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BERICHT/097: Messe links - revolutionäre Kontinuität ... (SB)



Im Mai 1968 stand Frankreich kurz vor dem Erfolg der sozialen Revolution. Es waren nicht nur Studierende, die der Aufbruch aus repressiven und restaurativen Verhältnissen auf die Straße brachte, es waren ArbeiterInnen und SchülerInnen, die die herrschende Ordnung zutiefst erschütterten und den Betrieb der kapitalistischen Maschine mit einem Generalstreik lahmlegten. Was vor 50 Jahren fast gelang, erlebte termingerecht im Aufstand der Gilets jaunes ein zwar fernes und doch unüberhörbares Echo [1]. In einem können sich Linke, ob sie den sogenannten Gelbwesten eher skeptisch gegenüberstehen oder ihnen das Potential zu einem emanzipatorischen Bruch zugestehen, durchaus einig sein - die sozialen Revolutionen des 20. Jahrhunderts sind unvollendet geblieben, die Befreiung von Ausbeutung und Unterdrückung bleibt unabgegolten und kann daher jederzeit in Angriff genommen werden.

In diesem nach vorne gewandten Sinne wollen auch Dominique Grange und Jacques Tardi den für die eigene Geschichte zentralen Mai '68 verstanden wissen. Die Sängerin und der Comic-Zeichner bestritten auf der 23. Linken Literaturmesse eine sonnabendliche Kulturveranstaltung der besonderen Art. Ihr gemeinsames, bisher nur auf französisch vorliegendes Werk Chacun de vous est concerné [2] soll kein weiteres Exponat bloßen Gedenkens sein, sondern ist als Aufruf zu verstehen, am revolutionären Bemühen festzuhalten. Was die beiden KünstlerInnen zeichnerisch und musikalisch präsentieren, ist sowohl Zeugnis als auch Bekenntnis einer radikalen Linken, deren revolutionäres Erbe in der bürgerlichen Revolution 1789, der Pariser Commune 1871, der Front Populaire 1936 und 1937, der Resistance gegen die deutsche Besatzungsmacht, dem Aufstand vom Mai 1968 wie den sozialökologischen Kämpfen gegen Atomkraftwerke, gegen den Bau eines vom Militär genutzten Geländes auf der Hochebene von Larzac oder eines Großflughafens in Notre Dame des Landes besteht.


Grafik: über Mai '68 als Debüt eines langen Kampfes - Grafik © Tardi-Casterman-2018 - Foto: © 2018 by Schattenblick

Der Auftakt eines langen Kampfes vor 50 Jahren ...
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Grafik: über die Proteste gegen das Loi Travail - Grafik © Tardi-Casterman-2018 - Foto: © 2018 by Schattenblick

... und seine Fortsetzung im Protest gegen das Arbeitsgesetz heute
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Sozialrevolutionäre Radikalität kennt kein Alter

Wie Grange und Tardi diese Zeit erlebt und welche Konsequenzen sie daraus gezogen haben, ist der rote Faden der wohl persönlichsten Publikation ihrer langjährigen Beziehung und Zusammenarbeit. Die großformatigen Zeichnungen Tardis illustrieren die Ereignisse auf eindrückliche und detailgetreue Weise, während die auf einer Vinyl-LP dem Bildband beigefügten Chansons den kämpferischen Geist der Epoche wachrufen. Dem Publikum im großen Saal des Veranstaltungsgebäudes wurde das Buch mit Projektionen der Zeichnungen, Liedern von der Schallplatte und den kommentierenden Erzählungen der beiden KünstlerInnen nahegebracht.

Den Mai '68 von der bloßen Nostalgie in die Jahre gekommener Linker zu lösen und seine Stärke als soziale Bewegung zu zeigen war ihnen auch deshalb ein Anliegen, weil die in Frankreich zu diesem Anlaß inszenierte Erinnerungskultur zukünftiger Handlungsfähigkeit eher abträglich war. Sie erlebten die Flut von Artikeln und Büchern, von Radio- und Fernsehsendungen zum Thema als bloßen Versuch, den revolutionären Funken dadurch zu ersticken, daß er in ein Museum gesteckt wird. So gab es Ausstellungen, bei denen sogar Pflastersteine aus Pappe herumlagen -es hätte ja jemand kommen können, der den Stein aufhebt und in die wohlkonservierten, in fein austarierter Neutralität kuratierten Exponate wirft.


Auf dem Podium - Fotos: © 2018 by Schattenblick Auf dem Podium - Fotos: © 2018 by Schattenblick

Jacques Tardi, Ingrid Artus (Übersetzerin), Dominique Grange
Fotos: © 2018 by Schattenblick

Als Verfasser grafischer Erzählungen wie die Geschichten um den Detektiv Nestor Burma, ein von dem Krimiautor und Surrealisten Léo Malet entwickelter Antiheld, oder der Abenteuer der fiktiven Schriftstellerin Adèle Blanc-Sec, die 2010 von Luc Besson verfilmt wurden, eines vierbändigen Werkes über die Pariser Commune und mehrerer Bände zur künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Ersten und Zweiten Weltkrieg gehört Jacques Tardi heute zu den führenden Comic-Zeichnern Frankreichs. Für Übersetzungen seiner Graphic Novels mit zahlreichen internationalen Auszeichnungen versehen und auf dem für Frankreichs Comicwelt zentralen Festival International de la Bande Dessinée 'Angoulême mit mehreren Preisen bedacht, kann sich Tardi nicht über einen Mangel an Anerkennung und Beachtung beklagen.

Um so bedeutsamer ist sein Insistieren auf die politische Radikalität eines jener unangepaßten Intellektuellen, die von Frankreich aus seit jeher die bürgerlichen wie sozialen Revolutionen in Europa und antikolonialen Kämpfe im Globalen Süden beflügelt haben. Als 21jähriger Student an der Hochschule der schönen Künste im Quartier Latin erlebte Tardi den Mai '68, wie er in Nürnberg berichtete, als ungeheure Befreiung von der alltäglichen gesellschaftlichen Repression, insbesondere als die Straßen von Paris für eine kurze Zeit völlig frei von jeglicher Polizei waren. Die elterliche Autorität war zusammengebrochen, die herrschende Ordnung lag hinter ihnen, und sie hatten das Gefühl, absolut in der Lage zu sein, eine neue Welt aufzubauen. Das war naiv, aber genauso fühlte es sich an, meint Tardi, der wie alle anderen bald entdecken mußte, daß die Dinge doch komplizierter waren und man sich zu allen Fragen positionieren mußte, um überhaupt etwas auszurichten.

So erlebte er die Vollversammlungen und Diskussionen an seiner Hochschule aufgrund der kleinbürgerlichen Herkunft ihrer Studierenden im Lichte dessen, daß sie alle dazu auserkoren waren, eines Tages ein Leben als gutsituierte BürgerInnen zu führen, nun aber revolutionäre Reden schwangen, auch als etwas absurd. Zugleich war er entschieden darauf aus, auf diesem Weg weiterzugehen, und hat dies mit seiner künstlerischen Arbeit so weit wie möglich getan.


Die Mauer mit palästinensischer Fahne und Grafitti - Grafik: © Tardi-Casterman-2018 - Foto: © 2018 by Schattenblick

Grenzen, Zäune, Mauern ... nirgendwo
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Détruisons le mur! - Laßt uns die Mauer zerstören!

Die 1940 geborene Dominique Grange erlebte den Mai '68 als Sängerin, von der bereits mehrere Schallplatten mit eigenen Chansons erschienen waren. Sie fragte sich, was KünstlerInnen zu dieser Bewegung beitragen konnten. Sie habe keine Lieder für den Kampf der streikenden ArbeiterInnen gehabt, also ging sie zur Sorbonne und fragte dort bei einem Revolutionären Komitee für kulturelle Agitation, ob sie sie gebrauchen könnten. Dort wurde sie mit offenen Armen empfangen, alle KünstlerInnen seien willkommen, denn die Streikenden in den Fabriken bräuchten Unterstützung. Theater, Musik, Transparente - wer etwas beizutragen hatte, sollte es tun. So trat die Sängerin in Fabriken vor streikenden Belegschaften auf, wodurch sie nicht mehr als Betrachterin am Rand stand, sondern selbst zu einer Aktivistin in diesem Kampf wurde. Das habe ihren Horizont weit geöffnet, so daß sie sich heute nicht als Sängerin verstehe, die Karriere macht, sondern als Künstlerin, die sich für die Sache engagiert. Das halte sie für eine Verpflichtung für jede Künstlerin und jeden Künstler, die die Chance haben, die eigene Stimme durch ein Mikro hörbar zu machen. Es gehe darum, für diejenigen zu sprechen, die sich kein Gehör verschaffen können.

Das gelte zum Beispiel auch für den palästinensischen Widerstand gegen die israelische Besatzungspolitik. Die Menschen dort bräuchten UnterstützerInnen, die der Welt berichten, was Besatzung, Apartheid und Kolonisierung für das alltägliche Leben bedeuten. Ob SängerIn, ZeichnerIn oder KünstlerIn anderer Art, es gehe darum, für dieses entrechtete Volk zu sprechen. Sie habe dazu ein Chanson mit dem Titel Détruisons le mur! (Zerstören wir die Mauer!) verfaßt, um deutlich zu machen, was es heißt, jeden Tag mit einer acht Meter hohen Mauer konfrontiert zu sein, die die Menschen voneinander trennt.

Die Frage aus dem Publikum, ob es in Frankreich ähnliche Probleme wie in der Bundesrepublik gibt, wenn man sich mit der Sache der Palästinenser solidarisch zeigt, bejahte sie rundheraus. Es sei extrem schwierig verständlich zu machen, daß die politische Kritik an einem kolonialistischen Staat nichts mit Antisemitismus zu tun hat, sondern sich an einen Staat und seine Politik richte. Dementsprechend werde in Frankreich auch die internationale BDS-Kampagne (Boycott, Divestment, Sanctions) diffamiert und ihre AktivistInnen zum Teil mit Geldstrafen belegt. Wer etwa die Zusammenarbeit französischer Unternehmen mit der Regierung Israels öffentlich mache, die die Checkpoints und Gefängnisse ausstatten, in denen 6000 PalästinenserInnen eingesperrt sind, werde schnell mit dem Vorwurf des Antisemitismus belegt. Dagegen helfe nur eins: erklären, erklären, erklären.


Mann mit Brot vor Szios politischer Kämpfe - Grafiken: © Tardi-Casterman-2018 - Fotos: © 2018 by Schattenblick Mann mit Brot vor Szios politischer Kämpfe - Grafiken: © Tardi-Casterman-2018 - Fotos: © 2018 by Schattenblick Mann mit Brot vor Szios politischer Kämpfe - Grafiken: © Tardi-Casterman-2018 - Fotos: © 2018 by Schattenblick

Mit einer Träne im Knopfloch ...
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Den Menschen die Sache als solche verständlich machen

Auf die Frage nach der Auseinandersetzung mit der eigenen Kolonialgeschichte Frankreichs in den 1960er Jahren meinte Tardi, daß die kritische Analyse des französischen Kolonialismus unterentwickelt sei. Er verstehe es als ihre Aufgabe, dieses Thema zu Bewußtsein zu bringen. Selbst vielen jungen algerischstämmigen FranzösInnen sei die Geschichte der Kolonialzeit fast unbekannt und müsse neu erzählt werden. Auch für Dominique Grange handelt es sich beim Postkolonialismus à la francaise um ein wiederkehrendes Phänomen, das alle betrifft. Schon seit mehreren Jahrhunderten plündere Frankreich den Reichtum Afrikas in einer Form von industriellem Kolonialismus unter Beteiligung der einheimischen Eliten aus. Daher seien sie verpflichtet, die kritische Analyse dieser Entwicklung fortzusetzen.

Für Tardi ist die Vermittlung politischer Inhalte durch gezeichnete Bilder ein probates Mittel, auch Menschen zu erreichen, die nicht mit den Finessen und Fallstricken des politischen Diskurses vertraut sind. Dabei gebe es Bilder, die für sich stehen, weil sie direkt verständlich seien, und andere, die durch zusätzliche Textanteile erklärt werden müßten. Da er sich in vielen Werken mit der Geschichte des Ersten Weltkriegs befaßt hat, werde ihm eine gewisse, an eine psychische Krankheit grenzende Besessenheit im Umgang mit dem Thema nachgesagt. Er sei allerdings kein alter Wirrkopf, sondern glaube, daß dieser Krieg für den Zustand der Welt, in der wir heute leben, nach wie vor bedeutsam sei. Ihn bestürze, daß viele junge Leute fast nichts über diesen Krieg wüßten. Seine künstlerische Verarbeitung erscheine ihnen wie die Geschichten eines Urgroßvaters, über die man nicht mehr sprechen sollte.


Zeichnungen über den Mai '68 - Grafiken: © Tardi-Casterman-2018 - Fotos: © 2018 by Schattenblick Zeichnungen über den Mai '68 - Grafiken: © Tardi-Casterman-2018 - Fotos: © 2018 by Schattenblick Zeichnungen über den Mai '68 - Grafiken: © Tardi-Casterman-2018 - Fotos: © 2018 by Schattenblick

Von der Fabrik bis zur Universität gemeinsam kämpfen ...
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Dabei liege es ihm fern, das Thema immer wieder aufzuwärmen. Die Konsequenzen damals getroffener Entscheidungen wie die Aufteilung des Nahen und Mittleren Ostens durch einen französischen und englischen Regierungsbeamten, die einfach mit einem Lineal neue Staaten ins Leben riefen und damit die eigenen Einflußbereiche definierten, seien jedoch nach wie vor virulent. Daher gehe es darum, mit Comiczeichnungen und Chansons, die darüber berichten, ein möglichst großes Publikum zu erreichen.

Aber das Lied sei viel praktischer, wendet Dominique Grange zu allgemeiner Erheiterung ein. Musik durchdringt Wände. Sie passiert Grenzen und durchdringt die Mauern der Knäste, wo sie die den inneren Halt der Gefangenen stärken kann. Sie habe damit wirklich eine Waffe in der Hand, die sich zwar friedlicher Mittel bediene, aber dennoch als gefährlich angesehen werde. Dies führte sie am Beispiel des Chanson von Craonne aus. Das Lied wurde im Ersten Weltkrieg von einem Soldaten verfaßt, der anonym geblieben ist. Der Text ist nicht nur antimilitaristisch, weil er das Sterben der Soldaten in seinem ganzen Elend beschreibt, er ist auch sozialrevolutionär, weil er keinen Zweifel daran läßt, daß die Soldaten für die Klasse der Reichen sterben müssen. Doch die Soldaten werden streiken, und dann ist es an euch, ihr reichen Herren, auf das Plateau von Craonne zu steigen und dort für den Krieg, den ihr führen wollt, mit dem eigenen Leben zu bezahlen.

Da das Lied zum Aufstand gegen ein Massaker, das Generäle organisieren, aufruft, wurde sein Absingen am Gedenktag zum Waffenstillstand von Compiègne am 11. November 1918 verhindert. Um den Frieden, den Präsident Macron und Bundeskanzlerin Merkel feierten, als sie zusammen die alten Schlachtfelder besuchten, nicht zu stören, wurde dem aus den Reihen des Militärs und der Gendarmerie vorgebrachten Einspruch gegen das geplante öffentliche Absingen des Liedes von Craonne durch einen Kinderchor stattgegeben. Offiziell wurde behauptet, daß das Lied die Eintracht des Landes störe. Daß dieses Lied noch 100 Jahre später Angst unter den Herrschenden verbreitet, weil es aus einer Revolte gegen den Krieg hervorging, die heute so richtig ist wie gestern, bestätigt für Grange, daß das Chanson auch eine Waffe sein kann.

Mit Grève illimitée (Unbegrenzter Streik) wurde dem Publikum eine Originalaufnahme aus dem Jahr 1968 präsentiert, die damals unter den aufständischen Studierenden und ArbeiterInnen berühmt war. Der Text hat angesichts der anwachsenden sozialen Probleme in der Welt nichts von seiner Aktualität verloren und erinnert daran, daß der Streik das adäquate Mittel nicht nur in Arbeitskämpfen, sondern auch bei politischen Konflikten ist, um Forderungen durchzusetzen, die ansonsten durch den Anspruch auf konsensuale Moderation neutralisiert, durch gewendete Bewegungsfunktionäre korrumpiert und im Apparat des angeblich repräsentativen Parlamentarismus absorbiert werden.


Szenen streikender ArbeiterInnen - Grafiken: © Tardi-Casterman-2018 - Fotos: © 2018 by Schattenblick Szenen streikender ArbeiterInnen - Grafiken: © Tardi-Casterman-2018 - Fotos: © 2018 by Schattenblick Szenen streikender ArbeiterInnen - Grafiken: © Tardi-Casterman-2018 - Fotos: © 2018 by Schattenblick

Unbegrenzter Streik für selbstbestimmtes Arbeiten und Leben
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Charlie Hebdo - künstlerische Freiheit unter mörderischem Druck

Natürlich mußte auch über den Anschlag auf die Redaktion von Charlie Hebdo gesprochen werden, zumal Tardi und Grange seit langem mit einigen Zeichnern des Satiremagazins befreundet waren und sich in seiner Redaktion vor 40 Jahren das erste Mal begegnet sind. So kannten sie die am 7. Januar 2015 zu den 12 Ermordeten zählenden Zeichner Georges Wolinski und Jean Cabut sehr gut. Jacques Tardi glaubt, daß die Attentäter nicht verstanden haben, daß es bei Charlie Hebdo um eine Art Befreiung der Ideen ging. Daher griffen sie zum Inbegriff des Kontrollverlustes, der blanken Gewalt. Mit der finstersten aller menschlichen Motivationen, der absolut prähistorischen und primitiven Gewalt, wurde deutlich gemacht, daß man nicht einverstanden sei und daher einfach draufschlage.

Für ihn gehe es nach wie vor darum, beim Zeichnen bis zum Äußersten zu gehen, um auszudrücken, was man zu sagen hat. Diese Freiheit einzuschränken sei schlicht inakzeptabel. Um dieser religiösen Umnachtung standzuhalten, müsse man in die Tiefe gehen und nichts offenlassen. Man dürfe Leute mit religiösen Überzeugungen nicht mit Samthandschuhen anfassen, sondern müsse sie, ohne weitere Vorsichtsmaßnahmen zu treffen, herausfordern. Vor allem dürfe man keine Angst haben, was natürlich einfach zu sagen sei, wenn man nicht Mitarbeiter bei Charlie Hebdo war.

Dominique Grange ergänzte, anknüpfend an eine Frage aus dem Publikum, daß es nach dem Attentat auf Charlie Hebdo durchaus zu einer Vereinnahmung der Trauer kam, indem sich die größten Kriegstreiber an die Spitze der Demonstration stellten, die in Erinnerung an die Ermordeten in Paris stattfand. Man könne mit diesen Leuten nicht auf die Straße gehen, daher sei das über eine Instrumentalisierung des Anschlages hinausgegangen und habe in eine Manipulation der öffentlichen Meinung gemündet. Natürlich sei es für sie ein furchtbarer Schock gewesen, als sie erfuhren, daß Zeichner, die sie persönlich gut kannten, in einem terroristischen Anschlag mitten in Paris ermordet wurden. Dennoch könne sie nicht "Je suis Charlie Hebdo" im Chor mit arabischen Führern, die das jemenitische Volk massakrieren, oder mit Sarkozy sagen.


Anti-AKW-Protest - Grafik: © Tardi-Casterman-2018 - Foto: © 2018 by Schattenblick

Gegen neue AKWs mit oder ohne Klimawandel ...
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Sozialökologische Kämpfe - eine Aufgabe für die Linke des 21. Jahrhunderts

Im letzten Teil der bewegenden Kulturveranstaltung wies Dominique Grange auf eine gesellschaftliche Entwicklung hin, die sie beide ganz persönlich betreffe. Sie betonte die Bedeutung heutiger Umweltkämpfe. Wie dem vorliegenden Werk aus Bildern und Liedern zu entnehmen sei es absolut lebenswichtig für den Planeten, nicht nur weiter gegen die Nutzung von Atomenergie und fossiler Energie zu protestieren, sondern auch die an Tieren verübten Grausamkeiten einzustellen. Dazu habe sie mit Requiem pour les abattoirs (Requiem für die Schlachthöfe) [3] ein Lied verfaßt, das auf den ersten Blick ein wenig aus dem Rahmen der in dem Buch angesprochenen Themen falle.


Tiere an Haken hinter Polizisten - Grafik: © Tardi-Casterman-2018 - Foto: © 2018 by Schattenblick

Für das Ende aller Käfige und Schlachthöfe!
Grafik: © Tardi-Casterman-2018
Foto: © 2018 by Schattenblick

Für sie gelte, mit Jean-Jacques Rousseau gesprochen, daß der Mensch nicht zwei Herzen habe, eines für die Tiere und eines für die Menschen, sondern nur ein einziges Herz, das Mitgefühl mit allen leidenden Lebewesen habe. Sie seien aus der eigen linken Geschichte und Positionierung heraus zu dieser Überzeugung gelangt. Was in logischer Konsequenz aus dem bisherigen Kampf entstand, habe ihr Leben verändert. Der Horizont ihrer Sicht auf Leiden und Unterdrückung habe sich auf eine Weise erweitert, die sie dazu verpflichtet, ihre Haltung gegenüber tierlichen Lebewesen zu verändern. Das betrifft natürlich die Ernährung, also die Beendigung des Tierverbrauches, aber auch die künstlerische Arbeit. So habe sie in diesem Chanson den Tieren eine Stimme gegeben, die nicht sprechen, wie jeder wisse - was natürlich im Ohr des Menschen liegt, der zuhört, ließe sich hinzufügen. Es gehe ihr nicht darum, Mitleid zu demonstrieren oder ein Gefühl der Traurigkeit zu empfinden, sondern eine politische und philosophische Haltung, die das Ziel habe, die Unterdrückung zu verweigern.


Mit Gitarre und Schwein auf einem Steinhaufen - Grafik: © Tardi-Casterman-2018 - Foto: © 2018 by Schattenblick

Auf den Barrikaden ...
Grafik: © Tardi-Casterman-2018
Foto: © 2018 by Schattenblick

In Frankreich würden Menschen, die die Sache der Tiere vertreten, wenn nicht als Träumer oder Verrückte stigmatisiert, dann zumindest belächelt. Ihr gehe es darum, die Lebewesen zu verteidigen, die leiden und unterdrückt werden, und das betreffe eben alle, die auf die eine oder andere Art und Weise der Macht von Kapitalinteressen unterliegen. Also kämpfen sie gegen den Kapitalismus, gegen die Lobby der Fleisch- und Agrarindustrie, denn die Tiere waren vor uns auf dem Planeten. Das sei nichts Geringeres als ein sozialer, politischer, ethischer und moralischer Kampf, so Dominique Grange zum Abschluß des Abends.

Die für viele im Publikum eher überraschende Hinwendung zum Problem der Tierausbeutung zeigte, daß die Linke Literaturmesse auch offen für Strömungen der radikalökologischen Linken ist, die nicht zu bedenken und einzubeziehen ein Verlust gerade für das Gewinnen jüngerer Menschen für emanzipatorisches und revolutionäres Denken und Handeln wäre. Im kleinen Rahmen dieses denkwürdigen Abends wurden Bögen geschlagen und Brücken errichtet, die für die radikale Linke der Bundesrepublik unverzichtbar sind, wenn sie nicht in selbstgewählter Isolation verkümmern will.


Jacques Tardi signiert Buch - Foto: © 2018 by Schattenblick

Nach der Veranstaltung ...
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Zeichnung mit Stift und Hand - Fotos: © 2018 by Schattenblick Zeichnung mit Stift und Hand - Fotos: © 2018 by Schattenblick

für jedes Buch eine individuelle Zeichnung
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Jacques Tardi signiert eine Schallplatte - Foto: © 2018 by Schattenblick

Auch die Lieder erhalten die Signatur des Meisters ...
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Fußnoten:


[1] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/herr1808.html

[2] https://www.casterman.com/Bande-dessinee/Catalogue/livre-+-vinyle/chacun-de-vous-est-concerne

[3] https://www.casterman.com/Bande-dessinee/Actualite-Agenda/Requiem-pour-les-abattoirs


Berichte und Interviews zur 23. Linken Literaturmesse in Nürnberg im Schattenblick unter:
www.schattenblick.de → INFOPOOL → DIE BRILLE → REPORT:

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22. Januar 2019


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