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BERICHT/086: Richtige Literatur im Falschen - Hauptanstoß für Fluchtbewegungen ... (SB)



Diejenigen, die hierher kommen, sind im Allgemeinen von der ignorantesten, dümmsten Sorte ihrer Nation. Es ist fast unmöglich, ihnen überkommene Vorurteile wieder zu nehmen. (...) Wenn es nicht gelingt, ihren Zuflussstrom von dieser in andere Kolonien zu lenken, werden sie uns bald an Zahl übertreffen.
Benjamin Franklin 1753 über deutsche Einwanderer in Pennsylvania [1]

Wirtschaftskriege, die weithin Existenzen vernichten, Zerschlagung von Staaten mit Waffengewalt, die verheerende Folgen zeitigt, und der Klimawandel, vor allem von der Industrialisierung der westlichen Gesellschaften verursacht, werden in den kommenden Jahren zu einem massiven Anstieg der Migration führen. Allein in Westafrika dürften Millionen Menschen durch Dürren und Konflikte in die Flucht getrieben werden. Dagegen rüstet die EU auf: Das maßgeblich unter deutscher Führung entwickelte strategische Konzept der Flüchtlingsabwehr sieht vor, die Abschottung Europas soweit vorzuverlagern, daß möglichst wenige geflohene Menschen die Ägäis und das Mittelmeer erreichen. Nachdem das Abkommen mit dem türkischen Regime die östliche Route weitgehend verschlossen hat und Griechenland eine zusätzliche Pufferfunktion aufgezwungen wurde, konzentriert sich der Kampf gegen die Flüchtlinge nun auf den nordafrikanischen Raum. Durch die Kopplung von Hilfsgeldern an Maßnahmen zur Kontrolle und Schließung der Fluchtwege werden die Regierungen Nigers, Malis und des Tschads zur Kollaboration veranlaßt, die bislang weitgehend unbegrenzte Bewegungsfreiheit der Flüchtlinge über die Ländergrenzen hinweg einzuschränken. In den Anrainerstaaten des Mittelmeers sollen Lager eingerichtet oder ausgebaut werden, um sogenannte illegale Migrantinnen und Migranten einzusperren und zurückzuschicken. Die dritte und letzte Komponente dieses gestaffelten Kordons ist eine verschärfte Überwachung der offenen See mit dem Ziel, möglichst viele Flüchtlinge abzufangen und an die afrikanische Küste zurückzubringen.

Dieses gestaffelte System der Flüchtlingsabwehr wird Zug um Zug verschärft und seiner humanitären Maskierung entkleidet. Es handelt sich um eine gezielte Strategie, die Migration um den Preis der Menschenvernichtung fernzuhalten. Die Zahl geflohener Menschen, die im Mittelmeer ertrinken, wird noch von jener der Todesopfer in der Sahara übertroffen. Menschenhandel in allen erdenklichen Formen ist zu einem maßgeblichen Gewerbe im kriegszerstörten Libyen geworden. Dennoch bringt die von der EU ausgebildete und ausgerüstete libysche Küstenwache Flüchtlinge zurück an Land, während die italienische Marine dieses Abfangnetz mit Schiffen und Flugzeugen umfassend ausbaut. Konzentrationslager werden euphemistisch als "Hotspots" deklariert, und die Verschiebung der europäischen Außengrenzen tief in den afrikanischen Kontinent hinein erfordert geradezu eine Zusammenarbeit mit Despoten und Milizen, deren Brutalität und Machtfülle sie dazu qualifiziert, die gut honorierten Handlangerdienste im Auftrag der Europäer skrupellos und wirksam zu verrichten.

Podium zu Migration und Pluralität - Foto: © 2018 by Schattenblick

Millionenfach auf der Flucht vor Krieg und Krise
Foto: © 2018 by Schattenblick


Migration und Pluralität

Im Rahmen des Symposiums "Richtige Literatur im Falschen", das vom 7. bis 9. Juni 2018 in der Dortmunder Zeche Zollern zum Thema "Literatur in der neuen Klassengesellschaft" stattfand, stand die Sektion V im Zeichen von "Migration und Pluralität". Unter Moderation von Enno Stahl hielt Prof. Dr. Hannes Schammann den Vortrag "Jenseits der Grenze. Paradoxien und Parabeln der Migrationspolitik". Ingar Solty widmete sich in einem Co-Referat dem Thema "Literatur der Migration".

Hannes Schammann ist Professor für Migrationspolitik an der Universität Hildesheim. Er hat zuvor mehrere Jahre in der migrationspolitischen Praxis gearbeitet, unter anderem beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und der Robert-Bosch-Stiftung. Er leitet derzeit drei Projekte zur Rolle der Kommunen in der Migrationspolitik, schreibt an dem Lehrbuch "Migrationspolitik 2018" und beobachtet eine meritokratische Wende in der deutschen Flüchtlingspolitik. 2013 kam sein Buch "Ethnomarketing und Integration" heraus.

Ingar Solty lebt in Berlin, hat Politikwissenschaft unter anderem in Kanada an der York University in Toronto studiert und gelehrt. Er ist Rezensionsredakteur der Zeitschrift Das Argument, Fellow des Instituts für kritische Theorie e.V. (InkriT) und seit Juni 2016 Referent für Friedens- und Sicherheitspolitik beim Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Solty hat zahlreiche Bücher verfaßt, darunter "Die USA unter Obama" (2013), und gemeinsam mit Enno Stahl den Tagungsband zum Symposium "Richtige Literatur im Falschen?" herausgegeben.

Enno Stahl eröffnete die Sektion unter Verweis auf die teils tiefgreifenden Veränderungen der europäischen Gesellschaften durch den starken Zustrom geflohener Menschen aus den Krisen- und Kriegsgebieten. Wenngleich Integration als Aufgabe in aller Munde sei, müsse man die Migrationspolitik der letzten Jahrzehnte für gescheitert erklären. Die Chancen der Abkömmlinge von Zugezogenen seien selbst in der dritten Generation schlecht, so daß soziale Ungleichheit forciert und zementiert werde. Zugleich entstünden Parallelgesellschaften wie der Salafismus, die zu Problemen führen können. Weniger Aufmerksamkeit werde indessen der Frage gewidmet, wie die Migranten selbst die Situation sehen. Dabei gebe es mittlerweile gar nicht so wenig Literatur, die einem Antwort geben kann. Um nur einige Namen zu nennen: Sasa Stanisic, Olga Grjasnowa, Katja Petrowskaja, Imran Ayata, Abbas Khider und eine Reihe mehr.


Auf dem Podium mit Mikro - Foto: © 2018 by Schattenblick

Hannes Schammann
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Paradoxien und Parabeln der Migrationspolitik

Hannes Schammann konzentriere sich in seinem Vortrag auf die Parabel der Migrationsforschung von der Kluft zwischen vermeintlich restriktiver Bevölkerung und vermeintlich immer liberalerer Politik. Er verband dies mit aktuellen Entwicklungen der deutschen Flüchtlingspolitik und ging dabei auf die meritokratische Wende ein. Gary Freeman hatte in den 90er Jahren die These aufgestellt, daß sich bei der Aushandlung von Interessen in der Migrationspolitik diejenigen besser organisieren und durchsetzungsfähiger sind, die auf eine Öffnung der Grenzen drängen, als die eher unorganisierte Öffentlichkeit. Freeman zufolge verweisen vor allem Arbeitgeber, die ein größeres Reservoir an Arbeitskräften einfordern, um darüber die Löhne zu drücken, auf die Vorteile der Migration. Hingegen seien deren Nachteile wesentlich diffuser, da Ängste vor Überfremdung oder Arbeitsplatzverlust nicht so klar zu fassen sind. Daraus resultiere die Klientelpolitik einer immer expansiveren Migrationspolitik der grenzenlosen Mobilität von Arbeitskräften, während sich die Bevölkerung viel strengere Regelungen wünsche.

Da Schammann diese These für zu platt erachtet, differenzierte er sie anhand von drei Arenen der Migrationsdebatte, nämlich Sicherheit, Identität und Wirtschaft. Er geht davon aus, daß die Kluft zwischen der unorganisierten Bevölkerungsmeinung und der faktischen Politik in den drei Feldern recht unterschiedlich ausfällt. Im Bereich von Sicherheit geht es demnach darum, daß humanitäre Schutzinteressen nationalen Sicherheitsinteressen gegenüberstehen. Bei Identität geht es um die Kompatibilität der Zuwanderer und ihrer Kultur mit derjenigen der Aufnahmegesellschaft. Rosenblum und Cornelius, die diese Dreiteilung entworfen haben, sprechen von einer eher unkonkreten, aber sehr emotionalen Identitätsdebatte. Bei der Wirtschaft geht es darum, wie Gewinne durch die Zuwanderer maximiert werden können, aber trotzdem noch Verteilungsgerechtigkeit hergestellt werden kann.

Die Frage der Identität läßt sich recht gut an der Entwicklung des Staatsbürgerschaftsrechts festmachen. Bis Ende der 90er Jahre galt: Deutscher darf nur sein, wer deutsches Blut in den Adern hat. Das erodierte unter der Regierung Schröder insofern, als Elemente des Jus soli, also des Bodens, eingeführt wurden. Ist man in Deutschland geboren, kann man auch Deutscher werden. Die Forderungen der Pegida und AfD belegen jedoch, daß sie zu einem ethnisch-völkischen Ideal zurückwollen. Hier zeigt sich eine tiefe Kluft, die Politik ist Teilen der Bevölkerung weit enteilt. Merkels Reaktion in der Kontroverse, ob der Islam zu Deutschland gehört, fand auf dem Höhepunkt der Pegida-Aufmärsche statt. Ihr lange erwartetes Wort, daß der Islam heute zu Deutschland gehört, hat als Basta-Signal in Richtung Identitätsdebatte den rechten Kräften Auftrieb gegeben, so der Referent.

Etwas anders sieht es in der Arena der Sicherheit aus. Pegida fordert die Ausweisung krimineller Ausländer und instrumentalisiert entsprechende Vorfälle für die Sicherheitsdebatte. Die Parteien im Bundestag sind sich indessen weitgehend einig, daß nationale Sicherheit im Zweifelsfall über humanitären Schutzinteressen zu stehen hat. Selbst die Genfer Flüchtlingskonvention enthält einen Passus, daß das berechtigte Schutzinteresse zurückgewiesen werden kann, wenn die nationale Sicherheit gefährdet ist. Der Unterschied zwischen AfD/Pegida und der faktischen Migrationspolitik besteht hier eher in der Frage, welche Maßnahmen zu ergreifen seien. Hier ist die Kluft also nicht mehr so groß.

Die Kluft verschwindet ganz im Bereich der Wirtschaft. Pegida und AfD fordern eine qualifizierte Zuwanderung, die Deutschland nützt. Man verlangt ein Zuwanderungsgesetz nach dem Vorbild Australiens, Kanadas oder Südafrikas mit einem Punktesystem, so daß nur Hochqualifizierte ins Land gelassen werden. Hier kreist die Debatte darum, wieviel Zuwanderung erforderlich und wünschenswert ist.

Während bei der Arbeitsmigration stets eine Nutzenorientierung vorherrschte, war der Flüchtlingsschutz davon institutionell und rechtlich getrennt: Individuelle Leistung zählte nicht bei der Schutzgewährung. Wenn ein Asylantrag abgelehnt wird und die Person trotzdem einen Job findet, war bislang eine Ausreise erforderlich, worauf man ein Visum zur Arbeitsaufnahme beantragen mußte. Der Aspekt des Nutzens war aus Asylfragen ausgeklammert. In den letzten Jahren ist es jedoch zu tiefgreifenden Änderungen gekommen, die diese Mauer zwischen Arbeitsmigration und Flüchtlingsschutz bröckeln und nutzenorientierte Selektionsmechanismen in ein ursprünglich rein humanitär orientiertes Verfahren einsickern lassen. Einige Beispiele: Seit 2015 gilt die sogenannte 3+2-Regelung, der zufolge Menschen, deren Asylantrag abgelehnt ist, einen Aufenthaltstitel für drei Jahre erhalten können, wenn sie eine Ausbildung beginnen. Sie dürfen drei Jahre für die Ausbildung sowie zwei weitere Jahre zur Arbeit im Land bleiben. Was danach passiert, ist unklar, wobei eine Bleiberegelung nicht unwahrscheinlich ist. Wer dem deutschen Arbeitsmarkt nützt, kann also hierbleiben, was auch von NGOs begrüßt wurde. Als zweites Beispiel die Wohnungsauflage, wonach selbst ein anerkannter Flüchtling noch drei Jahre an einem Ort leben muß, also eine Verschärfung des Asylrechts. Interessant sind aber die Ausnahmen. Diese Flüchtlinge dürfen umziehen, wenn sie einen Job haben, eine Ausbildung oder ein Studium aufnehmen. Das dritte und problematischte Beispiel: Die Niederlassungserlaubnis ist die dauerhafte Aufenthaltserlaubnis. Bisher erhielten anerkannte Flüchtlinge aufgrund einer Überprüfung nach drei Jahren, ob die Fluchtgründe weiterbestehen, eine Niederlassungserlaubnis. Jetzt erhalten auch anerkannte Flüchtlinge den Daueraufenthalt nur dann, wenn sie einen sozialversicherungspflichtigen Job, eine Wohnung und Sprachkenntnisse nachweisen können oder andere nicht näher definierte Integrationsleistungen erbracht haben. Sie werden andernfalls zwar nicht abgeschoben, erhalten aber immer nur eine befristete Verlängerung ihrer Aufenthaltserlaubnis.

Der Einbruch von Leistungskriterien in die humanitäre Flüchtlingspolitik zeigt sich auch auf organisatorischer Ebene beim BAMF. 2015 übernahm Frank-Jürgen Weise die Bundesagentur, der zuvor als Geschäftsführer der Bundesagentur für Arbeit tätig war. Weise ist in allen drei Arenen profiliert, da er als ehemaliges Mitglied der Bundeswehr auch in entsprechenden sicherheitspolitischen Kreisen unterwegs ist und als Baptist an Massentaufen teilnimmt, mithin einen klaren religionspolitischen Standpunkt zur Integration hat.

Diese meritokratische Wende des Einbruchs leistungsorientierter Kriterien in die Flüchtlingspolitik weist allerdings auch einige gegenläufige Entwicklungen auf: Sichere Herkunftsländer, Ankerzentren, Einschränkung der Familienzusammenführung - ein konservativer Backlash, die meritokratischen Elemente werden eingehegt. Daraus resultiert eine Vorauswahl derjenigen, die sich dann beweisen dürfen. Dauerhafte Zugehörigkeit muß über Leistung erworben werden, wenn man die anderen Hürden übersprungen hat, so der Referent.

Die deutsche Flüchtlingspolitik ist in den vergangenen Jahren deutlich liberalisiert worden. Die leistungsorientierten Selektionskriterien haben Eingang in dieses per Definition humanitäre Verfahren gefunden. Derzeit dominieren utilitaristische und tendenziell nativistische Argumentationen die deutsche Flüchtlingspolitik. Diese Wende wird durch NGOs der Flüchtlingsarbeit mitproduziert, die Vorzeigeflüchtlinge präsentieren, um die Stimmung vor Ort zu verbessern. Sie bedienen sich jedoch derselben Argumentation, Flüchtlinge nach ihrer Nützlichkeit für den deutschen Arbeitsmarkt zu bewerten, und verlernen das humanitäre Argument, schloß Schammann seinen Vortrag.


Auf dem Podium mit Mikro - Foto: © 2018 by Schattenblick

Ingar Solty
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Literatur der Migration

Für Ingar Solty stellt sich Migration verschränkt mit der Klassenfrage dar, weshalb er für einen weiten Migrationsbegriff und ebenso einen weiten Migrationsliteraturbegriff plädiert, um der Essentialisierung von Migration im neuen deutschen Nationalismus etwas entgegenzusetzen. Um den berühmten Satz von Max Horkheimer zu paraphrasieren, daß, wer von Kapitalismus nicht sprechen will, auch von Migration schweigen sollte, dürfe man kapitalistische Entwicklung und Migrationsbewegungen nicht trennen. Die Voraussetzung des Kapitalismus ist die Existenz einer Klasse von Menschen, die nichts besitzen, außer sich selbst, und auf den Verkauf ihrer Arbeitskraft als Ware angewiesen sind. Der Kapitalismus ist historisch als Agrarkapitalismus entstanden, hat dann aber die erste große Migration in der bürgerlichen Gesellschaft hervorgerufen, nämlich Industrialisierung und Urbanisierung, also Binnenmigration. Die kapitalistische Durchdringung und Umstrukturierung produziert "Überschußbevölkerung", nämlich Teile, die sich weder selbst reproduzieren können noch als Arbeitskräfte von der Industrie gebraucht werden. Daran knüpft der Diskurs über die gefährlichen Klassen an, denen man mit Arbeitshäusern auf den Pelz rückte oder die in Strafkolonien nach Australien oder in die USA geschickt wurden.

Der europäische Westen konnte sich im Zuge seines kapitalistischen Aufschwungs durch völkermörderische Politik seiner Überschußbevölkerung siedlerkolonialistisch entledigen. Die Menschen wurden vor allem in die Neue Welt exportiert, aus deutscher Sicht auch nach Afrika und Osteuropa. Bürgerliche Sozialreformer wie Max Weber und Thomas Naumann dachten über Kolonien von Arbeitslosen nach, die man nur schaffen könnte, wenn man eine Bodenreform durchführt. Dem versagten sich die Konservativen, weil die Junker die Grundlage ihrer Macht waren. Man mußte also imperialistisch werden, den Umschlag von bürgerlicher Sozialreform in Sozialimperialismus vollziehen: Das Volk ohne Raum, der Drang nach Osten.

Im Zuge der Durchdringung des globalen Südens durch den Kapitalismus stellt sich diese Entwicklung weltweit als Massenproletarisierung dar. Die Internationale Arbeitsorganisation der UN hat errechnet, daß sich von 1980 bis 2016 die globale Arbeiterklasse von 1,9 Mrd. auf 3,5 Mrd. Menschen annähernd verdoppelt hat, disproportional zum allgemeinen Anstieg der Bevölkerung. Von den 65 Mio. Menschen, die im letzten Jahr auf der Flucht gewesen sind, setzt sich die große Mehrheit aus Kriegsflüchtlingen zusammen. Krieg ist der wesentliche Grund für Flucht, aber kapitalistische Durchdringung und Staatszerfall ist der Grund für Konflikte. Verteilungskämpfe werden gewaltförmig ausgetragen, ethnisiert und konfessionalisiert. Kapitalismus führt immer zu ungleicher Entwicklung, wodurch die Push- und Pullfaktoren von Migration entstehen, so der Referent.

Wie reflektiert sich die Wirklichkeit kapitalistisch bedingter Migrationsbewegungen in der Literatur? Zunächst einmal stellt sich die Frage, was eigentlich nicht eine Literatur der Migration ist. In der Literatur sind die Protagonistinnen und Protagonisten ständig in Bewegung. Man braucht gar nicht an den Bildungsfilm als Road Movie zu denken, wo die Adoleszenz auf migratorische Weise vollzogen wird. In der amerikanischen Literatur haben wir einen Topos, der von den Initiationsgeschichten der Ureinwohnerinnen geklaut ist: Man geht weg, um sich zu verändern, und kommt verändert wieder zurück, oder man schläft ein, erlebt etwas anderes und findet sich nach der Rückkehr zu Hause nicht mehr zurecht. Tatsächlich wird das Bild der Literatur der Migration durch die Tatsache besonders brüchig, daß sich diese Literatur kaum engführen läßt. Sind die polnischen und anderen osteuropäischen Einwanderinnen, die nach der Globalisierung der Agrarmärkte und im Zuge der großen Depression 1873 bis 1896 aus den ostelbischen Niedrigproduktivlandschaften in das hochindustrialisierte Ruhrgebiet zogen, keine Migranten mehr? Sind die Turkodeutschen, die seit fast sechs Jahrzehnten in Deutschland leben, aber noch Migranten? Es besteht der Verdacht, daß der Migrant nur als Teil der gefährlichen Klassen, als unterer Arbeiterklassenmigrant erscheint, was für die Japaner in Düsseldorf jedenfalls nicht gilt, wie Solty hervorhebt.

Ein Blick in die Liste der aktuellen und früheren Teilnehmerinnen der "Richtigen Literatur im Falschen" macht einiges deutlich. Der Nachname Zelik verweist auf die fernen Weiten Rußlands, Solty klingt ungarisch, ist aber vielmehr germanisiertes Polen, Salomon steht für die jüdische Diaspora, Heike Geißler verweist auf Südwestdeutschland, die mit Abstand meisten Wildenhains leben in Sachsen, Kathrin Röggla ist real aus Österreich zugewandert, Ann Cotten aus den USA. Stegemann verweist auf Norddeutschland, nur Rilling kommt wohl da her, wo der Name seinen Ursprung hat, aus Baden-Württemberg. Hinzu kommt, daß Deutschland mehrheitlich eine Migrationsgesellschaft ist. Darauf hat Navid Kermani in seiner Festrede 2015 im Bundestag hingewiesen. Viele Millionen Menschen sind seit dem Zweiten Weltkrieg in die Bundesrepublik eingewandert, die Vertriebenen und Aussiedler berücksichtigt, mehr als die Hälfte der Bevölkerung.


Veranstaltungsplakat, Ingar Solty und Enno Stahl - Fotos: © 2018 by Schattenblick Veranstaltungsplakat, Ingar Solty und Enno Stahl - Fotos: © 2018 by Schattenblick

"Lesen ist gelenktes Schaffen" - Jean-Paul Sartre
Fotos: © 2018 by Schattenblick

Was ist also die Literatur der Migration? In der Literatur finden wir Hinweise auf Migration als allgemeines Bewegungsgesetz, als Folge menschlichen Begehrens, mit Hardt und Negri gesprochen, und daraus resultierenden Handelns. In Tony Kushners epischem Drama "Angels in America" wird ständig migriert. Vom konservativen Salt Lake City in den liberalen Westen, auf dem historischen Oregon Trail in die Antarktis als ein Refugium für Depressive und schließlich nach San Francisco als Stadt der wiedergewonnenen Lebensfreude. Das gesamte freudomarxistisch aufgeladene Werk Kushners durchzieht eine Dialektik von Leiden und Produktivität. Menschen verlieren das Gefühl von Heimat, werden in ihrer Heimat zu Fremden und migrieren.

In Jenny Erpenbecks Roman über die Flüchtlingskrise "Gehen, ging, gegangen" (2017) begegnet ein Professor geflüchteten Menschen in einem Berliner Flüchtlingswohnheim. Einer dieser Menschen sagt: "Der Krieg zerstört alles. Die Familie, die Freunde, den Ort, an dem man gelebt hat, die Arbeit, den Alltag. Wenn man ein Fremder wird, hat man keine Wahl mehr. Man weiß nicht wohin, man weiß nichts mehr. Ich kann mich selbst nicht mehr sehen, das Kind, das ich war, ich habe kein Bild mehr von mir." Krieg ist die schlimmste Form des Heimatverlustes, des Fremdwerdens im eigenen Land.

Oft reicht aber auch schon Nichtdazugehören aus, um wegzumüssen. Das Nichtdazugehörendürfen führt zu subjektiver Heimatlosigkeit, die Migration hervorbringt. Anna Katharina Hahn beschreibt in "Das Kleid meiner Mutter" eindrucksvoll das verhinderte Leben der verlorenen Generation Eurokrise in Spanien, wo über Jahre hinweg 60 Prozent Jugendarbeitslosigkeit geherrscht hat, und den sich daraus ergebenden Zwang zur europäischen Binnenmigration: "Jetzt führten wir alle exakt das gleiche Leben. Früher hätte das niemand für möglich gehalten. Ein Leben, das jeden Morgen mit der Frage beginnt, ob sich das Aufstehen lohnt. Keiner von uns bekommt die Arbeit, für die er ausgebildet wurde, oder hat überhaupt einen Job, geschweige denn eine eigene Wohnung. Wir leben bei unseren Eltern, in unseren alten Kinderzimmern. Wenn wir einmal ein bißchen Geld verdienen, dann mit Gelegenheitsjobs und nie länger als ein paar Wochen. Laura haben ihre Bücher genauso wenig genutzt wie Angel, der jetzt in Deutschland lebt. Jedoch, daß Angel an der deutschen Uni kein Gehalt bekommt, sondern nur Lehrerfahrung, daß er seine Kohle als Arbeiter auf dem Bau verdient, wissen seine Eltern nicht." Das für die schmächtige Protagonistin viel zu große Kleid der Mutter, die das Leben in allen Zügen genossen hat, ist eine Allegorie für enttäuschte Lebenserwartung.

Gleichzeitig wirkt Heimatlosigkeit jedoch auch in der Binnenmigration. In Stephan Thomes Roman "Grenzgang" erfährt sie der Protagonist, dessen Habilitationsstelle nicht verlängert wird, woraufhin der akademische Prekarier mit einem letzten Akt des Aufbäumens einen Ziegelstein durch das Fenster seines geschichtswissenschaftlichen Instituts fliegen läßt, bevor er aus Berlin in seine hessische Provinzheimatstadt flieht und dort am Grenzgangfest teilnimmt. Zuletzt muß er sich fragen, ob er hier je zu Hause gewesen ist. Menschen verlieren Heimat und müssen weg, nur wohin?

Manche flüchten sich in andere Welten. Für Eskapismus gibt es gute Gründe. "Ein öder Job schickt das Hirn ins Exil", schreibt Dietmar Dath in "Deutsche Demokratische Rechnung". Und die Kunst bietet Optionen für Eskapismus, denn "im All kann man sich zur Not immer verstecken". Eskapismus ernährt jedoch keinen Menschen, läßt keinen in Frieden leben, dauerhaft Heimat finden. Deshalb flüchten Menschen auch real, und hier beginnt die eigentliche Migrationsliteratur.

Erasmus Schöfer läßt seinen Viktor Bliss nach Athen abhauen. In "Tote in Athen" heißt es: "Weggelaufen, ja, weggelaufen, nenn's so. Du nimmst mir die Luft mit deinen deutschen Nachrichten, wickelst mich in Stacheldraht und fragst, warum ich mich steche. Ich habe ein Recht auszubrechen. Jeder Mensch hat das Recht, auszubrechen aus einer Vernunft und wegzulaufen ans Ende der Welt." Dem Suchen nach einer neuen Heimat geht also subjektive Heimatlosigkeit voraus. Dabei ist es wichtig zu betonen, daß erstens auch Menschen aus Deutschland fliehen, und zweitens darauf hinzuweisen, daß die Fluchtursachen im Ausland auch mit der deutschen Politik zu tun haben. Jenny Erpenbecks Flüchtling hat die Regime-Change-Bomben der Nato überlebt, die von Libyen aus nach Hamburg gelangten Flüchtlinge der Gruppe Lampedusa demonstrierten unter der Parole "Wir sind hier, weil ihr unsere Länder zerstört!". Deutschland ist Exportweltmeister in Fluchtursachen.

Wer migriert läßt zurück, wer er war, und wird Flüchtling. In "Alles umsonst" von Walter Kempowski, einem Roman über ein westpreußisches Junkeranwesen und die Flüchtlinge am Ende des Zweiten Weltkriegs, heißt es, daß die Einheimischen, so sehr sie sich auch von den Flüchtlingen unterscheiden, angesichts des Vormarsches der Russen bloß Flüchtlinge in spe sind.

Wer migriert, muß ankommen dürfen. Flucht ist jedoch stets konkret. Die Irrealität des abstrakten Fluchtgedankens ist das große Thema von Alfred Andersch. Seine zentrale Botschaft lautet: Wer wegmuß, kommt immer auch irgendwo an. Die Geschichten von der Flucht ins Paradies, mit denen er spielt, die inselmetaphorischen Sehnsuchtsorte, "Sansibar oder der letzte Grund", Venedig für Franziska in "Die Rote", später auch Mexiko in einem unvollendet gebliebenen Theaterstück, sind kein Refugium, sondern Traumwelten, die zu überwinden für seine Protagonisten Aufgabe des Willens zur Wahrheit ist. Man kann nicht untertauchen, schreibt Andersch in "Die Rote", man kann fortgehen, aber nur, um zu entdecken, daß man wieder irgendwo angekommen ist. Man verläßt Menschen, um unter Menschen aufzutauchen. Migration ist nie nur eine Frage des Woher, sondern auch des Wohin, also eine Frage um das Auffinden von Heimat.

In Abbas Khiders Flüchtlingsroman "Ohrfeige" von 2016, in dem ein Flüchtling ein Fallbearbeiterin in der Asylbehörde gefangennimmt, fesselt und ihr seine Geschichte erzählt, fragt der Protagonist: "Was bedeutet es für mich, wenn ich weder in der Heimat noch in der Fremde leben darf?" Ankommenmüssen aber nicht Ankommendürfen führt zu Wut und manchmal auch zu Gewalt. In Alex Weddings "Ede und Unku", aus der DDR-Schulliteratur bekannt, geht es um die Freundschaft mit einem kleinen Zigeunermädchen: "Ich hatte in meinen Zigeunerfreunden interessante, liebenswerte Menschen kennengelernt, die das schwere Leben von Nomaden leben mußten. Sie waren in unserer Heimat Fremde, denen man mit Vorurteilen und Verachtung begegnete, und die dies mit Mißtrauen, ja Haß, vergalten. Besonders haßten sie Polizei und Behörden, die ihnen ständig nachstellten, sie kein Gewerbe ausüben, sie nirgends Fuß fassen lassen wollten." Und auch bei Khiders "Ohrfeige" lernt man den Haß auf kafkaeske Behörden und repressive Staatsapparate verstehen.

Je weniger das Ankommen erlaubt, ermöglicht wird, um so stärker ist der Wunsch nach Rückkehr in eine imaginierte, romantisierte alte Heimat, nach auch ideologischer Regression in die gute alte Zeit. In seinem Roman "Landnahme" läßt Christoph Hein eine konservative Figur die Heimatfrage nach rechts auflösen: "Ich werde in einem Jahr 60, dann bin ich ein alter Mann. Und ich begreife, was ich früher nicht verstanden habe, worüber ich gelacht habe, nämlich daß wir alle einen Platz auf dieser Erde haben. Wir haben einen Platz zugewiesen bekommen, und der gehört zu uns und wir zu ihm. Wenn man diesen Platz aufgibt, dann gehört man nirgendwo hin. So ist nun mal diese Welt. Und dieser Platz hat etwas mit Geburt zu tun. Wo du geboren wurdest, da ist deine Heimat, und nur dort bist du daheim. Und wenn du diesen Platz verläßt, dann gibst du deine Heimat auf. Dann kannst du vielleicht in deinem Leben viel erreichen, vielleicht mehr, als wenn du nicht weggegangen wärst, aber deine Heimat hast du verloren. Das merkt man erst, wenn man so alt geworden ist wie ich."

Heimat ist hier statisch, nicht beweglich, widerspricht jedoch der konkreten Lebenserfahrung. Mich jedenfalls trägt man nur mit den Füßen zuerst aus Berlin wieder raus und nach Meinerzhagen bringen mich keine zehn Pferde wieder rein, so der Referent. Der englische Volksmund sagt: You can take the boy out of Yorkshire, but you can't take Yorkshire out of the boy. Man kann jedoch Menschen aus ihrer Heimat rausnehmen, wenn man ihnen eine neue Heimat gibt. Daher ist die abstrakte Dialektik Emily Hensons, "the son tries to forget, the grandson tries to remember", schlicht und ergreifend falsch. Dem statischen Heimatministerium von Seehofer und der FPÖ als Heimatpartei kann man mit Brecht, Bloch, Tucholsky und Degenhardt auch eine Heimat als Werden entgegenstellen.

Im folgenden ging Solty auf verschiedene Migrationsliteraturen in Deutschland ein, die sich thematisch unterscheiden lassen. Mit der kapitalistischen Modernisierung geht eine Binnenmigration in die Stadt einher, und so hat Norbert Niemann in seinem Band "Erschütterungen" darauf hingewiesen, daß die Massenflucht in die Städte die Literatur des 21. Jahrhunderts prägen wird. Findet diese Migration hier statt, ist sie häufig eine zu höherem sozialen und kulturellen Kapital, wofür Didier Eribon und als Roman Edouard Louis stehen. Der Erzähler Sebastian Brandt in Andreas Baums "Wir waren die neue Zeit" über die Hausbesetzerbewegung in Berlin-Friedrichshain flieht vor der Spießigkeit des Lebens in der westdeutschen Provinz. Es gibt aber auch Binnenmigration aufs Land wie in Paul Gurks spätexpressionistischem Roman "Berlin", wo die Stadt selbst schon die kleinen Dörfer erreicht hat. Virginie Despentes schreibt in "Das Leben des Vernon Subutex" über einen sozial abgestiegenen ehemaligen Besitzer eines Schallplattenladens: "Allmählich und ohne daß es ihm auffiel, hatten sich viele Freunde in die Provinz verzogen, weil sie Frau und Kinder hatten und nicht mehr in einer 30-Quadratmeter-Wohnung hausen wollten oder weil Paris zu teuer war und sie sicherheitshalber in ihre Heimatstadt zurückgekehrt waren. Wenn du über 40 bist, duldet dich Paris in seinen Mauern nur noch als Eigentümerkind, der Rest der Bevölkerung setzt seinen Weg anderswo fort." Bedeutet diese Migration, daß die verdrängten Künstler ihren Liberalismus, Kosmopolitismus und Humanismus aufgeben oder bedeutet es, daß sie diese Kunst in die Provinz tragen? Die Thematik eines Hinterlands, in dessen Vakuum zunehmend Rechtspopulisten stoßen, wird uns maßgeblich beschäftigen, so der Referent.

Migranten werden teilweise romantifiziert, als wären es die neuen revolutionären Subjekte. Es sollte jedoch neben dem Recht zu migrieren auch das Recht zu bleiben geben, das sei strategisch gesehen ein wichtiger Angelpunkt, um der AfD Herr zu werden. Es ist kein Zivilisationsideal zu sagen, ich bin gern in Berlin, aber es ist auch keines zu sagen, die Leute müssen aus der Provinz in die großen Städte fliehen und dort um prekäre Jobs und hohe Mieten konkurrieren. Sie sollten auch ein Recht haben, in ihren Heimatorten zu bleiben, was jedoch angesichts der ungleichen Entwicklung des Kapitalismus nicht zu bewerkstelligen ist.

Bei der Migrationslitertur im Kalten Krieg wie Eugen Ruges "In Zeiten des abnehmenden Lichts" oder Regina Scheers "Machandel" geht es um die Ost-West-Richtung, mit der umgekehrten Richtung befaßt sich etwa Ronald M. Schernikau. Das klassische Thema der deutschen Emigration sind natürlich die Exilliteraten und die Literatur über das deutsche Exil vor faschistischer Verfolgung und Krieg wie Anna Seghers "Transit", Brechts "Flüchtlingsgespräche", "Sansibar oder der letzte Grund" von Alfred Andersch, Klaus Manns Novelle "Flucht in den Norden" oder Lion Feuchtwangers "Wartesaal"-Trilogie. Interessant ist, wie auch hier der Heimatgedanke verhandelt worden ist. Walter Mehring hatte 1933 im "Emigrantenchoral" noch trotzig verkündet: "Die ganze Heimat und das Vaterland, das nimmt der Emigrant von Mensch zu Mensch, von Land zu Land, und wenn sein Lebensvisum abläuft mit ins Grab." Einige Jahre später mußte er dann in seinen "Briefen aus der Mitternacht" über die vielen deutschen Migranten schreiben, die nicht ankommen durften. Viele, die sich das Leben nahmen, Kurt Tucholsky in Schweden oder Ernst Teller in New York. Die Problematik des Ankommens ist fest in die deutsche Literatur eingeschrieben, wie Solty unterstreicht.

Bei der vielfältigen Literatur der Gastarbeiterinnen erachtet er die ideologischen Kämpfe entlang des Links-Rechts-Schemas für den wichtigsten Gesichtspunkt. Man kennt es von den Auseinandersetzungen zwischen Kurden und Türken, ein wunderbares Beispiel ist Imran Ayatas "Mein Name ist Revolution" mit Onkel Ahmet: "Ich bleibe bis zum Tod Marxist". Heimat ist dabei nicht unbedingt mit Deutschland verbunden, wohl aber mit der Stadt, in der man lebt. So heißt es bei Ayata in einem Gespräch zwischen zwei Migranten: "Sag mal, woher kommst du eigentlich? Weißt du doch, aus Berlin. Nein, ich meine woher aus der Türkei? Vor dir sitzt ein Authentic-Berliner, geboren dort, Schule dort, Uni dort, Arbeit dort, alles dort. Ach, komm schon! Woher ist deine Familie ursprünglich?" Migranten sind zunächst einmal mehrheitlich Arbeiter, Kleinhändler und kleine Warenproduzenten, und die Migrationsfrage sollte dementsprechend nicht von der Klassenfrage getrennt werden, weil sie sonst zur Essentialisierung neigt. Wir lernen aus der materialistischen Rassismustheorie: Nicht weil die Migranten minderwertig sind, sind sie unten, sondern weil sie unten sind, können sie als minderwertig erscheinen.

Solty nannte aus der Literatur der Flüchtlingskrise beispielsweise Elena Messner mit "In die Transitzone", den bereits erwähnten Abbas Khider und Olga Grjasnowas Roman "Gott ist nicht schüchtern", der zwar zu zwei Dritteln in Syrien spielt, aber die Revolte auf liberale Fragestellungen reduziert. Dann ging er abschließend auf die Migrationsfrage von Menschen ein, die nicht migrieren, aber darunter leben, daß ein Staatswesen migriert ist. Im Feuilleton wurde zuletzt lebhaft diskutiert, daß die Ostdeutschen eigentlich Migranten sind und die gleichen Anforderungen an sie gestellt werden, sich zu integrieren, keine Nostalgie zur DDR zu pflegen, daß sie ihre Vergangenheit nicht mitbringen dürfen, sondern sie abgeben müssen unter der offiziellen Geschichtsschreibung der Bundesrepublik. Überrepräsentiert sind Ostdeutsche nur als einfache Rekruten in der Bundeswehr und als Afghanistan-Soldaten. In allen anderen Bereichen wie der Staatsverwaltung, den Hochschulen oder der Justiz sind sie unterrepräsentiert. Das hat mehr mit einer Kolonialisierung und weniger mit einer Wiedervereinigung zu tun. Zu dieser Thematik gibt es zahlreiche literarische Beispiele bei Jenny Erpenbeck, Volker Braun, Peter Richter, Ingo Schulze oder Peter Hacks. Man sollte dieses Kapitel der Heimatlosigkeitserfahrung von Ostdeutschen sehr viel stärker schreiben, zumal man diese nicht von dem Aufstieg der AfD trennen kann. Ostdeutsche Ideale und Erinnerungen an die DDR leben weiter, werden aber als völkische Ideologien umkodiert. Daß den Ostflüchtlingen mit denselben Ressentiments begegnet wurde wie heute den Kriegsflüchtlingen aus Syrien, wissen wir, literarisch repräsentiert findet man das bei Christoph Hein. Wenn man diese Grenzen einreißen kann, was Migration eigentlich bedeutet, dann kann man dem Rechtspopulismus leichter etwas entgegensetzen, so der Referent. Die Migration findet in diesem Land ständig statt und sie kommt nicht von außen, denn ihre Gründe werden hier geschaffen.


Auf dem Podium mit Mikro - Foto: © 2018 by Schattenblick

Thomas Wagner
Foto: © 2018 by Schattenblick


Plädoyer für eine progressive linke Heimatdiskussion

Wie Thomas Wagner in der anschließenden Diskussion zu bedenken gab, spiegeln die drei Arenen eher die politische und mediale Verarbeitung wider, während der rechte Diskurs bei AfD und Pegida breiter angelegt sei und Gerechtigkeit oder moralische Ökonomie einschließe. Er ergreife viele Leute und entfalte Wirksamkeit, werde aber im Diskurs des politischen Systems nicht abgebildet. Stefan Schmitzer bezweifelte, daß man nur das Nutzenelement aus der Migrationsdebatte herausnehmen müsse, um den Pegidisten das Wasser abzugraben. Das sei bei ihnen ohnehin nur ein Scheinargument, da man es nicht mit Kalkül, sondern einem psychologisch aufgeladenen Phänomen der Kränkung zu tun habe.

Hannes Schammann ging darauf mit dem Ansatz ein, daß die Linke womöglich im "liberalen Paradoxon" gefangen sei, wie es James Hollifield 1992 formuliert hat. Demnach sind liberale Demokratien im Zwiespalt zwischen Öffnung und Schließung der Grenzen gefangen. Internationale Verflechtungen und Globalisierung drängen auf Öffnung, aber ein nationalstaatliches Wohlfahrtssystem scheint Schließung zu erzwingen. Nur wenn man das politische System insgesamt in Frage stelle, könne man dieses Dilemma verlassen. Mit Blick auf den Einwand, daß AfD-Wähler eher nicht von sozialem Abstieg betroffen oder bedroht seien, verwies Schammann auf den Begriff der relativen Deprivation. Es gehe nicht um die absolute Stellung im Schichtsystem, sondern darum, welche Abstiegsängste vorherrschen. Diese seien in der oberen Mittelschicht weit verbreitet, die sich zerrieben fühlt. Die Schlacht gegen Pegida gewinne man nicht in der wirtschaftspolitischen Debatte, sondern bei der Identität: Es gelte, das Solidaritätsverständnis neu zu beleben und damit den leidigen Heimatbegriff zu ersetzen.


Auf dem Podium - Foto: © 2018 by Schattenblick

Norbert Niemann, Michael Wildenhain, Richardt Gebhardt
Foto: © 2018 by Schattenblick

Michael Wildenhain zufolge lebt der rechte Diskurs oftmals von Zuweisungen, die sich die Leute im Alltag selber geben. Das Sarrazin-Buch habe viele Türen geöffnet, wobei sich die Leser oftmals selbst gar nicht als rassistisch empfanden. Beispielsweise fänden sich Lehrer in Kreuzberg, die in ihrer Klasse die einzigen deutschen Muttersprachler sind, in der öffentlichen Debatte nicht wieder. Der Begriff der gefährlichen Klasse konterkariere die Debatte um Migration und Integration auf produktive Weise.

Norbert Niemann zitierte Hannah Arendt, die in ihrem frühen Text "Wir Flüchtlinge" (1943) sinngemäß sagt, daß man als Flüchtling auf ewig an einem Ort dazwischen gefangen sei. Wir kommen um die Frage der Identität nicht herum, weil sich da die Angst ballt und auf einer emotionalisierten Ebene artikuliert. Heimat sei derart mit Mythos, Schicksal, Affekt aufgeladen, daß ihm gut gefalle, dem politisch mit dem Begriff Solidarität entgegenzutreten. Die Globalisierung macht uns im Endeffekt alle zu Migranten, die nirgends einen festen Punkt haben.

Ingar Solty nahm abschließend zum Dissens um den Heimatbegriff Stellung. Die neoliberale Ideologie behandle Natur und Menschen so, als seien sie Waren. Es seien jedoch insofern fiktive Waren, als Menschen so nicht funktionierten und Geschlechterverhältnisse, familiäre Bindungen oder Pflegeaufgaben dem widersprächen. Der Kapitalismus unterlaufe Heimat ständig, ohne sie völlig beseitigen zu können. Es existiere eine progressive linke Heimatdiskussion, die diese als nicht statisch, sondern werdend auffaßt. Als Fluchtpunkt utopischen Denkens bei Bloch, bei Tucholsky als Liebe zum Ort, an dem man lebt, bei Brecht verknüpft mit konkretem solidarischen Handeln. Wenn wir dieses Land verbessern, können wir es auch lieben. Man sollte diese Diskussion führen, da Menschen Beständigkeit in einem Kapitalismus brauchen, der diese fortgesetzt untergräbt.

Zur aufgeworfenen Frage nach der Position der Rosa-Luxemburg-Stiftung in der Migrationspolitik verwies er auf auf seinen Artikel "Sicherheit - ein heißes Eisen für die Linke" (2015), in dem er sich damit auseinandersetzt, ob es einen linken Sicherheitsbegriff gibt. Er kritisierte, daß die Linke zu einem Anhängsel von Merkel wurde. Sie sagt, wir schaffen das, bestimmt aber die Bedingungen nicht, unter denen das möglich ist. Die reale Erfahrung im Hinterland, daß es angeblich nicht für alle reicht, greife die Rechte auf, die stets Ungleichheit begründe und rechtfertige, wofür sie sich der Biologisierung und Naturalisierung bedient. Er vertrete demgegenüber, daß es für alle reichen kann, wenn wir uns die Reichen nicht mehr leisten. Das sei natürlich nicht nur eine Verteilungsfrage, sondern erfordere die Revitalisierung der Gewerkschaften, die Wiedergewinnung von Tarifverhandlungsmacht und vieles mehr.


Waggons und Lokomotive als Ausstellungsexponate - Fotos: © 2018 by Schattenblick Waggons und Lokomotive als Ausstellungsexponate - Fotos: © 2018 by Schattenblick Waggons und Lokomotive als Ausstellungsexponate - Fotos: © 2018 by Schattenblick

Stillgelegte Mobilität im LWL Industriemuseum
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Ende eines Abstellgleises und Königskerze - Foto: © 2018 by Schattenblick

Am Ende Platz für neues Wachstum ...
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Fußnote:


[1] www.ksta.de/einwanderung--dumme--ignorante-deutsche--6503222


Berichte und Interviews zum Symposium "Richtige Literatur im Falschen 2018" im Schattenblick unter:
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28. August 2018


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