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BERICHT/116: Werner Seppmann - Altmarxist in neuer Zeit ... (SB)



Die vom Antiintellektualismus geforderte Sprache ist alles andere als die Sprache der Leute, der Straße, die Sprache, wie sie gewachsen ist, es ist die Sprache der Fußballkommentare, der Werbung, der Wahlkämpfe. Der Antiintellektualismus fordert vorderhand den linguistischen und diskursiven, den poetischen und theoretischen Kompromiss (mehr noch: die Unterwerfung). Dahinter aber fordert er den sozialen und den politischen Kompromiss (mehr noch: die Unterwerfung). Der Antiintellektualismus begeht seinen größten Verrat nicht an den Intellektuellen, sondern an den Menschen, die er glaubt, vertreten zu dürfen.
Georg Seeßlen - Minderheitenprogramm, konkret 10/2014 [1]

Am 12. Mai 2021 unerwartet verstorben hat der Sozialwissenschaftler und Philosoph Werner Seppmann eine Lücke unter den marxistisch inspirierten Intellektuellen der Bundesrepublik hinterlassen, die insbesondere dort schmerzhaft zu spüren sein wird, wo die häufig verlangte, aber eher selten gewährleistete Vermittlung anspruchsvoller linker Theoriebildung in gut verständlicher und lesbarer Form gelingt. Zudem hat sich der Verfasser zahlreicher gesellschaftstheoretischer Bücher und Schriften stets auf die Seite der Ausgebeuteten und Unterdrückten gestellt, was nicht zuletzt eigener Lebenserfahrung geschuldet gewesen sein dürfte.

Das brennende Interesse an den sozialen Kämpfen seiner Zeit hat den 1950 in Gelsenkirchen geborenen Sohn einer Arbeiterfamilie und gelernten Bäcker von der Volksschule über den Zweiten Bildungsweg an die Ruhr-Universität Bochum geführt. Dort promovierte er bei dem marxistischen Soziologen Leo Kofler 1992 mit der Arbeit "Struktur und Subjekt. Zur Begründungsproblematik eines kritischen Marxismus". Als Vorstandsmitglied und zeitweiliger Vorsitzender der Marx-Engels-Stiftung, Autor und Mitherausgeber der Marxistischen Blätter wie als Mitglied der DKP bis 2009 war Seppmann eine feste Größe in der BRD-Linken. Wer ihn persönlich kennenlernen wollte, hatte dazu viel Gelegenheit, tat sich Seppmann doch auch als rühriger Vortragsredner und lebhafter Disputant hervor. Der erklärten Notwendigkeit einer die Widersprüche kapitalistischer Vergesellschaftung durchdringenden Bewusstseinsbildung entsprach er auf zahlreichen Veranstaltungen und Konferenzen mit einer Nachdrücklichkeit, die einen um der Sache wegen streitbaren Geist erkennen ließ. Geschichten aus seinem privaten Leben zu erzählen war ihm eher fremd, wahrscheinlich schon deshalb, weil die Bewältigung komplexer, in ihrer Dringlichkeit überbordender Gesellschaftsprobleme dafür wenig Platz ließ.

Wie schon dem Titel seiner Dissertation zu entnehmen galt sein vordringliches Interesse dem konfliktreichen Verhältnis von subjektiver Emanzipation und gesellschaftlichen Zwangslagen in der kapitalistischen Marktgesellschaft. So soziologisch seine Analysen der ihr eigenen Klassenzusammensetzung waren, so parteilich war er in der Kritik ihrer lebensfeindlichen und verelendenden Wirkung. Was ein Allerweltsthema sein sollte, das in Lohnabhängigkeit stehende Menschen, die sich tagtäglich mit der Entfremdungswirkung ihnen aufoktroyierter Verwertungsimperative konfrontiert sehen, bis in die Träume hinein verfolgen kann, erscheint in einer kognitiv und medial bis an den Rand des Fassbaren aufgeladenen, die Menschen dem Dauerstress eines permanenten Balanceaktes zwischen Unterwerfung und Selbstbehauptung, zwischen Individualisierung und Verallgemeinerung aussetzenden Gewaltregimes namens Kapitalismus alles andere als selbstverständlich.

Werner Seppmann war bei dem Versuch, gesellschaftlichen und politischen Gewaltverhältnissen auf den Grund zu gehen, nur bedingt zu Kompromissen bereit, wohl wissend, dass der Gegenstand seiner Forschung und die eigene Positionierung in den herrschenden Widerspruchskonstellationen keinesfalls so sauber voneinander zu trennen ist, wie die vermeintliche Neutralität wissenschaftlicher Expertise gebietet. Eine sozialwissenschaftliche Herangehensweise, die sich der Einbeziehung der eigenen Stellung in der akademischen Wissensproduktion versagt, war seine Sache nicht, dazu wog die eigene Betroffenheit zu schwer. So machte er sich mit schonungsloser Kritik an den Zugeständnissen mancher post- oder neomarxistischer Erneuerer an die Vereinbarkeit einer im Kern revolutionären Gesellschaftstheorie mit den affirmativen Strategien des Wissenschafts- und Kulturbetriebes kaum Freunde. Ihm war die Sache selbst, die Überwindung gesellschaftlicher Ausbeutungs- und Unterdrückungspraktiken hin zur Fluchtlinie einer Zukunft in selbstbestimmter kommunistischer Solidargemeinschaft, stets eine so verbindliche Verpflichtung, dass die sich dem entgegenstellende Behinderung seiner publizistischen und politischen Arbeit zwar ärgerlich war, aber verwindbar blieb.

Steine des Anstoßes waren etwa die von Georg Lukacs, den er als seinen Lehrer bezeichnete, inspirierte Kritik an der ästhetischen Moderne [2], seine Abrechnung mit dem Strukturmarxismus respektive der Neuen Marx-Lektüre [3], seine Einwände gegen einzelne Positionen, die im Grundlagenwerk "Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus" vertreten werden, die Kritik an einer angeblich auf immaterieller Produktion basierenden Reformierbarkeit des Kapitalismus oder seine sich am Problem der Verschleierung gesellschaftlicher Gewaltverhältnisse abarbeitende Auseinandersetzung mit dem Postmarxisten Louis Althusser und den Theoriestars des französischen Poststrukturalismus, allen voran Michel Foucault. Tendenzen der Verbürgerlichung in der DKP gerieten ebenso zum Streitfall wie seine wenn auch zugewandte, so doch scharfe Kritik an den "Modernisierern" in der Partei Die Linke. Deren Weg in die Regierungsbeteiligung, die nur unter Relativierung bisheriger Kernaussagen zur Kriegführung der Bundesrepublik und einer prinzipiell antikapitalistischen Programmatik gelingen kann, widmete er 2019 einen schmalen Band, in der er der Frage "Ist der Kapitalismus überhaupt noch reformierbar" in Hinsicht auf "Die LinksPartei zwischen Systemkritik, Reformismus und Selbstaufgabe" nachging.

Unschwer zu erraten, dass der von Seppmann kritisierte Einfluss systemtheoretischer Theorieversatzstücke, opportunistischer Transformationsstrategien und integrativer Partizipationsangebote auf die gesellschaftstheoretische Grundlegung der Linkspartei kaum für eine streitbare Rolle in den künftigen sozialen Kämpfen des Landes spreche. Wo nicht begriffen werde, "dass menschliche Selbstentfremdung und Selbstinstrumentalisierung Elementarbedingungen der Leistungsfähigkeit marktwirtschaftlicher Gesellschaften sind", wo die fundamentale Kritik der herrschenden Eigentumsordnung aufgegeben werde oder die "Digitalisierung des Sozialen" unwidersprochen bleibe, wo die Thematisierung der Gerechtigkeitsfrage den "Verzicht auf die Auseinandersetzung mit der Machtfrage" mit sich bringe, da sehe es so aus, als ob die Prognose Rosa Luxemburgs, dass "die Schlußphase des Kapitalismus (sich) zu einer Periode der Katastrophen" auswachse, zutreffen werde [4].

Inmitten der anwachsenden Verächtlichkeit gegenüber linker Intellektualität und um grundlegende Einblicke in herrschende Widerspruchslagen bemühter Kritikfähigkeit konnte ein Gesellschaftstheoretiker wie Werner Seppmann kaum einer produktiveren Aufgabe nachgehen, als immer wieder den Finger in die Wunde anatagonistischer Klassenverhältnisse zu legen. Sein Leben und Wirken war eine Widerlegung des verbreiteten Mythos, sogenannte Linksintellektuelle führten das sorgenfreie Leben von Abkömmlingen des gehobenen Mittelstandes und machten sich mit Minderheitenproblemen wichtig, die mit Arbeiter:innen nichts zu tun hätten. Es wäre spannend gewesen zu erfahren, was Werner Seppmann zu Sahra Wagenknechts anhand ihres Buches "Die Selbstgerechten" geführten Angriff auf die eigene Partei Die Linke [5] zu sagen gehabt hätte.

Wo Streitbarkeit in der Sache selbst als störend abgewehrt und überflüssig verworfen wird, bleiben diejenigen, die sich dennoch in aller Unbescheidenheit, Sprachfertigkeit und Unbestechlichkeit ein offenes Wort herausnehmen, Exponent:innen einer Tradition kritischen Denkens und Schreibens, die hinter dem Horiziont alltäglicher Aufgeregtheiten und Erregungen zu verschwinden droht. Wo das humanistische Bekenntnis und der Vernunftbegriff Seppmanns Fragen der Selbstverortung des Menschen in der Welt und des Überschreitens tradierter Grenzen aufwerfen, kann nur bedauert werden, dass es nicht mehr an ihm ist, diese zu beantworten.

Anhand einiger Auszüge aus Interviews, die der Schattenblick mit Werner Seppmann geführt hat, soll von hier aus zur angemessenen Würdigung seines Lebens und Wirkens beigetragen werden.


Auf der 21. Linken Literaturmesse in Nürnberg - Foto: © 2016 by Schattenblick

Werner Seppmann
Foto: © 2016 by Schattenblick


Gespräch am 7. Dezember 2011 in Hamburg-Eimsbüttel

Schattenblick: Herr Seppmann, warum profitiert die Linke nicht von der zunehmenden sozialen Konfliktlage?

Werner Seppmann: In gewisser Weise ist die Krise für die Linke geradezu eine Provokation. Es tritt gesellschaftlich und ökonomisch genau das ein, was sie immer prognostiziert hat. Dass die Linke nicht davon profitiert, hat natürlich damit zu tun, dass sie in einem ganz entscheidenden Punkt konzeptionslos ist. Sie kann zwar die Krise analysieren und die Ursachen benennen, aber kein Linker und keine linke Fraktion kann von sich behaupten, wirklich Antworten auf die Krise zu haben. Was heute vor allen Dingen fehlt, ist eine Alternative. Politischer Protest kann sich nur dann profilieren und wirksam werden, wenn Massenbewegungen, die wirklich politisch relevant sind, entstehen und sich auf ein Ziel orientieren. Dieses Ziel ist heute einfach nicht vorhanden. Das macht die große Provokation der Krise für die Linke aus, und die Krise hat deshalb auch bis in die Linke hinein desorientierende und desintegrative Wirkungen.

SB: Wieso meinen Sie, dass zum Beispiel Konzepte ökosozialistischer bis sozialrevolutionärer Art kein Ziel mehr sein können? Halten Sie sie für zu wenig ausgearbeitet?

WS: Ich meine das mit dem Ziel schon fassbarer. Es müsste verbunden sein mit konkreten Übergangsforderungen und einer politischen Organisation als Zentrum, die die gesellschaftlichen Verhältnisse wirklich verändern will. Die große Frage ist, ob diejenigen, die sich heute durchaus kapitalismusskeptisch artikulieren, in ihrer Substanz bereit sind, die Positionen einer fundamentalen, in die Tiefe gehenden Kapitalismuskritik zu akzeptieren. Wenn wir uns heute diese Antibanken-Bewegung anschauen, womit wir eigentlich beim Thema sind, dann haben wir es doch mit Leuten zu tun, die in letzter Konsequenz bessere Banken fordern und die Krise des Kapitalismus nicht aus ihren Strukturgesetzmäßigkeiten her begreifen, sondern die Probleme, mit denen wir konfrontiert werden, als Ergebnis subjektiven Fehlverhaltens deuten, also die gierigen Banker oder die Fehler, die die Politik gemacht hat. (...)

Ich glaube, dass diese Probleme gar nichts mit den Problemen zu tun haben, um die wir uns kümmern müssten. Das sind einfach nur objektive Widersprüche, die es in der einen oder anderen Form immer geben wird. Selbst wenn man es jetzt mit Mühe und Not schafft, den Staatsbankrott führender westeuropäischer Länder zu verhindern, dann wären die Probleme nur aufgeschoben. So werden diese Probleme auf wahrscheinlich immer extremerer Ebene stets neu entstehen. Nein, wir müssen viel grundsätzlicher fragen. Die Basis einer Auseinandersetzung mit dem aktuellen Kapitalismus müsste lauten: Ist diese Gesellschaft überhaupt noch zukunftsfähig? Und da gibt es viele Aspekte, die sich anführen lassen, dass wir uns tatsächlich in einer Phase befinden, in der es sozial, ökonomisch, zivilisatorisch bergab geht.

Woher kommt es etwa, dass sich in den reichen Ländern des Westens Armut und Bedürftigkeit ausbreiten? Das kann man nicht damit erklären, dass einige tausend Leute sich einige Milliarden mehr in die Tasche stecken, als sie es vor 20 oder 30 Jahren gemacht haben. Diese Gesellschaft benötigt immer mehr ökonomische Ressourcen, um sich überhaupt am Leben zu erhalten. Es wird nach wie vor in einem forcierten Tempo rationalisiert. Aber die Verbesserung der Produktionsmittel führt unter den bestehenden Konkurrenzbedingungen nicht mehr zu einer Erhöhung des gesellschaftlichen Konsumfonds, sondern stimuliert Verdrängungsprozesse, stimuliert Prozesse zum Abbau von Überkapazitäten usw. Was allein in die Aufrüstung der technischen Apparatur hineinfließt, verursacht gesamtgesellschaftlich gesehen so immense Kosten, dass dies als Faktor für die Erklärung der Armutsentwicklung viel relevanter ist als die paar Milliarden, die das Finanzkapital für sich abzweigt.

Wobei die Bedeutungszunahme des Finanzsektors natürlich ein ganz neues Themenfeld darstellt. Ein Aspekt - auf alle können wir gar nicht eingehen - ist zum Beispiel, dass dieses Finanzsystem die Funktion hat, Kapital, das realwirtschaftlich nicht mehr angelegt werden kann, in seinem Kosmos zirkulieren zu lassen. Wir haben immer noch die Versorgungsfunktion für Kredite, aber ein Vielfaches des vorhandenen Kapitals zirkuliert in dieser Finanzsphäre. Da werden auch keine realen Geschäfte mehr gemacht, sondern eine Art Wetten abgeschlossen. Das sind Nullsummenspiele: Der eine gewinnt, der andere verliert. Die Hauptfunktion dieses Kreislaufes ist es, die Illusion aufrechtzuerhalten, als ob alles existierende Kapital noch sinnvoll investiert werden könnte. Der Zwang zur Anlage ist sozusagen der irreversible Trieb des Kapitalisten. Nichts bedrückt ihn mehr als Kapital, das unproduktiv auf einem Bankkonto liegt. Deshalb nimmt man bereitwillig selbst abstruse Wetten an, in der Hoffnung, dass man, genauso wie der Mann am Pokertisch, am Ende gewinnt. Gesamtgesellschaftlich werden keine Werte geschaffen, aber die Organisatoren dieses Prozesses absorbieren natürlich einen Teil dieser akkumulierten Mehrwertmasse, wie wir ökonomisch dazu sagen. Ein Aspekt ist übrigens auch, dass für die Reproduktion des Kapitalverhältnisses immer mehr ökonomische Ressourcen und Geld aufgewandt werden müssen, damit es am Leben erhalten werden kann. (...)

SB: Unter ökosozialistisch orientierten Linken wird das Konzept diskutiert, dass eine reale Schrumpfung der gesamten Produktionsbereiche bis zum Nullwachstum erfolgen müsste. Können Sie sich vorstellen, dass sich darüber eine neue Zielvorstellung aufbauen ließe?

WS: Nach allem, was wir ökonomisch wissen, nach allen historischen Erfahrungen braucht der Kapitalismus drei Prozent Wachstum, um sozusagen gesund zu sein. Er hat diese drei Prozent Wachstum in den letzten Jahrzehnten nicht mehr realisieren können und schliddert von einer Krise in die andere. Wie schon gesagt ist Kapitalismus ohne Wachstum und eben auch ohne den Verschleiß materieller Ressourcen einfach undenkbar. Ich kann mit bloßen immateriellen Geschäften keine drei Prozent Wachstum erreichen. Das ist der Dreh- und Angelpunkt.

Man kann natürlich sagen, Nullwachstum stehe für eine Übergangsforderung. Mir ist schon klar, wenn ich Nullwachstum fordere, dann fordere ich letztlich auch die Abschaffung des Kapitalismus. Aber die Leute, die diese Forderungen stellen, wollen den Kapitalismus gar nicht abschaffen, sondern sie unterstellen, dass er weiter, in welcher Weise auch immer, funktioniert. Über diese ganzen Dinge kann ich nur sinnvoll diskutieren, wenn ich immer auch einen Blick auf die realen Machtverhältnisse werfe. Man kann über Nullwachstum reden, aber dann geht es, wenn ich es ernst damit meine, letztlich um eine offensive Abschaffung des Kapitalismus.

SB: Die neuen Oppositionsbewegungen vom Schlage der Occupy-Bewegung argumentieren zwar kapitalismusimmanent, aber es ist auch nicht auszuschließen, dass diese Leute ihre Erfahrungen machen und letzten Endes feststellen, dass nicht nur die Größe eines Konzerns darüber befindet, wie Arm und Reich gesellschaftlich organisiert werden. Können Sie sich vorstellen, dass sich in absehbarer Zeit eine soziale Bewegung entwickelt, die wieder auf den traditionell linken Standpunkt zurückfindet, dass es um die Überwindung des Kapitalismus geht?

WS: Dass es um die Überwindung des Kapitalismus gehen muss, haben viele, die sich als links definieren, schon begriffen. Die Frage ist, wie man der historischen Entwicklung auf die Sprünge helfen kann. Kapitalismusskepsis ist weit verbreitet, auch ein Bedürfnis nach Kapitalismuskritik ist vorhanden. Die Menschen erleben diese Widersprüche Tag für Tag, können sich aber insofern auf die Widersprüche keinen Reim machen, weil sie die Zusammenhänge nicht begreifen. Das ergibt sich nicht spontan aus der bedrückenden Lebenssituation. Dazu brauche ich politische Vermittlung. Man kann diskutieren, ob dazu eine Partei nötig ist oder nicht. Ich bin ganz dezidiert der Meinung, dass das ohne Partei nicht geht. Wir müssen aber feststellen, dass diese Parteien, deren historische Aufgabe es wäre, solche Prozesse zum Selbstdenken anzuregen, ihrer Aufgabe in der jetzigen Situation nicht gerecht werden.

Deshalb habe ich natürlich Verständnis für die Parteienskepsis, die es auch in dieser Antibanken-Bewegung gibt. Es bleibt trotzdem die Frage, ob ich es Partei oder Organisation nenne, kann es wirklich die Konstitution einer politischen Bewegung ohne Strukturen geben? Die historische Erfahrung zeigt, dass das nicht möglich ist. Oft sind es untergründig auch die Wirkungen von Strukturen und Aufklärungsprozessen, die für kollektive Lernprozesse unabdingbar sind.

Wenn man wie ich schon sechs Lebensjahrzehnte hinter sich hat und seit 45 Jahren politisch denkt und agiert, dann hat man das Kommen und Gehen vieler spontaner Bewegungen gesehen. Heute habe ich keine gute Meinung mehr etwa von der Attac-Bewegung. Das war mal anders, sie war einmal ein Hoffnungsträger, aber wenn man die Diskussion innerhalb der Attac- Bewegung betrachtet, dann lässt sich diese Bruchstelle genau identifizieren, an der sie ihre eigene Bedeutungslosigkeit verschuldet hat. Man ist diesen Weg relativ spontan gegangen, bis man nach Kapitalismusskepsis und Kapitalismusanalyse an einen Punkt angelangt ist, an dem man sich in der Frage nach der Reformfähigkeit des Systems hätte entscheiden müssen. Obwohl man sich eigentlich mit seinen Denkmitteln und Theorien unausweichlich auf dem Wege zur Konsequenz befand, dass dieses System nicht reformfähig ist, ist man vor seinem eigenen Mut zurückgeschreckt und hat sozusagen wieder eine Bewegung zurück gemacht. Damit hat die Bewegung ihre Frische und Wirksamkeit verloren. Wer kann heute noch ernsthaft, wenn er die politischen Verhältnisse beobachtet, irgendetwas von Attac erwarten? Das ist vorbei. Das war vor fünf Jahren anders. Wenn man diese Differenz zu erklären versucht und die Frage stellt, ob man zu alten reformkapitalistischen Stufen zurückkehren kann oder nicht, dann denke ich, dass man diese Frage nach einer schonungslosen Analyse des Kapitalismus nur mit Nein beantworten kann.

SB: Dann wäre eine Partei wie Die Linke, die immerhin im Bundestag vertreten ist, für Sie also in keiner Weise eine relevante Adresse?

WS: So einfach würde ich mir das natürlich nicht machen. Wie in vielen Parteien der sozialistischen Tradition gibt es eine große Differenz zwischen dem Funktionärsapparat und der Mitgliederschaft. Ohne Frage ist in der Linken ein ehrlicher Antikapitalismus verbreitet, aber die Leute, die politisch das Sagen haben, denken, sich in dieser Gesellschaft einrichten zu können, oder, wenn man es etwas kollegialer formuliert, gehen davon aus, dass dieser Kapitalismus reformierbar ist. Die Linkspartei hat sich jetzt ein neues Programm gegeben, das in seiner Tendenz eine ganze Menge marxistischer Einsichten transportiert. Das ist ein großer Fortschritt, weil das vorhergehende Programm der PDS viel kompromisslerischer und unentschiedener war. Dennoch habe ich den Eindruck, dass die Leute aus dem modernen Flügel der Partei, also jene, die von der Reformierbarkeit des Kapitalismus ausgehen, sagen, uns interessiert gar nicht mehr, ob die Hunde bellen, die Karawane des Apparates zieht weiter.

Ich weiß von Genossen, die als Marxisten im Bundestag waren, dass die Marxisten innerhalb der Bundestagsfraktion immer die Mehrheit bildeten, aber die Fraktionsführung trotzdem gemacht hat, was sie wollte. Das ist genau die Erfahrung, die man in allen anderen Parteien machen kann. Ich gebe mich da keinen Illusionen hin, aber wir müssen natürlich von den vorhandenen Potentialen ausgehen. Kein Linker kann eine vorhandene Organisation, die auch nur einigermaßen noch gegen den Stachel löckt, einfach aufgeben, sondern da muss man wirklich schauen, was es dort für Potentiale gibt. Gut sieht das aber nicht aus.[6]

SB: Ein Begriff wie Klassismus kann als Beispiel für Wortschöpfungen genommen werden, die für die moderne Soziologie signifikant zu sein scheinen. Welchen Einfluss messen Sie dieser Art von Wissenschaftsentwicklung bei, die sich immer mehr ausdifferenziert und dabei eine zentrale Frage wie den Klassenantagonismus gar nicht mehr thematisiert?

WS: Auf der einen Seite wird mit dieser Klassismustheorie ein klassengesellschaftliches Problem angesprochen, aber in der konkreten Ausführung verflüchtigt sich das sozusagen wieder. Klassismus meint, dass Unterschichtsangehörige diskriminiert werden, indem die gesellschaftlichen Mehrheitsdiskurse etwa feststellen und hervorheben, dass Unterschichtsangehörige sich nicht gut artikulieren können und andere auffällige Verhaltensweisen an den Tag legen. In der strikten Klassismustheorie wird überhaupt nicht mehr gefragt, ob das nicht tatsächlich in den gesellschaftlichen Unterzonen so der Fall ist, was ja durchaus zutrifft. Es gibt seit den 70er Jahren etwa weitreichende Untersuchungen, in welchem Maße die Klassenlage mit Artikulationsfähigkeit und Sprachkompetenz usw. zu tun hat. Das sind objektive Prozesse, die nicht nur das Produkt von Abwertungsstrategien der Mittelschichtsangehörigen sind, wie innerhalb dieses Klassismusdiskurses unterstellt wird. Und letztlich führt das dann auch von der Klassenfrage wieder weg, obwohl eigentlich Symptome der Klassenstrukturierung zur Kenntnis genommen werden, aber sie werden nicht wirklich in ihren Ursachen analysiert. Das gehört zu dieser Vielzahl von halbkritischen Theorien, die auf Kritikwürdiges rekurrieren, aber das dann so behandeln, dass die wirklichen gesellschaftlichen Ursachen irgendwo dann im Laufe der Beschäftigung und des Diskurses verschwinden.

(...) Daran sieht man, dass, wie mein Lehrer Georg Lukács gesagt hat, Manipulation doch nicht allmächtig ist. Ich gehöre zu den ganz wenigen Linken, die nicht sehr dezidiert über die Presse schimpfen. Dass sie manipulieren, ist offensichtlich, aber mit dem Medienkomplex kann ich nicht den niedrigen Bewusstseinsstand erklären, denn ihm ist es bisher nicht gelungen, die wirklichen Konflikterfahrungen der Menschen zu überdecken. Die sind nach wie vor vorhanden. Was der Medienapparat schafft, ist, dass er den Menschen die adäquaten Begriffe und Interpretationsmuster abgewöhnt hat oder sie den Menschen gar nicht mehr zur Verfügung stehen, weil sie im öffentlichen Raum überhaupt keine Rolle mehr spielen. Aber richtig gefragt, kommt doch zum Ausdruck, dass diese gesellschaftlichen Grundkonflikte im Alltagsbewusstsein nach wie vor präsent sind.

SB: Im postmodernen Diskurs wird die These vom Tod des Subjekts aufgestellt. Was würden Sie dem als gesellschaftliche oder soziale Kategorie gegenüberstellen, wo würden Sie eine Subjektivität verorten, die Aussicht auf Entwicklungsfähigkeit hätte?

WS: Die Subjektivität ist angegriffen und weitgehend zerstört, um das einmal in Schlagworten zu sagen, was sich auch in der Zunahme von Depressionen widerspiegelt, unabhängig davon, ob das immer richtig kategorisiert wird. Tod des Subjekts ist eines dieser Beispiele, wo angeblich linke Diskussionen in einem extremen Maße desorientierend wirken. Das ist der Kern bürgerlicher Ideologie seit Nietzsche und dem 19. Jahrhundert. Es ist ein konstantes Legitimationsmuster, das sich in einer anderen Terminologie so äußert, dass man also sagt, die Umstände sind so dominant, dass man sich gegen sie überhaupt nicht wehren kann. Es gibt ja auch bei Marx eine Theorie der Entfremdung, aber durch die Entfremdung wird bei Marx das Subjekt eben nicht vollständig negiert, sondern er untersucht doch ziemlich genau, welche Widerstandspotentiale sich entwickeln können.

Der Begriff "Tod des Subjekts" kommt von Foucault und wird von vielen Linken nicht ohne Berechtigung als eine Situationsbeschreibung verstanden, aber ich würde sagen, auch missverstanden, weil nämlich bei Foucault das Subjekt tatsächlich komplett negiert wird. Die Parallelkategorie ist dann die Kategorie der Macht. Jeder kritische Denker redet von der Macht, aber er analysiert die Macht konkret, was in dieser Modephilosophie eben nicht gemacht wird. Da wird die Macht als eine elementare Kraft definiert, der man sich nicht entziehen kann. Wenn ich mich aber der Macht nicht entziehen kann, dann kann ich sie auch nicht in Frage stellen, und das ist, denke ich, die fundamentalste Legitimation bestehender Verhältnisse. Wenn ich sage, Macht ist universal und setzt sich in allen Strukturen und in allen Beziehungen irreversibel fort, dann ist das eine deutliche Legitimationsrede über die bestehenden Verhältnisse.

SB: Müsste also eine Linke, die sich der Herrschaft verweigert und in diesem Sinne streitbar wird, der bequemen Lösung entsagen, es wie die berühmten drei Affen zu halten?

WS: Die Linke hat nur die Aufgabe, das zu sagen, was sie sagen muss. Ich glaube, dass es eine Illusion und auch Fehleinschätzung der traditionalistischen revolutionären Arbeiterbewegung gewesen ist, von der Vorstellung auszugehen, dass man eine revolutionäre Situation herstellen kann. Man kann aber auf sie vorbereitet sein. Es reicht nicht, dass der Gedanke zur Wirklichkeit drängt, sondern die Wirklichkeit muss zum Gedanken drängen. Immer wieder hat es in der Weltgeschichte in scheinbar ausweglosen Situationen neue Wendungen und Entwicklungen gegeben. Und deshalb hat weder Nietzsche noch Adorno recht, wenn sie den Begriff des immer Gleichen einführen und von der Unendlichkeit des Grauens sprechen. Ich bin wirklich der Letzte, der sich Illusionen über diesen Zustand, über die Zerstörung subjektiver Widerstandspotentiale macht. Das ist weit vorangeschritten, und wir wissen tatsächlich nicht, ob nicht, wie Marx es gesagt hat, es im Bereich des Möglichen ist, dass wir in der Endphase der menschlichen Zivilisation sind, dass die kämpfenden Klassen gemeinsam untergehen, wie wir es in der Geschichte schon einmal erlebt haben. (...)

Optimismus im vordergründigen Sinne wäre wirklich fehl am Platze, aber in der gleichen Radikalität und Konsequenz, in der wir den Untergang vor Augen haben, müssen wir einräumen, dass wir trotzdem die Möglichkeit hätten, noch vor dem Abgrund zurückzutreten. Aber das ist mit kleinen Reförmchen und, wie es in der früheren Programmdiskussion der PDS hieß, mit der Unterstützung und Stimulierung der Evolutionspotentiale des Kapitalismus nicht getan. Ich denke, da gilt die Wahrheit der Plakate der KPD von 1930 und 1932 und 1933: Kapitalismus bedeutet Krieg. Unabhängig davon, ob es jetzt der Krieg gegen das Lebensglück der Menschen, ob es der Krieg gegen die Natur ist. Wenn man sich zum Beispiel die Bodenspekulation anschaut, die wie ein Heuschreckenschwarm über die peripheren Länder herfällt, dann werden da neue Konflikte konstituiert. Das verweist einmal mehr darauf, dass man sich über den Kapitalismus und seine Veränderungsfähigkeit keine Illusionen machen darf. Das ist die Basis für alle weiteren Diskussionen.[7]


Foto: © 2012 by Schattenblick


Gespräch zur dOCUMENTA (13) in Kassel am 1. September 2012

SB: Du hattest in deinem Vortrag auf die Disqualifizierung von Künstlern wieGeorge Grosz, Lovis Corinth, Renato Guttuso und Käthe Kollwitz auf der zweiten Documenta hingewiesen. Gibt es hinsichtlich dieser Kunst mit ihrem häufig ausdruckstarken zeitkritischen Bezug eine Kontinuität der Missachtung?

WS: Mit vielen Ausnahmen, die man sich konkret anschauen müsste, hat die Documenta seit ihren Anfängen immer eine Kunst der Belanglosigkeit in den Vordergrund geschoben. Es ist eine rein subjektivistische Kunst gewesen. Gerade die abstrakte Kunst, die sehr große Qualitätsunterschiede aufweist, zeichnet sich dadurch aus, dass sie den ungefilterten Subjektivismus des Künstlers dokumentiert. Weltabgewandtheit und subjektivistische Selbstgenügsamkeit reichen sich die Hand.

Der Künstler mag sich bei seinem Schaffensakt etwas gedacht haben, aber seine Intention ist nicht objektivierbar und intersubjektiv vermittelbar. Dann kommt natürlich die große Stunde der Kunstinterpretation. Seitdem die Kunst subjektivistisch geworden ist, hat sie sich zu einem florierenden Gewerbezweig entwickelt. Der Kunstkritiker spricht für die sprachlos gewordene Kunst.

Ich will damit nicht sagen, dass sie komplett inhaltsleer ist. Abstrakte Kunst, die nur mit schwarzen Farben bzw. starken Akzentuierungen arbeitet - das wissen wir aus der Farbpsychologie -, spricht andere Tiefenschichten der Menschen an, als es helle Farben tun. Diese schwarzen Töne verstärken zum Beispiel vorhandene Resignation, während man Kunst, die mit roten Farben arbeitet, wie es die russischen Konstruktivisten gemacht haben, auch schon als eine Art politische Botschaft erleben kann, aber wirklich objektivieren lässt sich das nicht. Hinzu kommt, dass die meisten der abstrakten Künstler nicht mit lebensbejahenden Farben arbeiten. Sie bedienen sich vielmehr, wie man in der Fachterminologie sagt, einer repressiven Allegorik. Kunstpsychologisch betrachtet sprechen sie repressive Bewußtseinsschichten an.

SB: Du hast in deinem Vortrag über Kunst als historisches Gedächtnis der Menschheit gesprochen und auf die Gefahr hingewiesen, dass diese Art von künstlerischer Entwicklung eine Art allgemeiner Amnesie fördern könnte. Könntest du dazu noch etwas sagen?

WS: Zunächst einmal will ich ein Lob für den kulturbürokratischen Komplex in der Bundesrepublik aussprechen. Es gibt eine fast unübersehbare Museumslandschaft und viele Häuser, in denen große traditionelle oder auch frühmodernistische Kunst gezeigt wird, aber die wirkungsvollsten Ausstellungsaktivitäten drehen sich um das relativ kleine Segment des weltlosen Modernismus. Daraus entsteht die Bereitschaft, zu Gunsten dieses Modernismus die historische Kunst zurückzudrängen. Es gibt eine ganze Reihe von Beispielen, wo Mittelalter-Abteilungen weggeräumt wurden und dann Joseph Beuys seine obligatorischen Steinquader oder Filzplatten ausgebreitet hat. Erfahrungsgemäß werden die alten Bestände nie mehr rekonstruiert. Da besitzt diese Art des Modernismus einen raumgreifenden Anspruch und eine kulturell zerstörerische Wirkung.

Wir können sogar als Faustformel sagen: Je ausdrucksloser das Kunstwerk ist, um so größer wird es heute gestaltet. Im Extremfall, wie eben auch hier auf der Documenta, führt das dazu, dass ganze Räume leer bleiben und dann ein Luftzug erzeugt wird. Übrigens ist das überhaupt keine originelle Idee. Es zeigt nur, wie gering das historische Gedächtnis der Autoren ist, die heute professionell über Kunst schreiben. Vor vier, fünf Jahren habe ich in Basel eine ähnliche Installation gesehen. Dort ist ein polnischer Künstler mit der Erarbeitung einer Ausstellung betraut worden. Auch er hat die Räume leer gelassen. Zwar hat er keinen Luftzug inszeniert, dafür aber in die Wände der frisch renovierten Kunsthalle Löcher stemmen lassen. Schon in den 50er Jahren hat Yves Klein eine Pariser Galerie mit weißer Farbe anstreichen lassen und diese Renovierung der Galerie dann als seine Ausstellung und Kunstaktion deklariert.

Obwohl die Moderne davon lebt, dass man permanent etwas Neues macht, sehen wir schon an diesen wenigen Beispielen - und das ist eines ihrer Hauptprobleme -, dass sie sich mittlerweile nur noch selbst zitiert. Wir haben auch hier in Kassel, gerade bei ansprechenden Kunstwerken erlebt, dass es doch nur Zitate des schon dutzendmal Gesehenen waren. [8]


Werner Seppmann auf der 21. Linken Literaturmesse in Nürnberg - Foto: © 2016 by Schattenblick

Foto: © 2016 by Schattenblick


Gespräch auf der 21. Linken Literaturmesse in Nürnberg am 6. November 2016

SB: Wie bewertest du die Innovationsfähigkeit bzw. -dynamik der IT-Monopolisten, wenn zum Beispiel Google in den Bereich der e-Mobilität expandiert?

WS: Unterhalten wir uns erst einmal über Innovationen. Wir lassen uns sehr leicht von dem Schein täuschen, aber man kommt um die Tatsache nicht herum, dass die Zeit der Innovationen vorbei ist. Die großen Firmen modifizieren eigentlich nur noch, zumindest gilt dies im technischen Bereich. Ohne Frage ist es genial gewesen, dass die Dells und Gates und wie sie alle heißen eine neue Computergeneration, sprich den Personal Computer, auf den Markt gebracht haben. Inzwischen ist das Ende der Fahnenstange jedoch erreicht und neue Innovationen sind nur noch sehr schwer zu konzeptionieren, allerdings nicht bei der Vermarktung und auch nicht bei der Umsetzung, da fällt ihnen schon aus existentiellem Zwang heraus jeden Tag etwas ein. Man darf dabei aber nicht vergessen, und das ist ein wichtiger Aspekt bei der ganzen IT-Industrie, dass in der Presse der Investor vorgeführt wird, der eine Million investiert und eine Milliarde zurückbekommen hat. Aber wenn ich den Lottogewinner porträtiere, wird meistens außer Acht gelassen, dass 40 Millionen andere nicht gewonnen haben.

Ganz so schlimm sind die Relationen nicht, aber in der IT-Ökonomie herrschen in dieser Hinsicht fast die gleichen Kriterien wie in der normalen Wirtschaft. Wenn ich nämlich die Gesamtheit der Investitionen betrachte, dann sind diese Erträge gar nicht so überdurchschnittlich. Die gesamte IT-Industrie ist im Grunde ein Friedhof der gestorbenen Illusionen. Von den Tausenden und Zehntausenden Firmen, die alle ihr Glück versucht haben, sind nur ganz wenige durch die rauen Stürme der Konsolidierungsphase gekommen. Das gilt sowohl für die Startup-Unternehmen als auch für Leute, die Geld angelegt haben, und natürlich in viel stärkerem Maße für die Beschäftigten. In keiner vergleichbaren Branche wird im Durchschnitt so wenig bezahlt wie in der IT-Branche. Man braucht bloß zusammenzurechnen, was all diese Leute verloren haben, die 2002 Aktienoptionen bekamen, als die Firma dann pleite gegangen ist. (...)

SB: Nun schafft zum Beispiel Apple Strukturen, bei denen die Nutzer ihre Gesundheitsdaten von ihren mobilen Geräten direkt in Apple Health einspeisen, um sie dort evaluieren zu lassen. Dient Innovation in diesem Sinne nicht der Sicherung der Position als Monopolist?

WS: Vielleicht, aber zuvor noch eine Zwischenbemerkung: Die Überlegung drängt sich gerade bei den Gesundheits-Apps auf, denn was die IT-Multis anzubieten haben, hat natürlich einen individuellen Nutzen. Das ist auch der Hebel, der es ihnen ermöglicht, ihre Erfolge zu garantieren und durchzusetzen, aber - und das ist heute allgemein bekannt - hinsichtlich der Abhör-, Ausforsch- und Beeinflussungspraktiken sind die Nachteile in der Regel mindestens so groß wie die Vorteile. Bei den Gesundheits-Apps kann man natürlich sehr viele Vorteile erkennen, aber die Frage ist, ob die Gefahren hinsichtlich von Ausspähung und Kontrolle nicht viel größer sind als der Nutzen für den Endverbraucher.

Sobald dieses System etabliert ist, kommt man mit irgendwelchen Datenschutzpostulaten nicht mehr sehr weit, weil sie unterlaufen werden. Nicht erst seit heute, schon seit Jahrzehnten ist es so, dass ich eine Blutprobe abgeben muss, wenn ich bei Daimler, und zwar mit Zustimmung des Betriebsrates, eingestellt werden will. Wenn diese Gesundheitsdaten erst einmal objektiviert sind, ist es nur noch ein kleiner Schritt, bis sie zur Selbstverständlichkeit werden. Ein Ingenieur, der zwei Jahre arbeitslos ist, wird nicht lange überlegen, ehe er seine Chip-Karte dem Unternehmen aushändigt, bei dem er sich um eine Stelle bewirbt. Sicherlich darf auch heute kein Chef eine 30-jährige Frau fragen, ob sie sich hat sterilisieren lassen, aber eine 30-jährige Frau in Ostdeutschland wird die Sterilisierungsbescheinung auch unaufgefordert in die Akte legen. Natürlich wird der Personalchef dann verschämt darauf gucken und sie zurückgeben mit der Bemerkung, das interessiert uns gar nicht, gnädige Frau. So ähnlich wird es sich auch mit diesem Gesundheitssystem und den Gesundheits-Apps verhalten.

Das ist zur Zeit übrigens ein ganz heißes Eisen, und die IT-Ideologen stehen Gewehr bei Fuß mit der Behauptung, dass die Daten gesichert sind. Es gibt Betriebe, die das ganz offiziell einführen und auch die Übersicht über die Daten haben, aber dort, wo sie das nicht machen, bilden sie einzelne Mannschaften, die sozusagen als Wettbewerbsgruppen agieren. Wenn dann eine 20-jährige Sachbearbeiterin einem 60-jährigen übergewichtigen Buchhalter gegenüber sitzt, ist relativ klar, wem die einzelnen Gesundheitsdaten, unabhängig von den anderen Möglichkeiten, zugeordnet werden. Bei dieser Überwachungsproblematik interessieren sich die Schnüffler ohnehin nicht so sehr für die einzelnen Inhalte, als vielmehr für den strukturellen Aspekt, also für die Meta-Daten.

Wenn die Überwacher mitbekommen, dass wir beide gemailt haben, dann wissen sie, dass es dabei nicht um den Stand unserer Kaninchenzucht ging. Selbst wenn sie uns noch nicht kennen und kategorisiert haben, prüfen sie nach, mit wem du korrespondierst und mit wem ich korrespondiere und mit wem die Leute korrespondieren, mit denen wir korrespondiert haben, und aus diesem ganzen Netz machen sie sich dann ein Bild, das natürlich fehlerhaft ist, aber das spielt keine Rolle in der Bewertung. Wenn du irgendwo eine Stelle haben willst, dann interessiert sich der Personalchef nicht dafür, wer du wirklich bist, sondern er bewertet dich aufgrund deiner verdächtigen Verstrickungen und personellen Beziehungen. Das ist das Gefährliche an der Digitalisierung in diesen Bereichen, dass hier Prozesse stattfinden, die sich verselbständigen, und zwar in einem ganz extremen Sinne. (...)

SB: Die Gewerkschaften nehmen beim Thema Industrie 4.0 gerne die Haltung ein, zum einen nicht auf die damit einhergehenden Chancen verzichten und zum anderen dafür zu sorgen zu wollen, dass die Entwicklung der Arbeit nicht zum Nachteil der Lohnabhängigen verläuft. Wie erklärt sich diese ambivalente Position?

WS: Sie sagen gerne, wir wollen objektiv sein. Die Kollegen, und hier rede ich von den Führungsetagen der Gewerkschaften, weisen durchaus auf die Gefahren der Digitalisierung hin, aber im gleichen Atemzug heißt es, es bietet auch neue Chancen. Wir könnten uns jetzt fünf Stunden über die Gefahren unterhalten, große Chancen habe ich bisher trotz intensiver Beschäftigung nicht entdeckt. Im zweiten oder dritten Satz sagen dann die Gewerkschaftskollegen, dass sie die Gefahren genau im Blick haben, und sollte sich eine Gefahr nähern, werden sie wie Jung-Siegfried gleich das Schwert ziehen. Ja, doch dann wundere ich mich, warum sie bisher in ihrem Beritt nichts gegen die Digitalisierung gemacht haben, wenn sie sich zum Nachteil der Beschäftigten auswirkt. (...)

SB: Wenn der Preis der Arbeit durch die Verbilligung der Maschinen und dadurch, dass die Robotisierung sich mehr und mehr durchsetzt, immer weiter in den Keller geht, an welcher Stelle wird dann das Problem der schwindenden Mehrwertabschöpfung relevant?

WS: Das ist eine sehr komplizierte Frage. Nun wird die Arbeit schon seit 200 Jahren rationalisiert. Bei Marx heißt es, in dem Maße, wie die gesellschaftlich notwendige Arbeit durch Rationalisierung abnimmt, schafft der Kapitalismus überflüssige Arbeit. Wenn man ein Auto nach dem Standard von vor 20 Jahren bauen würde, könnte man tatsächlich zwei Drittel aller heutigen Arbeitsplätze streichen, denn die Autos werden immer komplizierter. Heute werden bis zu 4000 Komponenten in ein Auto eingebaut, so dass gerade in der Automobilindustrie, die einen sehr hohen Innovations- und Rationalisierungsgrad hat, in den letzten Jahren keine Arbeitsplätze abgebaut worden sind. Hinsichtlich der allgemeinen Arbeitsplatzbilanz sieht es so aus, dass sicherlich ganz schmerzhafte Veränderungen in der Arbeitswelt stattfinden werden, aber im Gegenzug neue, und zwar in der Regel prekäre Arbeitsplätze entstehen, denn auch die hochtechnisierte Produktion braucht die menschliche Zuarbeit.

In welchem Maße neue Arbeitsplätze geschaffen werden, wird bei Amazon und überhaupt im ganzen Versandhandel überdeutlich. Wir haben eine bestehende Infrastruktur über Groß- und Einzelhandel, die alle gesellschaftlichen Bedürfnisse befriedigt, aber jetzt entsteht ein vollkommen neues Vertriebssystem. Das alte minimiert sich zwar, aber nicht in dem Maße, wie sich das neue entwickelt. Das ist ein typischer Mechanismus. Man müsste sich für jede Branche genau anschauen, welche neuen Betätigungsfelder durch die technologische Entwicklung entstehen. Die Kollegen bei Amazon, die im Lager noch ohne Computer vor dem Bauch gearbeitet haben, litten unter Rückenproblemen und mussten zum Orthopäden. Die Leute, die jetzt die Brille kriegen, werden in spätestens fünf Jahren zum Psychiater gehen müssen, aber es werden nicht so viele Arbeitspsychiater in Lohn und Brot gesetzt, wie durch die Rationalisierung in diesem konkreten Fall an Arbeitskräften eingespart wird, aber der Reparaturbetrieb wird insgesamt ausgeweitet. (...)

Generell werden bei Automatisierungsprozessen die Zusatzkosten unterschätzt, die durch den Einsatz aufwendiger Software-Produkte entstehen, weil Software ja permanent erneuert wird. Es gehört übrigens zu den Illusionen über die Computerisierung, dass selbst in kritischen Situationen noch dieser dumme Satz von der neuen ökonomischen Grundlage verbreitet wird, nämlich dass durch den besonderen Charakter dieser Produkte eine unendliche Verwertung möglich ist. Das ist der größte Unsinn und hebt keineswegs die Gültigkeit des Wertgesetzes auf.

Eine Software, die heute entwickelt wird, war gestern schon überholt, so dass man permanent Updates machen muss. Bei der großen Software-Schmiede SAP hatte man früher einen Produktionsrhythmus von zwei Jahren gehabt. Mittlerweile ist man bei einem Jahr angekommen und stellt jetzt auf einen dreimonatigen Wechsel um. Das bedeutet, dass hier permanent nachgearbeitet werden muss, und das spielt natürlich bei der Mehrwertfrage mit hinein. Auch in der weichen Software-Ökonomie spielt die lebendige Arbeit eine ganz große Rolle, die sogar noch zunehmen wird. [9]


Werner Seppmann auf der 21. Linken Literaturmesse in Nürnberg - Foto: © 2016 by Schattenblick

Foto: © 2016 by Schattenblick


Gespräch auf der 23. Linken Literaturmesse in Nürnberg am 4. November 2018

SB: Führt der Verlust an Lebensmöglichkeiten, einer Perspektive und der sozialen Beziehungen zu einer Notlage, in der ein identitärer Bezug darauf, ein Deutscher zu sein, als einzig verbliebener Rettungsanker wahrgenommen wird?

WS: Der Rechtspopulismus sagt den Leuten, auch wenn du unten bist, wenn du nichts bist, kannst du doch stolz darauf sein, ein Deutscher zu sein. Das vermittelt dann in einer entfremdeten Weise, wirklich in Anführungsstrichen, so etwas wie Lebenssinn. Wie insgesamt ja die Fähigkeit der rechten Ideologie sich dadurch auszeichnet, dass sie in der Lage ist, den Menschen in einer Situation des Unverständnisses, der Orientierungslosigkeit, Orientierungspunkte zu geben auch indem sie wieder auf Alltagserfahrungen zurückgreift. Der traditionelle Faschismus ist genauso wie der Neoliberalismus der Geist geistloser Zustände, wie Marx es hinsichtlich der Religion gesagt hat. Gerade das sozial verunsicherte Individuum braucht Orientierungsmuster, und diese Muster werden ihm von den traditionellen Organisationen nicht mehr gegeben. Die Sozialdemokratie ist mit fliegenden Fahnen zum Neoliberalismus übergelaufen, und durch diese Bresche kann heute AfD-Propaganda eindringen. In dem Sinne ist sie dann auch der Geist geistloser Zustände. Und vor allen Dingen hat die rechte Propaganda natürlich den unmittelbaren Tatsachenschein immer auf ihrer Seite. Wenn du keine Arbeit hast, der türkische Nachbar aber schon, dann verfängt diese blöde Parole, dass die Ausländer uns die Arbeit wegnehmen. Es stimmt zwar faktisch nicht, aber es stimmt doch summarisch und es stimmt von der eigenen Erfahrungslage her. Das muss man in diesem Zusammenhang dann auch immer sagen. (...)

SB: Unter der Neuen Rechten finden sich heute Kreise, die als Linke angetreten sind, aber auf einer Querfront die Seiten gewechselt haben. Zudem bedienen sich Bewegungen wie "Aufstehen!" populistischer Argumente. Wo würdest du eine Linie ziehen, die eine Grenze linker Positionen definieren könnte?

WS: Das ist eine relativ komplizierte Frage. Der Begriff "Populismus" sollte für einen Linken eigentlich tabuisiert sein. Wir nannten das früher Aufklärung und sollten auch weiterhin dabei bleiben. Der Gegensatz zum rechten Populismus ist nicht ein sogenannter linker Populismus, sondern der Volkstribun, wie man es traditionalistisch genannt hat. Dieser Begriff ist für uns heute vielleicht nicht mehr anwendbar, so dass wir uns Gedanken machen sollten, einen anderen dagegenzusetzen, um diese Irritationen zu vermeiden.

Aber deine Frage hat ja noch eine andere Dimension. Was wären die Sofortmaßnahmen, die für eine linke Gegenbewegung unverzichtbar sind? Ich habe das schon angedeutet: Das Wichtigste wäre die Forderung der Wiederherstellung des alten Rechts, wie es die Bauern im 16. Jahrhundert in ihren Kämpfen gefordert haben. Heute wäre das ohne Wenn und Aber die Rekonstruktion der einkommensabhängigen Arbeitslosenversicherung. Ich war vor fünf Jahren noch skeptisch, ob das überhaupt möglich ist, aber wir haben inzwischen die finanziellen Ressourcen, indem wir eine Erbschaftssteuer einführen, zum Beispiel in dem Umfang, wie er in den "kommunistischen" Vereinigten Staaten üblich ist. Wenn wir diese Steuersätze hätten, kämen jährlich 40 bis 60 Milliarden in die Kasse, und wir könnten all diese Dinge realisieren, die auch unabdingbar sind, um dem Rechtsradikalismus Paroli zu bieten. Es ist ja von der neuen Großen Koalition viel Geld verteilt worden, aber an die entscheidende Frage des Sozialabbaus und der Zerschlagung der traditionellen Sicherungssysteme geht man nicht ran.

Trotz sogenannter sozialer Vorteile ändert das nichts an der tiefen Resignation der Menschen. Heute weiß schon ein Kind in der Grundschule aus den Erzählungen in der Familie, dass es sich um seine Rente Sorgen machen muss. Wir müssen diese Probleme diskutieren, aber auch sagen, was dagegen getan werden könnte. Wenn wir da nicht die Axt an die Wurzel der Probleme legen, haben die rechten Kräfte tatsächlich ein leichtes Spiel.

Wenn wir eine Binnendifferenzierung der AfD vornehmen, müssen wir den abnehmenden Flügel der neoliberalistischen Wirtschaftsprofessoren, dann die gewöhnliche rechte Mitte und schließlich, wie wir früher gesagt hätten, den sozialfaschistischen Flügel, der durchaus ernstzunehmen ist, voneinander unterscheiden. Letzteren müssen wir genauso ernst nehmen, wie Hitler es tat, der ihn nämlich im Zuge des sogenannten Röhmputsches liquidiert hat. Sollte es dieser Flügel schaffen, seine Vorschläge zur Rentenreform durchzusetzen, dann bekommen die anderen Parteien allergrößte Probleme. Es ist ja nur ein Teilaspekt der Programmatik der AfD, dass sie gegen das soziale Sicherungssystem polemisiert und beispielsweise die Hartz-IV-Regelungen revidieren will. Aber immerhin hat Frauke Petry gesagt, wir fordern für den Leiharbeiter nicht nur den gleichen Lohn, sondern sogar einen höheren. In den Talkshows wird dann gesagt, das sei Populismus und Träumerei, aber so etwas gibt es in Frankreich. Dort müssen zehn Prozent mehr gezahlt werden, weil man sagt, der Leiharbeiter hat größere Aufwendungen und muss dafür bezahlt werden. Was hindert die Linkspartei daran, diese Forderung im Parlament einzubringen? Warum überläßt man das einer Frauke Petry? Wenn wir nicht aufpassen, dann wird dieser linksfaschistische Flügel, der den Antikapitalismus nur vortäuscht, mit seinen sozialen Forderungen, die nicht nur Propaganda sind, immer mehr Einfluss gewinnen. Wenn man diesen Flügel nicht seitens der Linken - auf die SPD können wir wahrscheinlich überhaupt nicht mehr bauen - angreift, hätte das fatale Folgen. Sollte die AfD auch materiell einlösen, was sie heute nur vortäuscht, nämlich dass sie ein Herz für den kleinen Mann hat und seine Interessen vertritt, müssen wir uns ganz warm anziehen. [10]


5 Bücher von Werner Seppmann ausgelegt - Foto: © 2021 by Schattenblick

Gesellschaftskritik mit Klassenstandpunkt
Foto: © 2021 by Schattenblick

Fußnoten:

[1] http://www.getidan.de/gesellschaft/georg_seesslen/65238/der-antiintellektualismus-begeht-seinen-groessten-verrat-nicht-an-den-intellektuellen-sondern-an-den-menschen-die-er-glaubt-vertreten-zu-duerfen

[2] http://schattenblick.de/infopool/kunst/report/kurb0027.html

[3] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0087.html

[4] Werner Seppmann: Ist der Kapitalismus überhaupt noch reformierbar?, Bergkamen 2019

[5] http://schattenblick.de/infopool/politik/kommen/herr1910.html

[6] http://schattenblick.de/infopool/politik/report/prin0101.html

[7] http://schattenblick.de/infopool/politik/report/prin0102.html

[8] http://schattenblick.de/infopool/kunst/report/kuri0017.html

[9] http://schattenblick.de/infopool/d-brille/report/dbri0085.html

[10] http://schattenblick.de/infopool/d-brille/report/dbri0106.html


15. Juni 2021

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 22. Juni 2021


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