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BERICHT/107: 24. Linke Literaturmesse - nicht zurückzudrehen ... (SB)


Der französische Staat und die extreme Rechte sind seit Jahrzehnten im Schutz eines neokolonialen Kapitalismus zutiefst verbunden - vom Algerien-Krieg und dem Ausrufen des ersten Ausnahmezustandes, der zur Niederschlagung der Aufstände in den Banlieus von 2005, im Namen des Kampfes gegen den Terrorismus gegen die muslimischen Communities und schließlich auch gegen klassische soziale Bewegungen eingesetzt wurde, bis hin zur Aufnahme seiner Vorrechte in die Verfassung und somit seiner Ausdehnung auf die gesamte Gesellschaft. Die Begegnung zwischen Gelbwesten und Banlieus fand nur sporadisch statt. Jedoch gilt es zu erinnern, dass die Staatsgewalt schon seit längerer Zeit keinen Unterschied mehr macht, zwischen den Bewohnern der Banlieus und den Teilen der popularen Klassen, die sich in den letzten Kampfzyklen organisiert haben. Die Gewalt, die gegen die Gelbwesten entfesselt wurde, hat eine Vorgeschichte. (...) Das Gummi-Geschoss und die Granaten, die zahlreiche Gelbwesten verstümmelt haben, sind Kampfmittel, die seit Jahren in den Banlieus der Großstädte perfektioniert werden.
Antonin Bernanos (Autonomer Antifaschist aus dem Untersuchungsgefängnis La Santé) [1]


Vor einem Jahr, am Wochenende des 17. November 2018, brach die "Bewegung der gelben Westen" (mouvement des gilets jaunes) völlig unvorhergesehen und scheinbar wie aus dem Nichts hervor. Rund 300.000 Menschen blockierten damals Kreisel, Straßen und Plätze. Ihr Protest in der Hauptstadt und in der Provinz hat Frankreich verändert. Er versetzte die Regierung in Schrecken und brachte beinahe den Präsidenten zu Fall. Denn die Gilets Jaunes waren mehrheitsfähig, erhielten sie doch schon in ersten Umfragen Unterstützung von mehr als zwei Dritteln der französischen Bevölkerung. Wenngleich ihre öffentliche Präsenz seither deutlich zurückgegangen ist, hat sich an ihrer Popularität bis heute wenig geändert. In einer aktuellen Umfrage gaben 69 Prozent der Befragten an, daß sie die Bewegung für berechtigt halten. [2]

Inzwischen sind die Proteste der Gilets Jaunes bei "Acte 53" angekommen. Zum Wochenende des Jahrestags nahm die Mobilisierung deutlich zu, über 200 Veranstaltungen wurden angemeldet, und die Medien sparten nicht mit Bilanzen und Kommentaren. Nach offiziellen Angaben des Innenministeriums gingen in ganz Frankreich 28.000 Menschen auf die Straße, davon 4700 in Paris. Die Gelbwesten selbst gaben höhere Zahlen an. Die Polizei setzte auf Repression, und so wurden Demonstrationen auf der Prachtmeile Champs-Élysées und an anderen Orten in der Hauptstadt verboten. Zahlreiche Metro-Stationen in Paris bleiben am Wochenende geschlossen, die Polizei beschlagnahmte bei ihren Kontrollen diverse Gegenstände, zahlreiche Menschen wurden festgenommen.

Am Morgen hatten einige hundert Gilets Jaunes die Pariser Ringautobahn im Nordwesten der Stadt kurzfristig blockiert. Die Polizei löste die Blockade aber schnell auf. Auch an der Porte de Champerret und am Place de Clichy im Norden von Paris versammelten sich zahlreiche Demonstrierende, die von dort aus durch die Straßen zogen. Am Nachmittag sollte vom Place d'Italie ein angemeldeter Demonstrationszug starten, doch die Polizei verlangte dessen Absage. Auch in anderen Regionen Frankreichs gab es Demonstrationen, in Städten wie Lyon oder Nantes war die Lage zwischenzeitlich "angespannt". [3]

Der französische Staat hat Angst vor der unwägbaren Entwicklung, welche die Gilets Jaunes als neue und nach wie vor weder umfassend einzuschätzende noch einzudämmende Bewegung in Gang gesetzt haben. Der "Jupiterpräsident" Macron hat seine anfänglich elitär-arrogante Haltung gegenüber dem gelben "Pöbel" gegen eine differenziertere Strategie aus scheinbaren Zugeständnissen und nackter Repression ausgewechselt. Niemand kann ausschließen, daß es zu einem Übertrag zwischen den Gilets Jaunes und den Bewegungen der Klimagerechtigkeit und gegen die einschneidenden Sozialreformen wie auch künftigen Streikwellen kommt.

Le Monde hat kürzlich Zahlen des Innenministeriums veröffentlicht, die deutlich vor Augen führen, wie massiv Polizeigewalt gegen die Gilets Jaunes aufgefahren wird. Dabei ist noch nicht einmal die Rede von den Toten und Schwerverletzten oder den rund 2500 weniger schwer verletzten Demonstrierenden und Passanten, sondern von Festnahmen und Verurteilungen. Von November 2018 bis Ende Juni 2019 wurden landesweit 10.000 Personen in Polizeigewahrsam genommen und 3.100 Personen gerichtlich verurteilt. Es wurden 400 Freiheitsstrafen ohne Bewährung mit unmittelbarer Wirkung ausgesprochen und 600 (ebenfalls ohne Bewährung) mit der Möglichkeit, die Zeit mitzubestimmen. 1.240 Freiheitsstrafen wurden zur Bewährung ausgesetzt und 920 Strafen boten Alternativen zur Inhaftierung in Gefängnissen an. Die Politik der harten Hand nimmt Bezug auf die Regelungen des Ausnahmezustands, um den Protest einzuschüchtern und in die Knie zu zwingen.

In Frankreich wird die Kluft zwischen Arm und Reich, zwischen den Anliegen der Menschen und dem Machtanspruch der Regierung immer größer. "Es ist unerträglich, nicht mehr zu leben, sondern zu überleben", so eine weit verbreitete Parole der Gilets Jaunes. Im Land haben etwa 8,8 Millionen Menschen weniger als 1000 Euro im Monat zur Verfügung, davon 5 Millionen weniger als 850 Euro. Die Hälfte der Bevölkerung verfügt über weniger als 1500 Euro monatlich. Diese Verelendung, Ausgrenzung und Entwürdigung, die Macron mit seinen am deutschen Hartz-IV-Modell angelehnten Reformen verschärft, sind der Nährboden, aus dem der Zorn der Menschen zur Explosion drängt.


Beim Vortrag auf dem Podium - Foto: © 2019 by Schattenblick

Peter Wahl
Foto: © 2019 by Schattenblick


"Anatomie einer ungewöhnlichen sozialen Bewegung"

Bei der 24. Linken Literaturmesse in Nürnberg stellte Peter Wahl das von ihm herausgegebene Buch "Gilets Jaunes - Anatomie einer ungewöhnlichen sozialen Bewegung" [4] vor, das 2019 beim PapyRossa Verlag erschienen ist. Wahl hat Gesellschaftswissenschaften und Romanistik in Mainz, Aix-en-Provence und Frankfurt/Main studiert, ist Gründungsmitglied von Attac Deutschland, Sachbuchautor und Vorstandsvorsitzender der Nichtregierungsorganisation Weltwirtschaft, Ökologie & Entwicklung (WEED). Der Band vereinigt Beiträge deutscher und französischer Autorinnen und Autoren. Analysiert werden die soziale Zusammensetzung der Bewegung, ihr politisches Selbstverständnis, ihre Programmatik und ihre Aktionsformen. Die Reaktionen der Regierung und der anderen Akteure werden ebenso beleuchtet wie der Vorwurf, von rechts unterwandert oder gar antisemitisch zu sein. Schließlich werden die strategischen Probleme der Bewegung und ihre Chancen thematisiert. [5]

Wie Peter Wahl eingangs hervorhob, reihen sich die Gilets Jaunes in die Flut weltweiter Protestbewegungen ein, doch schreiten sie in einem Land des kapitalistischen Zentrums und noch dazu in unserer unmittelbaren Nachbarschaft zur Tat. Wenngleich sie nach einem Jahr nicht mehr große Massen auf die Straße bringen, halten sie doch einige wichtige Lektionen auch für uns hier in Deutschland bereit. Diese Bewegung hat innerhalb von sechs Wochen enorme Erfolge erkämpft, wie sie die Gewerkschaften und linken Bewegungen jahrelang nicht erringen konnten. Die Regierung sah sich zu einem Paket sozialer Maßnahmen über ca. 10 Milliarden Euro genötigt, worin die Erhöhung des Mindestlohns oder die Entlastung kleinerer Rentner und sozial schwacher Milieus enthalten waren. Die Forderung nach dem Rücktritt Macrons blieb jedoch unerfüllt. Die Zugeständnisse der Regierung dürften insbesondere auf die hohen Zustimmungswerte der Gilets Jaunes in der Bevölkerung zurückzuführen sein. Man könnte daher annehmen, daß diese Bewegung ohne Rückgriff auf traditionelle Organisations- und Aktionsformen eine Langzeitwirkung auf gesellschaftliche Tiefenstrukturen hat, so der Referent.

Wer sind die Gilets Jaunes? Es sind Arbeitslose darunter, Rentner, die Prekarisierten, die Ich-AGs, kleine Selbständige aus Handel und Handwerk, die in den Innenstädten ein verbreitetes Phänomen sind und gegenüber den Malls und Supermärkten um ihre Existenz kämpfen. Viele Menschen aus unattraktiven Berufen wie Kassiererinnen in Supermärkten, Fernfahrer, die unter der extremen Konkurrenz im Transportgewerbe der EU leiden, Wachleute und viele weitere mehr. Geographisch ging die Bewegung von kleinen und mittleren Städten und der Peripherie der Metropolen aus und griff dann auf die großen Städte über. Offenbar handelt es sich um ein generelles Problem des neoliberalen Kapitalismus, der die Innenstädte gentrifiziert und immer mehr Menschen an die Peripherie verdrängt. Der Anteil der Frauen ist angesichts ausgeprägter patriarchaler Strukturen in Frankreich mit 45 Prozent bemerkenswert hoch und dürfte maßgeblich zum Charakter der Bewegung beigetragen haben. Man findet relativ wenig junge Gelbwesten, die Altersstruktur ist eher 35+ mit einem starken Rentneranteil.


Selbstdarstellung der Gilets Jaunes

Die Selbstdarstellung aus einer Facebook-Seite der Gilets Jaunes beschreibt weit besser als zahllose Deutungsversuche von außen, um welche Menschen es sich bei dieser Bewegung handelt:

Du bist ein Gilet Jaune, wenn du weißt, daß du am Monatsende blank bist.
Wenn du 1500 Euro im Monat verdienst und man dir sagt, daß du Anspruch auf die Beschäftigungsprämie hast, für die man aber Single sein und in der Scheiße stecken muß, um sie zu bekommen.
Du bist ein Gilet Jaune, wenn du keinen Anspruch auf Mietbeihilfe hast, weil dein Gehalt um 30 Euro zu hoch ist.
Du bist ein Gilet Jaune, wenn du ein Smartphone hast, das du in vier Raten abbezahlen mußt.
Aber du bist auch ein Gilet Jaune, wenn du dir die Croissants nicht mehr leisten kannst, wenn du sonntags mal Gäste hast.
Du bist ein Gilet Jaune, wenn du den Geschmack der Nudeln von Panzani bis zum Erbrechen kennst, wenn du bereits alle möglichen und unmöglichen Tomatensoßen probiert hast, um den Geschmack deiner Pasta zu variieren.
Du bist auch ein Gilet Jaune, wenn du versuchst, 100 Euro beiseite zu legen, aber nur für einen Monat, denn im nächsten Monat mußt du Rechnungen damit bezahlen.
Du bist ein Gilet Jaune, wenn du Klamotten für deine Kinder kaufen möchtest, aber dich mit einem Sonderangebot zufriedengeben mußt und dann doch dein Konto überziehst.
Du bist ein Gilet Jaune, wenn du jeden Monat die Rechnungen blechst, während sich deine Hobbys in Luft auflösen. Kein Kino, denn die Stromrechnung ist gekommen. Kein McDonalds für die Kinder, denn die Wohnungssteuer ist fällig.
Du bist auch ein Gilet Jaune, wenn du nicht zu deiner Familie am andern Ende Frankreichs fahren kannst, weil 60 Euro Autobahngebühr und 110 Euro für Diesel einfach nicht drin sind.
Du bist ein Gilet Jaune, wenn du weißt, daß du seit drei Jahren nicht mehr im Urlaub warst und nur zu Angehörigen in der Nähe fahren kannst, um überhaupt mal rauszukommen.

Das ist eine alltägliche Lebenswelt, zu der auch unter den deutschen Linken die wenigsten Zugang haben. Eine der ersten spektakulären Aktionen war im November 2018 ein Autokorso über die Pariser Ringautobahn zu Disneyland, dort den Parkplatz und die Kassenhäuschen zu besetzen und die Besucher kostenlos parken zu lassen. Das ist eine Welt, mit der Linke in der Regel nichts zu tun haben. Man kann verschiedene Perspektiven darauf entwickeln und beispielsweise argwöhnen, daß Disneyland des Volkes wahrer Himmel sei. Man könnte demgegenüber jedoch von einem Ausdruck gesellschaftlicher Ungleichheit und Herrschaft sprechen. Wenngleich Disneyland als Inkarnation der Kulturindustrie gilt, kann man den Menschen, die ihr erliegen, das nicht zum Vorwurf machen, so Wahl.

Der Co-Vorsitzende der Linkspartei, Bernd Riexinger, hat in einer frühen Stellungnahme erklärt, so etwas wäre in Deutschland nicht möglich, daß rechte und linke Bewegungen derart zusammengehen. Er hatte die Ehre, mit dieser Aussage in der konservativen Tageszeitung Figaro wörtlich zitiert zu werden. Allerdings hat der Vorstand der Linkspartei eine Woche später einen Beschluß gefaßt, der das korrigierte und sich solidarisch mit den Gilets Jaunes erklärte, die beispielsweise die Verschränkung der sozialen Frage mit der Umweltfrage deutlich zum Ausdruck gebracht haben.


Inhaltliche Positionen der basisdemokratischen Bewegung

Diese Bewegung von Menschen, die keine besonderen politischen Kampferfahrungen hatten und die wie aus dem Nichts entstanden ist, hat zahlreiche bemerkenswerte Forderungen formuliert: Wiedereinführung der Steuer auf große Vermögen, Erhöhung des Mindestlohns, Rücknahme der Benzinsteuererhöhung, Erhöhung kleiner Renten, Steuererleichterung für Normal- und Geringverdiener, Steuererhöhungen für Großunternehmen, Unterstützung für Kleinunternehmen, Kürzung der Diäten für Abgeordnete, Verbot von Produktionsverlagerung ins Ausland, Rücktritt Macrons und ein Referendum auf Initiative von unten - im Grunde ein linkes sozialpolitisches Programm.

In der Anfangsphase stellte sich heraus, daß rechte Kräfte tatsächlich versuchten, in die Bewegung einzudringen, darunter lokale Kader der Partei von Marine Le Pen. Sie zogen sich jedoch schnell wieder zurück, weil sie mit diesem sozialpolitischen Profil nicht einverstanden waren und auch ansonsten nicht landen konnten.

Die Bewegung ist radikal basisdemokratisch. Vollkommen neu ist, daß diese soziale Gruppe und Basisdemokratie miteinander eine Verbindung eingehen. Man hätte erwartet, daß ein Führerprinzip entstehen würde, was jedoch überhaupt nicht der Fall war. Es gibt keine legitimierten Sprecher, keine Delegation, sondern ein Konsensprinzip. Das bedeutet auch eine große Distanz zu Gewerkschaften, politischen Parteien und Verbänden, grundsätzlich ein tiefes Mißtrauen gegenüber dem politischen System und jeglicher Repräsentation. Der Figaro sprach anläßlich von Umfrageergebnissen von einem "Tsunami des Mißtrauens gegenüber den politischen Institutionen", was für die gesamte Gesellschaft gilt.

Das gesellschaftliche Szenario ist in der Tat von Krisen gekennzeichnet: Deindustrialisierung, hohe Arbeitslosigkeit, permanentes Außenhandelsdefizit, öffentliche Verschuldung bei 99 Prozent, Terroranschläge. Le Pen hat seit Jahren Stammwähler von rund einem Viertel, das politische System ist im Umbruch. Ein Durchmarsch Macrons, während die Sozialdemokraten abstürzten und die Konservativen wanken, hinzu kommt die Migrationsdebatte. Zudem war Frankreich vordem Führungsmacht in der EU, ist jedoch seit der deutschen Wiedervereinigung auf den zweiten Rang verwiesen. Das alles bringt eine Gemengelage aus Kränkung, Krisenbewußtsein und Unzufriedenheit, die hochexplosiv ist, so der Referent.

Die Vorwürfe von Gewalt und Antisemitismus wurden ins Feld geführt, um die Bewegung zu diskreditieren. Es gab zwar Gewalt auch von seiten der Gilets Jaunes, aber man muß wissen, daß die französische Polizei und insbesondere die CRS seit langem brutaler als die deutsche vorgeht. Dennoch gingen die Aktionen weiter, die Bewegung wurde stärker, die Sympathie in der Bevölkerung ließ nicht nach. Die Menschenrechtsbeauftragte der UN, Michelle Bachelet, kritisierte das Vorgehen der Polizei, inzwischen gibt es auch eine Untersuchungskommission. Der Schwarze Block mischte mit, doch es ist nicht gelungen, die Bewegung anhand der Gewaltfrage zu isolieren und nachhaltig zu schwächen.

Die Bezichtigung des Antisemitismus kam im Januar und Februar auf. Wenngleich es bei solchen riesigen Demonstrationen stets einen geringen Prozentsatz von Leuten gibt, die für solche Vorfälle sorgen, werden diese doch von Medien hochgespielt. Es handelt sich um eine Instrumentalisierung der schärfsten Waffe, mit der man Linke angreifen kann. Spektakulär war der Fall Finkielkraut, als der Rechtsintellektuelle attackiert und übel beschimpft wurde. Die Täter wurden verhaftet, der Anführer war ein Salafist aus dem Elsaß. Finkielkraut selbst erklärte hinterher, daß der Antisemitismus seines Erachtens nur eine Randerscheinung bei den Gilets Jaunes sei. Auch diese Strategie der Diskreditierung ist gescheitert, unterstrich Wahl.


Was können wir daraus lernen?

Die Weigerung, überregionale Strukturen zu bilden, stellt die Gilets Jaunes auf Dauer vor enorme Probleme. Sie führt zu Abnutzungs- und Zerfallserscheinungen und verhindert möglicherweise eine Fortentwicklung. Es gibt zwar weiterhin jeden Samstag Demonstrationen, doch das ist nur noch der harte Kern. Die Ursachen des Protests wie Rentenreform, Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot bestehen nach wie vor. Die öffentliche Verschuldung nimmt zu, eine Rezession droht. Zudem ist das Präsidialsystem von Demokratiedefiziten geprägt. Bei seinem Amtsantritt sprach Macron von seinem Wunsch nach einer jupiterhaften Amtsführung und einer heimlichen royalistischen Sehnsucht der Franzosen. Er setzte dies zu Beginn seiner Amtszeit durch und gebärdete sich entsprechend, wovon er inzwischen aus taktischem Kalkül Abstand genommen hat. Die Kränkung bleibt bestehen, die Verknüpfung einer genuinen Basisbewegung mit linken sozialpolitischen wie auch ökologischen Forderungen wirkt weiter. Die Gilets Jaunes sind ein Symptom multipler gesellschaftlicher Krisen. Sie sind Ausdruck der sozioökonomischen Effekte der Globalisierung, Protest gegen die neoliberale Reformpolitik und sie reagieren auf die Krise der Repräsentation im allgemeinen und die Demokratiedefizite der Fünften Republik im besonderen. Und sie füllen eine Lücke, die die Krise der Gewerkschaften und der Linken in den vergangenen Jahren gerissen hat.

Solche Bewegungen sind ein umstrittenes gesellschaftliches Terrain, das anfangs in seinem politischen Profil und seinen Zielsetzungen undeterminiert ist. Deswegen ist es wichtig, daß die organisierte Linke sich in diese Bewegungen hineinbegibt, den Kampf aufnimmt und versucht, ihn in eine emanzipatorische Richtung zu beeinflussen. La France insoumise von Mélenchon und Attac Frankreich begaben sich in die Bewegung hinein, ebenso einige kleinere unabhängige Gewerkschaften. Es hat diesen Organisationen selbst jedoch nichts gebracht, da sie nicht als deren Vertreter auftreten konnten. Der harte Kern der Gilets Jaunes will von Organisationen und Parteien nichts wissen. Was können wir daraus lernen? Wenn solche Bewegungen entstehen, und das wird auch bei uns früher oder später der Fall sein, dürfen wir nicht mit geschmäcklerischer Distanz damit umgehen, sondern müssen die tieferen gesellschaftlichen Ursachen in den Blick nehmen und uns darum bemühen, daß solche Prozesse in Bahnen gelenkt werden können, die emanzipatorisch sind, schlug Peter Wahl vor.

Wie man abschließend anmerken könnte, eignen sich die Gilets Jaunes nicht zur Projektionsfläche unerfüllter Sehnsüchte und Hoffnungen, sie sind kein Abbild ideologisch reiner Kategorien und passen nicht einmal in ein etabliertes Schema der Klassengesellschaft. Aus Sicht der Linken sind sie kein Feindesland, doch ebensowenig ein rollender Zug, an den man die eigenen Programme ankoppeln kann. Auch reicht es sicher nicht, eine gelbe Weste anzulegen, um damit zum Teil einer übergreifenden emanzipatorischen Bewegung zu werden. Das muß jedoch nicht von Nachteil sein, gemahnt der vielzitierte "kommende Aufstand" doch nicht zuletzt an Denk- und Handlungsweisen, die den Prüfstand der Stichhaltigkeit und Relevanz angesichts dieser Herausforderungen nicht scheuen.


Fußnoten:

[1] lowerclassmag.com/2019/11/05/die-gelbwesten-der-staat-und-der-faschismus/

[2] www.heise.de/tp/features/Gelbwesten-Unterstuetzung-von-69-Prozent-der-Franzosen-4587663.html

[3] web.de/magazine/politik/krawalle-jahrestag-gelbwesten-proteste-paris-34190668

[4] Peter Wahl (Hg.): Gilets Jaunes - Anatomie einer ungewöhnlichen sozialen Bewegung, Neue Kleine Bibliothek 274, PapyRossa Verlag Köln 2019, 135 Seiten, 12,90 EUR, ISBN 978-3-89438-705-1

[5] www.papyrossa.de/neuerscheinung-36


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17. November 2019


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