Schattenblick → INFOPOOL → DIE BRILLE → REPORT


BERICHT/095: Messe links - Antigentrifizierungsinitiativen vereinigt euch ... (SB)



Gerade weil hier grundlegende Fragen der Produktion, Aneignung und Zirkulation des gesellschaftlichen Mehrprodukts berührt werden, sieht Harvey in solchen urbanen Kämpfen, wie sie gegenwärtig unter der Parole "Recht auf Stadt" geführt werden, eine zentrale Triebfeder für emanzipatorische Veränderungen der Städte sowie der Gesellschaft im allgemeinen.
Lisa Vollmer: Strategien gegen Gentrifizierung [1]

Geeigneter und erschwinglicher Wohnraum ist ein Grundbedürfnis des Menschen und ein unverzichtbares Element eines Lebens in Würde. Wohnmöglichkeiten mit angemessenem Komfort in einem Umfeld, das seinen sozialen und kulturellen Interessen entspricht, zeichnen eine lebenswerte Gesellschaft aus. Dennoch ist in der Verfassung der Bundesrepublik ein einklagbares Recht auf Wohnen nicht vorgesehen. Deutschland hat zwar die allgemeinen Menschenrechtserklärungen unterschrieben, aber das dort explizit festgeschriebene Recht auf Wohnen nicht ratifiziert. Für diese zentrale gesellschaftliche Sphäre gibt es weder eine Kollektivvertretung noch eine öffentliche Aufsicht, die den Schutz des Einzelnen etwa bei Abschluß eines Mietvertrages hinsichtlich mietrechtlicher Vereinbarungen kontrolliert.

In einer urbanen Umwelt, die in ihrem Warencharakter auf dem Privateigentum an Grund und Boden basiert, wird das Grundbedürfnis nach Wohnraum in sein Gegenteil verkehrt. Durch Produktion des Mangels werden Verhältnisse geschaffen, die steigende Renditen garantieren. Das in dieser Investitionssphäre vorhandene fixe Kapital wird traditionell als Anlagemöglichkeit betrachtet, deren Sachwert Sicherheit gegen Wertverfall bieten kann. Um Immobilien im Verhältnis zu Investitionen, die in der Industrie oder auf dem Finanzmarkt weit höhere Renditen abwerfen, attraktiv zu machen, entwickelte man im Zuge der Liberalisierung und Deregulierung der Finanzmärkte neue Formen der Immobilienfinanzierung. Fonds- und Private-Equity-Gesellschaften entwarfen gewinnträchtige Anlagestrategien, Finanzprodukte wie Asset Backed Securities und andere Derivate, in denen Schuldentitel gebündelt wurden, erfreuten sich bei den großen institutionellen Investoren enormer Beliebtheit. Die erhöhte Umlaufgeschwindigkeit von Schuldverschreibungen, denen Immobilienkredite mit hohem Ausfallrisiko zugrunde lagen, führte denn auch zu jener Blasenbildung auf dem US-amerikanischen Immobilienmarkt, deren Implosion als Initialzündung für die Krisenentwicklung 2007 gilt.

Als staatliche Infrastruktur sichert gebaute Umwelt die Voraussetzungen kapitalistischer Produktion, Zirkulation und Konsumption, ohne notwendigerweise einen allgemeinen Nutzen zu haben, der über die Aufwertung des Standortes hinausgeht. Der allgemeine Nutzen, der mit der staatlichen Bereitstellung privatwirtschaftlich genutzter Produktionsvoraussetzungen unterstellt wird, entspringt dem Glauben an ein Wachstum, das allen Menschen zu mehr Wohlstand verhilft. Dies hat sich nicht nur mit der realen Lohnsenkung der 2000er Jahre als Legende erwiesen, sondern wird auch durch den Verzicht des Staates darauf, eigenständig erschwinglichen Wohnraum zu schaffen, widerlegt. Statt dessen machen neoliberale Politik und kapitalistische Finanzwirtschaft das bürgerliche Gemeinwesen selbst zum Investitionsobjekt mit allen bekannten negativen Folgen für seine Subjekte. So gibt es für eine Politik des sozialen Wohnungsbaus unter den auf Kapitalinteressen verpflichteten Parteien keine Lobby, während der Mangel an erschwinglichem Wohnraum alle ausschließt, die die verlangten hohen Mieten nicht bezahlen können. Vielmehr wird versucht, denjenigen Teil des Verdienstes von Lohnabhängigen, der auf die Wohnkosten entfällt, zu vergrößern und auf diese Weise in großem Stile umzuverteilen, was nach der Abschöpfung des Mehrwerts vom Lohn der Arbeit geblieben ist.

Systematisch erzeugter Leerstand und das Verrottenlassen von preiswertem Wohnraum ist eine Möglichkeit, dem Immobilienkapital mit Hilfe politischer Entscheidungen zuzuarbeiten. Die künstliche Verknappung des Wohnungsangebotes und damit ein Anstieg der Miet- und Immobilienpreise führt dazu, daß die Bürger über ihre Steuern für die Erhöhung ihrer Mieten herangezogen werden. In diesem Sinne läßt sich sogar davon sprechen, daß die Gentrifizierung ganzer Städte zu einer bewußten Strategie der Politik avanciert ist. In Deutschland sind die Mieten zwischen 2012 und 2016 um durchschnittlich 15 Prozent gestiegen, in Ballungszentren sogar noch wesentlich mehr. Für Menschen mit geringem Einkommen schlägt das am gravierendsten zu Buche, und so müssen viele Rentnerinnen und Rentner 60 Prozent ihres Einkommens fürs Wohnen ausgeben. Sie können notgedrungen an Kleidung, am Essen, an der Kultur sparen, aber nicht an der Miete, sonst droht die Zwangsräumung!

Die hohe Hürde, doch zugleich die Errungenschaft des geführten Mietkampfes ist die Rückgewinnung kollektiven Widerstands, wo dieser gesetzlich und politisch am wenigsten vorgesehen ist. Wie weit dieser Widerstand reicht und zu welchen Fragen er vorstößt, kann nur von den Betroffenen in den konkreten Auseinandersetzungen entschieden werden. Jedenfalls zeichnet sich ab, daß die Eigentumsfrage zwangsläufig aus höchst unterschiedlichen Interessen gestellt wird, die folglich einer rückhaltlosen Klärung bedürfen.


Buchcover 'Strategien gegen Gentrifizierung' - Foto: © 2018 by Schattenblick

Foto: © 2018 by Schattenblick


"Strategien gegen Gentrifizierung"

Im Rahmen der 23. Linken Literaturmesse in Nürnberg stellte die Aktivistin Chrissy das Buch "Strategien gegen Gentrifizierung" von Lisa Vollmer vor. Die kritische Stadtforscherin Lisa Vollmer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Europäische Urbanistik der Bauhaus-Universität Weimar. Ihre Promotion hat sie zu aktuellen MieterInnenbewegungen in Berlin und New York verfaßt. Außerdem ist sie selbst seit vielen Jahren in der Berliner MieterInnenbewegung aktiv und deutschlandweit mit Mietprotesten vernetzt. Sie ist Redaktionsmitglied bei "sub/urban. zeitschrift für kritische stadtforschung".

Chrissy gehört einer Gruppe von AktivistInnen an, die Stadtteilarbeit in Nürnberg-Gostenhof macht, einem armen Arbeiterviertel mit einer alten Häuserstruktur, die inzwischen zunehmend durch Gentrifizierung in Wert gesetzt wird. Sie wohnt selbst in diesem Stadtteil und bringt die Erfahrung aus geführten Mietkämpfen ein, auf deren Grundlage sie Lisa Vollmers Buch würdigt, ohne mit kritischen Einwänden hinter dem Berg zu halten. Die Autorin führt mit einer Analyse in die Thematik ein, um dann in einem zweiten Teil Gegenstrategien zu erörtern.


Die Verdrängung ärmerer Bevölkerungsschichten

Gentrifizierung wird in den Medien zumeist oberflächlich als ein Wandlungsprozeß beschrieben, in dessen Verlauf sich Lebensstile, Konsumangebote und kulturelles Umfeld in einem Stadtviertel verändern. Die Schuld an diesem Wandel der Nachbarschaft wird Gentrifyern und hippen Bars gegeben. Politökonomische Erklärungen für Gentrifizierung, die weite Teile der kritischen Forschung zum Thema dominieren, kommen in dieser Beschreibung kaum vor. Dabei heißt Gentrifizierung vor allem eines: Die Verdrängung ärmerer Bevölkerungsschichten aus ihrem Viertel, wie die Autorin hervorhebt. Es handelt sich um den Austausch von Nachbarschaften, und das ist nicht eine Nebenwirkung, sondern das Phänomen an sich. Gentrifizierung ist als Begriff politisch umkämpft. Lisa Vollmer unterscheidet zwischen dem negierenden, dem verharmlosenden, dem positiven und dem kriminalisierenden Diskurs.

All diese Diskurse kennt Chrissy aus ihrer Stadtteilarbeit. Die Stadt Nürnberg behauptet schlichtweg, eine Verdrängung finde nicht statt. JournalistInnen wenden ein, in München könne man vielleicht davon sprechen, aber in Nürnberg doch nicht. Verharmlosend wird eingeräumt, daß sich schon etwas verändert, es aber lange nicht so schlimm wie anderswo sei. Außerdem müsse man das positiv sehen, da Gostenhof sauberer und sicherer geworden sei. Das bekannteste Beispiel für den kriminalisierenden Diskurs dürfte Andrej Holm sein, der wegen Verdachts auf Terrorunterstützung festgenommen wurde, weil eine militante Gruppe das Wort "Gentrification" verwendet hat. Daraus wurde geschlossen, daß der Urheber dieses Begriffs in Deutschland mit dieser Gruppe kooperieren müsse. Die Erfahrungen in Nürnberg hätten nicht ganz auf dieser Ebene gelegen, doch sei nach einem eskalierten Streit mit einem Hauseigentümer in Gostenhof mehr als ein Jahr lang ein Versammlungsverbot an dem betreffenden Platz erlassen worden.


Eine Warnung vor Ablenkungsmanövern

Die Definition von Gentrifizierung ist deshalb für AktivistInnen wichtig, weil sich daraus die Gegenstrategien ableiten. Geht man vor allem von einem Wandel von Lebensstil und Konsumverhalten aus, richtet sich die Strategie gegen die Symbole und Institutionen dieses Wandels, also gegen teure Cafés, hippe Boutiquen und die Leute, die sie nutzen. Versteht man Gentrifizierung nur als Aufhübschen von Nachbarschaften, ist die logische Konsequenz, diese Aufwertung zu bekämpfen. Beides wäre fatal. Andere Lebensstile sind nicht der Grund für Gentrifizierung, sie sind nur ihr Ausdruck. Und richtet man sich mit gezielter Zerstörung gegen die Aufwertung von Nachbarschaften, verliert man das Verständnis vieler NachbarInnen, denn auch ärmere Bevölkerungsschichten haben ein Recht auf lebenswerte Nachbarschaften, so die Aktivistin.

Andrej Holm drückt es so aus: Kampagnen, die sich auf solche Abschreckungs- und Deattraktivierungsstrategien konzentrieren, laufen allerdings Gefahr, sich an den Ergebnissen der Gentrification wie neuen Kneipen und Läden abzuarbeiten oder vereinfachte Feindbilder von Yuppies, Schwaben oder TouristInnen zu bedienen. Solche Abschreckungs- und Deattraktivierungsstrategien sind wunderbare Ablenkungsmanöver von dem, um was es bei Gentrifizierung eigentlich geht, die Interessen der Immobilienwirtschaft. Denn dann geht es nur noch um unterschiedliche Lebensstile oder Kulturen, statt darum, die Wohnungsversorgung zu dekommodifizieren. Dekommodifizieren heißt, Wohnung nicht länger eine Ware sein zu lassen und von Gewinnerwartungen zu entkoppeln. Nur wenn man Gentrifizierung als eine immobilienwirtschaftliche und/oder staatliche Strategie versteht, kann man auch politische Strategien gegen sie finden, die nicht nur an der Oberfläche kratzen.


"Soziale Durchmischung" heißt Vertreibung

Was bedeutet es für Menschen, wegziehen zu müssen? Jungen Leuten mag es leichter fallen, woanders hinzugehen. Für viele andere Menschen ist es jedoch verheerend, ihre Netzwerke verlassen zu müssen. Für ärmere Menschen, Alleinerziehende, Frauen, RentnerInnen, die auf die Hilfe ihrer Nachbarschaft angewiesen sind, teilweise gegenseitig auf die Kinder aufpassen oder füreinander einkaufen gehen, sind diese Strukturen außerordentlich wichtig. Solche Infrastrukturen in einem neuen Viertel wieder aufzubauen, die oftmals innenstadtfern sind, scheitert meist. Zum anderen sind Zusammenhänge nicht zu ersetzen, wenn beispielsweise Menschen ausländischer Herkunft auf einen Arzt in der Nähe angewiesen sind, der ihre Sprache spricht.

Wie Chrissy weiter ausführt, sparen Menschen deshalb an allem möglichen, um ihre teuere Miete bezahlen zu können, selbst wenn der Kühlschrank am Ende des Monats leer ist. Zum anderen rücken sie notgedrungen enger zusammen, man hat wieder Mehrgenerationenhaushalte mit erwachsenen Kindern, die lange nicht ausziehen, weil sie nicht genug Geld dafür haben. Als Legitimierungsmoment der Gentrifizierung wird oft die soziale Mischung angeführt. Lisa Vollmer erklärt dazu, daß Segregation, also die Isolierung bestimmter Gruppen der Gesellschaft, politisch inszeniert ist. Es war nie eine freiwillige Entscheidung der sogenannten Gastarbeiterfamilien, in sanierungsbedürftige Häuser zu ziehen. Später wurden diese Menschen für die Segregation verantwortlich gemacht. Ihre Wohnviertel wurden in Ghettos umdefiniert, denen alles mögliche Negative angedichtet wird. Es ist eine kolonialistische Idee, die erleuchtete Mittelschicht dort ansiedeln zu wollen, um mit sozialer Durchmischung eine soziale Kontrolle über das zu erziehende Prekariat zu erzielen. Vollmer argumentiert auch damit, daß es in der öffentlichen Debatte nie zur Disposition steht, reiche Viertel zu durchmischen. Die VerliererInnen dieser Durchmischung sind immer die ärmeren Leute, die durch die reicheren verdrängt werden. Warum sollten sich InvestorInnen mit 50 Prozent Profit zufriedengeben, wenn sie 100 haben können? In der Realität endet die sogenannte Durchmischung nicht, vielmehr geht die Verdrängung immer weiter, vor allem wenn der Staat nicht regulierend eingreift, sondern alles dem sogenannten Markt überläßt.


Instrument der kapitalistischen Stadtproduktion

Im Kapitel über Gentrifzierung als Teil der kapitalistischen Stadtproduktion grenzt sich die Autorin von diversen akademischen Diskursen wie auch dem Alltagsverständnis von Gentrifizierung ab und richtet den Blick auf die ökonomische Basis. Ihre These: Städte nehmen im neoliberalen System eine neue Rolle ein. Waren sie in der fordistischen Zeit eher Ort der Reproduktion und Konsumption, sind sie heute selbst Orte der Produktion. Städte fungieren als Unternehmen, buhlen um die heiß begehrten Steuern und Investitionen und müssen sich im Rennen um die lukrativen Mittelschichtsfamilien behaupten. Und nicht zuletzt ist die Stadt mit ihrer Baulichkeit eine Investitionsfläche.

Die Autorin vertieft unter Bezugnahme auf den marxistischen Geographen und Sozialtheoretiker David Harvey die Untersuchung dahingehend, daß in der Produktion mehr Kapital angehäuft als reinvestiert wird. Das überschüssige Kapital wird unter anderem in die physisch gebaute Welt investiert, die sogenannten Immobilien, als scheinbar langfristig sicherer Hafen. Angesichts der massiven Häufigkeit, in der das geschieht, bekommt es einen spekulativen Charakter, wie das Platzen der Immobilienblase gezeigt hat, die den Beginn der Krise 2007 markiert. Aufgrund der Immobilität ist ein rascher Wechsel nicht so einfach wie bei anderen Gütern: Wenn in Nürnberg Wohnraum fehlt, nützen freie Wohnungen in Chemnitz nichts. Zudem gibt es auf dem Wohnungsmarkt diskriminierende Mechanismen wie Stigmatisierungen, die den Zugang zu Wohnraum von dem zu anderen Gütern unterscheiden.

Dazu schreibt die Autorin: Investitionen in die gebaute Umwelt verteilen sich räumlich immer ungleich. Die Krisen einzelner Nachbarschaften oder ganzer Wohnungsmärkte sind also kein Fehler im System, sie sind Teil des Systems der kapitalistischen Wohnraumproduktion. Insofern hat Engels Recht, wenn er sagt, daß die Wohnungsfrage nicht gelöst werden kann, solange die Wohnraumversorgung kapitalistisch organisiert ist. Mit Harvey läßt sich aber argumentieren, daß es sich bei der Wohnungsfrage sehr wohl um einen wichtigen Widerspruch des Kapitalismus handelt, der sich aus der besonderen Funktion der Städte im Kapitalismus ableitet. Somit kommt auch den urbanen Kämpfen eine besondere Rolle im Klassenkampf zu. Gerade weil hier grundlegende Fragen der Produktion, Aneignung und Zirkulation des gesellschaftlichen Mehrprodukts berührt werden, sieht Harvey in solchen urbanen Kämpfen, wie sie gegenwärtig unter der Parole "Recht auf Stadt" geführt werden, eine zentrale Triebfeder für emanzipatorische Veränderungen der Städte sowie der Gesellschaft im allgemeinen.


Eine Form der Bevölkerungspolitik

Ist Gentrifizierung eine Folge der gesteigerten Nachfrage der Mittelschicht oder vielmehr ein gelenkter Prozeß, in dem Politik und Wirtschaft künstlich ein Angebot kreieren? Laut Vollmer muß man beides verbinden, um zu einem brauchbaren Ergebnis zu kommen. Betrachtet man die kulturelle Dynamik der Gentrifizierung, wird klar, daß nachfrageseitige und angebotsseitige Erklärungsansätze integriert werden müssen, um ein vollständiges Bild zu erhalten. Denn eine ökonomische Ertragslücke läßt sich nur nutzen, wenn potentielle Investoren an den Imagewandel eines Viertels glauben. Da der Wohnstandort für Mittelschichten auch ihre Individualität ausdrücken soll, muß er als besonders schön und aufregend beschrieben werden. Die ökonomische Inwertsetzung der Stadt ist auf die symbolische, ästhetische und kulturelle Aufwertung von Nachbarschaften angewiesen. Was in Wert gesetzt wird, ist letztlich die Urbanität von Nachbarschaften, die von den dort Lebenden und Arbeitenden geschaffenen sozialen Beziehungen.

Gentrifizierung folgt nicht zwangsläufig der vielfach beschriebenen Abfolge von Schritten, wonach zuerst die Pioniere kommen müssen, worauf dann Zug und Zug die Veränderung in Gang gesetzt wird. Städte können das auch selber tun. Wenn Kommunen selbst wie Unternehmen gewinnorientiert agieren, ist dies geradezu eine logische Folge. Holm hat dafür den Begriff der "Immobilienverwertungskoalition" geprägt, um das Zusammenwirken von privatwirtschaftlichen und staatlichen Akteuren zu beschreiben. Will eine Stadt einem innenstadtnahen Gebiet, das für die Wirtschaft noch nicht ausreichend attraktiv ist, zum Investitionsboom verhelfen, kann sie das mit den Instrumenten, die eigentlich zum Schutz von MieterInnen und zur Verbesserung der Situation zur Verfügung stehen, selbst in Angriff nehmen. Dabei ist laut Vollmer jede Form von Inwertsetzung, die Verdrängung nach sich zieht, Gentrifizierung. Deswegen ist von einer Generalisierung der Gentrifizierung die Rede. Auch kleinere Städte sind betroffen, da sie nur mithalten können, indem sie solche Aufwertungsprozesse vollziehen. Das betrifft nicht nur Deutschland, sondern reicht bis in die Favelas von Brasilien. Die Neoliberalisierung der Städte herrscht weltweit.

Vollmer bezeichnet Gentrifizierung daher sogar als Form der Bevölkerungspolitik: Suburbanisierung ist für Städte ein Problem, vor allem dann, wenn zahlungskräftige BewohnerInnen sich außerhalb der administrativen Grenzen der Stadt ansiedeln und so Steuereinnahmen verlorengehen, während die teuere Infrastruktur der Stadt weiter von ihnen genutzt wird. Städte haben ein großes Interesse daran, Mittelschichtshaushalte anzuziehen. Sie konkurrieren um diese Haushalte mit dem Umland und mit anderen Städten. Attraktivität für die Mittel- und Oberschicht wird in der Logik der unternehmerischen Stadt zum Standortfaktor in der Konkurrenz um Steuereinnahmen, höhere Kaufkraft und Ansiedlung von Unternehmen, da diese auf qualifizierte Arbeitskräfte angewiesen sind. Mittelschichtsförderung als Bevölkerungspolitik wird deshalb zum zentralen Kalkül von Stadtpolitik und staatlich initiierter Gentrifizierung.


Kriterien fundierter Gegenstrategien

Folglich müssen die Gegenstrategien bestimmte Kriterien erfüllen. Sollen Wohnungspolitiken Gentrifizierung entgegenwirken, müssen sie danach bewertet werden, ob sie dazu beitragen, das bezahlbare Segment für untere und mittlere Einkommensschichten auszuweiten, ob sie zur Dekommodifizierung des Wohnens beitragen, also das öffentliche und kollektive Wohnungsmarktsegment zuungunsten des privaten ausweiten, und ob sie zur Demokratisierung wohnungspolitischer Institutionen und stadtplanerischer Verfahren beitragen. Nur dieser Dreiklang aus Bezahlbarkeit, Dekommodifizierung und Demokratisierung könne das neoliberale Paradigma der Wohnungspolitik brechen, so die Autorin.

Wohnraum in kommunaler Hand bedeutet nicht automatisch eine Verbesserung, aber dieses Segment ist zumindest verhandelbar, indem Druck aufgebaut wird. Initiativen können auf eine Vielzahl bereits praktizierter Vorgehensweisen zurückgreifen. Veränderung des Erbbaurechts, das heißt Grund und Boden zu trennen und nur Verpachtung zuzulassen, ist eine davon. Es entsteht kein neues Eigentum, das Grundstück wird zu einem relativ niedrigen Zinssatz verpachtet. In den USA gibt es mit dem Community Land Trust ein ähnliches Modell, das ebenfalls Boden und Grundstück trennt wie auch eine paritätische Verwaltung von Nachbarschaft und stadtpolitischen Akteuren vorsieht. Allerdings haben die meisten Kommunen bereits ihre gesamte Fläche verscherbelt, so daß die MieterInnen nicht darum herumkommen, sich zusammenzuschließen und zu wehren, so Chrissy.


Berichte aus geführten Mietkämpfen

Sie berichtete von einem Mietkampf in Nürnberg, bei dem es auch um ihre Wohnung ging. Diese liegt in einer kleinen ehemaligen Siedlung von BahnarbeiterInnen mit Gärten, auf deren Fläche neu gebaut werden sollte. Vonovia, der größte Player der Immobilienbranche in Deutschland, kündigte als Eigentümer diese Gärten. Wie geht man dagegen vor? Man müsse zuerst das persönliche Problem kollektivieren und über Gespräche mit anderen Betroffenen auf eine politische Ebene bringen. Dann geht man zum Mietverein, der ein wichtiger Partner in solchen Kämpfen sei, und zu Initiativen wie der in Gostenhof. Das geht langsam voran, da für die Menschen, die schon lange da leben, der drohende Verlust mit großen emotionalen Problemen verbunden ist, über die man erst einmal sprechen muß, bevor Strategien entwickelt werden können. Es muß Öffentlichkeit geschaffen werden, damit man sich in diesem Machtkampf Gehör verschafft. Allerdings seien die Medien sehr schnellebig und wollten immer SprecherInnen haben, was für die BewohnerInnen eine hohe Hürde sei. Faktisch wurde die Kündigung der Gärten aus juristischen Gründen zurückgenommen, aber wie Chrissy einräumte, sei der Schwung aus dieser Bewegung raus.

In solchen Initiativen wird der neoliberalen Individualisierung ein kollektives Wir entgegengesetzt, so Vollmer. Recht auf Stadt für alle ist jedoch kein klassenunabhängiges Alle. Es geht um den Teil, der einfordert, nicht verdrängt, vertrieben und segregiert zu werden. Es bilden sich solidarische Zusammenhänge, die einen hohen Gebrauchswert für die nachbarschaftlichen Zusammenhänge haben, weil sie sich gegenseitig unterstützen.

Die Autorin führt Beispiele wie Kotti & Co und den umstrittenen Mietenvolksentscheid in Berlin, Park Fiction, Stadt von unten, Gängeviertel und St. Pauli für alle in Hamburg wie auch andere an. Dazu Kotti & Co: "Wir sind eine Vielfalt der politischen und sozialen Meinungen, Einschätzungen, Geschichten und Lebensentwürfe. Wir sind MieterInnen, mehr oder weniger zufällig zusammengewürfelt, teilen wir ein Dach über dem Kopf und vieles mehr, so wie eben auch den Ärger mit der Miete. Wir streben als Mieterinitiave keine identitäre Abgrenzung an. [...] Es bleibt bisher das Geheimnis der Senatsverwaltung, wie die Lockerung der Belegungsbindung und der Zuzug von reicheren Mieterinnen und Mietern mit der Verbesserung des sozialen Zusammenhalts zusammenhängen soll. Woher nehmen sie die Gewißheit, daß reichere Leute das Sozialgefüge verbessern? Wir erleben in unseren Häusern eher, daß die Reicheren oder die Studenten-WGs sich eher weniger engagieren und viel mehr ihren eigenen Interessen nachgehen. Welche Maßnahmen werden mit diesem mysteriösen Plan ergriffen, um die neu Hinzugezogenen, die ein höheres Einkommen haben, in den sozialen Zusammenhalt zu integrieren? Ist das Sozialgefüge schlecht, weil wir arm sind? Sind arme Menschen ein schlechtes Sozialgefüge?"

Wie Chrissy dazu anmerkt, habe Kotti & Co einen sehr langen und intensiven Prozeß bewältigt, den man eher nicht generalisieren könne. Sie würde nicht so weit gehen wie Lisa Vollmer, die generelle Merkmale von MieterInneninitiativen beschreibe und diese doch etwas idealisiere.

Die Autorin geht auch auf Partizipations- und Beteiligungsverfahren ein, mit denen es alle Initiativen irgendwann zu tun bekommen. Wie Chrissy dazu aus Gostenhof berichtet, soll der für das Viertel zentrale Jamnitzerplatz aufgewertet werden. Im Beteiligungsverfahren werden mittelschichtszentrierte Elemente wie Online-Befragungen, Veranstaltungen mit Workshop-Charakter und dergleichen angewendet, die ärmere Schichten ausschließen. Die Mietinitiative macht mit einer Unterschriftenkampagne gegen das Aufwertungsmoment mobil. Die Kommunen versuchen, die Initiativen einzuhegen, um am Ende ein unanfechtbares Ergebnis zu erwirtschaften.


Warum nicht gleich vergesellschaften?

Das Fazit der Autorin: Alles muß man selber machen! Das ist allerdings nicht für alle Menschen gleich machbar. Selbstverwaltung und Selbstbestimmung setzen eine grundsätzliche materielle Absicherung voraus und sind für Menschen in prekären Lebenssituationen deutlich schwieriger. In ihrer Schlußbemerkung gibt Lisa Vollmer ihren LeserInnen mit auf den Weg: Für politische AktivistInnen, die sich für ein Recht auf Stadt einsetzen möchten, ist es wichtig, die eigene habituelle Komfortzone zu verlassen und sich auf betroffene NachbarInnen, ihre Situation und ihre Sichtweisen einzulassen. Ein Treffen mit betroffenen MieterInnen läuft anders ab als das Plenum der Politgruppe. Das Bedürfnis, die eigene Lage zu beklagen, mag zu Anfang im Vordergrund stehen und nicht eine Debatte der politischen Ökonomie der Grundrente. Sich gemeinsam mit MieterInnen zu organisieren, erfordert einen langen Atem und nicht ein kurzes Reintervenieren. Soziale Kämpfe verantwortungsvoll zu führen und zu politisieren, geht nicht mit kurzfristigem Engagement. Wer bereit ist, sich einzulassen, wird mit neuen Erfahrungen und Horizonterweiterungen belohnt.

Chrissy würdigt in ihrem persönlichen Fazit das Buch als aufschlußreiche Analyse und gutes Handwerkszeug für alle, die MietaktivistInnen sind oder es noch werden müssen. Was ihr jedoch fehle, sei das Moment des Klassenkampfs im Rahmen der Gegenstrategien. Nach der Analyse der Städte im Kontext kapitalistischer Verwertung glitten die praktischen Konsequenzen in eine Art Kommunalismus ab. Ohne die Bedeutung des Drucks auf kommunaler Ebene in Abrede zu stellen, sollte doch das eigentliche Ziel die Aufhebung des Privateigentums sein, wovon die Häuser nur ein Teil sind. Angesichts des von Vollmer genannten Dreiklangs stelle sich die Frage: Warum nicht gleich vergesellschaften? Die Häuser denen, die darin wohnen! Der lange geforderte soziale Wohnungsbau sei nichtexistent, weshalb man sich die Forderung nach solchen Zwischenschritten sparen könne: Wir machen uns unglaubwürdig, wenn wir in diesen Zeiten immer noch nach staatlichen Strukturen rufen, und zwar egal, ob wir um unsere Wohnungen, unsere Parks, ob mit Geflüchteten für universelle Rechte oder gegen die zunehmende Faschisierung kämpfen!


Fußnote:


[1] Lisa Vollmer: Strategien gegen Gentrifizierung, Schmetterling Verlag Stuttgart 2018, 163 Seiten, 12,00 Euro, ISBN 3-89657-688-7


Berichte und Interviews zur 23. Linken Literaturmesse in Nürnberg im Schattenblick unter:
www.schattenblick.de → INFOPOOL → DIE BRILLE → REPORT:

BERICHT/087: Messe links - sich richtig stellen und richtigstellen ... (SB)
BERICHT/088: Messe links - Glut in der Asche ... (SB)
BERICHT/089: Messe links - G20, die Straße rebelliert ... (SB)
BERICHT/090: Messe links - die langen Arme der Türkei ... (SB)
BERICHT/091: Messe links - gewaltfrei fing es an ... (SB)
BERICHT/092: Messe links - das japanische Gesicht der Studentenrevolte ... (SB)
BERICHT/093: Messe links - vergessene Opfer ... (SB)
BERICHT/094: Messe links - Revolution geht anders ... (SB)
INTERVIEW/105: Messe links - Irrtum ausgeschlossen ...    Nick Brauns im Gespräch (SB)
INTERVIEW/106: Messe links - Protestparteienwahl entlädt soziale Qual ...    Werner Seppmann im Gespräch (SB)
INTERVIEW/107: Messe links - die Revolution jagt die Geschichte ...    Kurt Baumann im Gespräch (SB)
INTERVIEW/108: Messe links - von oben verworfen ...    Achim Szepanski im Gespräch (SB)
INTERVIEW/109: Messe links - Gleichberechtigung noch auf dem Weg ...    Ingrid Artus im Gespräch (SB)
INTERVIEW/110: Messe links - der Preis für die Stimme ...    Martin Balluch im Gespräch (SB)
INTERVIEW/111: Messe links - vorverurteilt ...    Inigo Schmitt-Reinholtz im Gespräch (SB)
INTERVIEW/112: Messe links - ökosozialistische Vision ...    Bruno Kern im Gespräch (SB)
INTERVIEW/113: Messe links - Dialektik der Führung ...    Lou Marin im Gespräch (SB)
INTERVIEW/114: Messe links - die Japanroten als Linksexoten ...    Gregor Wakounig im Gespräch (SB)
INTERVIEW/115: Messe links - Staatsorgane ungeprüft ...    Sylvia Köchl im Gespräch (SB)
INTERVIEW/116: Messe links - Doppelstrategie ...    René Arnsburg im Gespräch (SB)
INTERVIEW/117: Messe links - am Rande der Revolution ...    Gerd Stange im Gespräch (SB)


18. Dezember 2018


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang