allem die Montagewerke im Südosten des Landes aufgesucht hat. Sie wollte dort arbeiten, durfte es aber nicht. Sie konnte jedoch in mehreren Fabriken für die betriebliche Parteizeitung arbeiten und so durch alle Abteilungen gehen und mit den ArbeiterInnen diskutieren. Das Buch gründet auf den vielen Interviews, in denen die Menschen ihre Situation selber beschreiben und einschätzen. Es beginnt mit einem Kapitel über die Anfänge der Automobilindustrie in China in der sozialistischen Zeit der 50er Jahre mit Hilfe sowjetischer Ingenieure. Es wurden vor allem Lkws produziert, der Markt war abgeschottet, die Technologie alt, die Produktivität gering. Das änderte sich nicht wesentlich bis in die 70er Jahre. Erst Ende der 70er Jahre trat mit der neuen Politik der Reform und Öffnung Veränderung ein. VW ging 1982 nach China und eröffnete 1984 eine Fabrik in Shanghai, andere internationale Automobilfirmen folgten in den 90er Jahren und in den 2000er Jahren in einer zweiten Welle. Die Montagewerke sind durchweg Joint Ventures, also Gemeinschaftsunternehmen von chinesischen Staatsunternehmen mit ausländischen Konzernen. VW hat Joint Ventures mit zwei Staatsunternehmen, eines in Shanghai und das andere in Changchun im Norden. Die Verpflichtung, Joint Ventures einzugehen, soll im nächsten Jahr aufgeweicht werden, das ist eines der Zugeständnisse der Regierung im Handelskrieg. Chinesische Staats- und Privatunternehmen haben heute einen Anteil von 40 Prozent auf dem Binnenmarkt. Die Öffnung im Rahmen der WTO-Mitgliedschaft führte zu mehr Wettbewerb, schon vor zehn Jahren wurde China größter Produzent und Markt für Autos weltweit. Die Zahl der Beschäftigten nahm nicht in gleichem Maße zu, sie stieg nur um 25 Prozent, während die Produktion um das 40fache zunahm. Es gibt auch in China Automobilcluster mit Zulieferern sowie Ausbildungsstätten, sechs solcher Cluster in Südchina, einen in Zentralchina sowie kleinere im Westen.

An den Montagebändern erfolgt die Bezahlung zumeist nach Leistung, es werden zahlreiche Überstunden verfügt. Die Bandarbeit ist monoton und verschleißträchtig, die Anforderungen steigen ständig, die körperliche Belastung nimmt zu. An den Bändern sind die meisten Beschäftigten männlich, je weiter man in der Pyramide der Fertigung und Zulieferer heruntergeht, desto unqualifizierter die Arbeit und desto mehr Frauen. Die meisten Arbeiter sind zwischen 20 und 40 Jahre alt. Sie rechnen nicht damit, dort länger zu arbeiten, weil sie es einfach nicht mehr schaffen. Die Belegschaften sind in direkt Beschäftigte und Leiharbeiter zweigeteilt, wobei diese Spaltung bereits im Sozialismus existierte und ein Element der Kulturrevolution aus den Aufständen dieser marginalisierten ArbeiterInnen resultierte. Die direkt Angestellten haben meist nur befristete Verträge, ein Apartheidsystem unterteilt in Stadt- und LandbewohnerInnen, was im Ausweis festgehalten ist. Noch werden die direkt Beschäftigten nicht durch LeiharbeiterInnen ersetzt, weil die Industrie immer weiter expandiert. Auch sie wehren sich gegen die Arbeitsbedingungen, doch häufig versuchen sie vor allem, einen besseren Job innerhalb der Fabrik oder anderswo zu bekommen, wobei die meisten vergeblich auf einen innerbetrieblichen Aufstieg hoffen. Die Zusammensetzung der LeiharbeiterInnen hat sich verändert: In den 90er Jahren waren es eher ländliche MigrantInnen, die von den staatlichen Arbeitsagenturen auf dem Land angeworben wurden. Später entstanden die klassischen Leiharbeitsfirmen. Als dritte wichtige Gruppe sind die PraktikantInnen zu nennen, in der Regel junge Leute, die auf Berufsschulen gehen und ein meist einjähriges Praktikum absolvieren müssen. Die Schulen fungieren als Leiharbeitsfirmen, und diese Jobs sind schlechter, geringer bezahlt, und nur sehr wenige PraktikantInnen werden übernommen.

Ihr Widerstand reicht von der Leistungsverweigerung bis hin zu Sabotage und Streiks. Die Kämpfe der LeiharbeiterInnen sind insbesondere dann erfolgreich, wenn sie von den direkt Beschäftigten unterstützt werden oder diese einfach stillhalten. Da alle am selben Band arbeiten, können auch die LeiharbeiterInnen Produktionsmacht entfalten. Ein prominentes Beispiel war ein Streik von PraktikantInnen in einer Getriebefabrik von Honda 2010 in Südchina, die alle auf dieselbe Berufsschule gegangen waren und aus dieser Zeit ihre eigenen Chaträume und Maillisten hatten.

Die Vorstellung, dies seien nur isolierte und unpolitische Kämpfe, läßt sich von der äußeren Erscheinung täuschen. Da es keine sektoralen Tarifverhandlungen gibt, fehlt das hierzulande übliche Bild ritualisierter Gespräche zwischen Tarifparteien. Die Auseinandersetzung findet direkt im Betrieb statt, Vernetzung ist eher die Ausnahme. Wenn keine Forderungen nach freien Gewerkschaften erhoben werden und niemand öffentlich die Partei kritisiert, heißt das nicht, daß diese Kritik nicht vorhanden wäre, sie wird nur angesichts der drohenden Repression nicht offen geäußert. Zhang Lu zufolge existiert durchaus ein Druck von unten, da Produktions- und Organisationsmacht genutzt werde und der Staat gezwungen sei, darauf zu reagieren. Beispielsweise habe das Arbeitsvertragsgesetz 2008 die rechtlichen Rahmenbedingungen verbessert. Sie vergleicht das mit dem National Liberations Act der USA in den 30er Jahren, mit dem die Arbeitsbeziehungen als Folge der großen Streiks der AutomobilarbeiterInnen reguliert wurden. In China herrsche ein autoritäres System, doch müsse sich der Staat eine gewisse Legitimität erhalten und auf Druck von unten reagieren.


Neue Entwicklungen in der Automobilproduktion

Anschließend ging der Referent auf neue Entwicklungen in der Automobilproduktion Chinas ein. Bei Diesel- und Benzinfahrzeugen haben sich Überkapazitäten herausgebildet. Die Auslastung der Fabriken ist mit 70 bis 80 Prozent relativ niedrig, als gesund gelten zwischen 85 und 90 Prozent. Die Einführung von Elektroautos hat zu einer neuen Welle von Investitionen geführt, wobei China als einziges Land der Welt Quoten festgelegt hat: 2019 müssen die verkauften Fahrzeuge aller Unternehmen jeweils zu 10 Prozent Elektroautos sein, andernfalls muß Strafe gezahlt werden. Diese Marge wird stufenweise weiter erhöht. Dabei ist keineswegs geklärt, ob die Elektroautos tatsächlich unweltverträglicher sind. Ein massenhafter Gebrauch von Elektrofahrzeugen würde die Elektrizitätsproduktion überfordern, hinzu kommen gravierende Probleme mit den Rohstoffen für die Batterien. Bei der herkömmlichen Technologie hat China gegen die ausländischen Konzerne keine Chance, während es bei den Elektrofahrzeugen führend ist. Chinesische Unternehmen kaufen auch im Ausland dazu. Ein bekannter Fall war der Kauf von Volvo durch Geely, vor kurzem wurde der Besitzer von Geely größter Einzelaktionär von Daimler. Zuvor war der Staat Kuwait größter Einzelaktionär, was hierzulande offenbar sehr viel weniger problematisch gesehen wurde.


Kollaboration des Kapitals - Kämpfe bei FAW-Volkswagen

Aus deutscher Sicht sind die Arbeitskämpfe bei Unternehmen wie Volkswagen in China von besonderem Interesse. Ende 2016 kam es zu einem Kampf bei FAW-Volkswagen, dem Joint Venture eines chinesischen mit einem deutschen Staatskonzern, als sich einige Tausend LeiharbeiterInnen organisierten und den gleichen Lohn wie die direkt Beschäftigten forderten. Sie erhielten nur die Hälfte dieses Lohns, obwohl das chinesische Arbeitsgesetz eine Gleichbehandlung vorsieht und VW 2012 in einer Selbstverpflichtung geschrieben hatte, daß der gleiche Luhn gezahlt würde. Es wurden Flugblätter angefertigt, Demonstrationen durchgeführt und Kundgebungen abgehalten. Verhandlungen mit FAW-Volkswagen führten jedoch zu keinem Ergebnis. Im Mai 2017 wurden mehrere AktivistInnen von der örtlichen Polizei unter dem Vorwurf festgenommen, zu sozialen Unruhen anzustiften. Sie schrieben an den VW-Konzern in Wolfsburg, an den Betriebsrat wie auch an Ralf Ruckus, der die Schreiben übersetzte. Dann kam erst einmal lange keine Antwort, bis schließlich zwei Betriebsräte des europäischen und des Weltbetriebsrats von VW, darunter der berüchtigte Bernd Osterloh - medial bekannt geworden für seine sechsstelligen Einkünfte als Betriebsrat - zurückschrieben, wir können euch leider nicht helfen, richtet euch doch an das lokale Unternehmen und die Behörden. Daraufhin postete einer der Leiharbeiter online: "Den Deutschen ist es egal. Wir müssen selber kämpfen!" Ende des Jahres 2017 übernahm FAW-Volkswagen die meisten LeiharbeiterInnen als direkt Beschäftigte, zahlte aber keine Entschädigung für die Zeit vorher. Dabei ging es teilweise um fünfstellige Euro-Summen, weil die Betreffenden jahrelang für den halben Lohn gearbeitet hatten. Einer der Aktivisten sitzt nun schon ein Jahr im Gefängnis, es gab kürzlich eine kleine Protestaktion vor dem VW-Werk in Hannover, um Unterstützung für seine Freilassung zu erwirken.

China hat 1994/95 das deutsche Arbeitsrecht weitgehend übernommen, so daß die meisten rechtlichen Bedingungen ähnlich wie in Deutschland sind. Ein Unterschied ist jedoch, daß die meisten Gesetze in China eher also grobe Empfehlung verstanden werden, und dies nicht nur von den Unternehmern, sondern auch von den Beschäftigten. In der Realität leisten die meisten mehr als die offiziell vorgesehenen 36 Überstunden im Monat, und vor einigen Jahren haben viele sieben Tage die Woche gearbeitet, während es jetzt sechs sind. Auch gibt es sehr große regionale Unterschiede vor allem bei den Löhnen. In manchen Provinzen Zentralchinas verdienen die Leute nur halb so viel wie an der Küste, die Unterschiede im BIP sind so groß wie zwischen der Ukraine und der Schweiz.


Belegschaften kämpfen - Funktionäre taktieren

Wie Ralf Ruckus abschließend darlegte, habe er ebenso wie Zhang Lu mit Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse in China "Sozialismus" als historischen Begriff, vergleichbar dem des "Realsozialismus" im westlichen Kontext, verwendet, ohne damit eine abschließende inhaltliche Bewertung vorzunehmen. Er habe am Maoismus wenig zu verteidigen und gehe auch nicht von verschiedenen Phasen vor und nach der Reform, sondern von einer Kontinuität der Klassenherrschaft und patriarchalen Zurichtung aus. Wichtiger als ein semantischer Streit um die Frage, ob China ein sozialistischer Staat war oder nicht, sei doch die inhaltliche Bestimmung der konkreten Arbeitsverhältnisse und Arbeitskämpfe im Land wie auch der Handlungsweise der Kommunistischen Partei. In China finde man heute Maoisten, die staatstragende Theorien verbreiten und somit seines Erachtens nicht von Interesse seien. Es existiere aber auch eine Linke, die zwar in erster Linie maoistisch ausgerichtet sei, sich jedoch auf ein ganz bestimmtes Verständnis von Maoismus im Sinne einer Position in der Kulturrevolution beziehe.

Was solidarische Ansätze in den deutschen Gewerkschaften betreffe, gebe es in der IG Metall die AG Internationalismus in Berlin - in der Regel alles ältere Herren - aber natürlich auch einige jüngere Semester, die zu den Arbeitskämpfen in China ähnliche Positionen vertreten wie er selbst. Die Haltung der gewerkschaftlichen Funktionärsebene sei hingegen taktischer Natur. So habe er einmal in China einer Sitzung beigewohnt, bei der Funktionäre der deutschen IG Metall ihren chinesischen Kollegen stolz erzählten, wie sie einen Streik verhindert hätten. Dieses integrative Moment, den Druck von unten zu neutralisieren und einen Deal Produktivität gegen Löhne auszutarieren, sei auch für die Funktionäre der staatlichen chinesischen Gewerkschaft von Interesse gewesen. Im übrigen stehe man in Europa vor denselben Problemen, wenn er etwa an Amazon in Polen und die Haltung von ver.di denke. Ihm gehe es darum, die Kämpfe von unten her zu unterstützen, nicht aber auf Funktionärsebene zu taktieren.


Fußnoten:


[1] http://www.gongchao.org/2018/03/13/vorwort-arbeitskaempfe-in-chinas-autofabriken/

[2] Zhang Lu: Arbeitskämpfe in Chinas Autofabriken, herausgegeben und übersetzt von Ralf Ruckus, Mandelbaum Verlag, Wien 2018, 436 Seiten, 20.00 Euro, ISBN: 978385476-673-5

[3] http://www.gongchao.org

[4] http://www.tlaxcala-int.org/biographie.asp


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13. Juli 2018


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