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INTERVIEW/008: Mutter Meinhof - Im Spiegel der Erinnerung, Anja Röhl im Gespräch (SB)


Gegen das Bild der Rabenmutter angeschrieben

Interview mit Anja Röhl am Literaturhaus Schleswig-Holstein in Kiel am 7. April 2014



Wer sich an einer Person wie Ulrike Meinhof abarbeitet, tut das immer auch an der Zeitgeschichte - und an sich selbst. Kaum eine Erscheinung in der bundesrepublikanischen Geschichte nach '45 hat die Nation und ihre Menschen so gespalten wie die RAF und Ulrike Meinhof als einen ihrer führenden Köpfe. Sie wurde als Staatsfeindin verteufelt, verfolgt und verurteilt, wegen ihrer präzisen politischen Analysen sowie ihres gesellschaftlichen Engagements gegen Mißstände aber durchaus auch wertgeschätzt. Positives zu berichten tun sich die meisten dennoch schwer. Zu leicht handelt man sich den Vorwurf eines rechtswidrigen Sympathisantentums ein oder Schlimmeres. Dabei läßt sich niemand aus der RAF allein auf den ohnehin fragwürdigen Terrorismusbegriff reduzieren oder ausschließlich darin unterbringen. "Keine öffentliche Figur in diesem Land ist dermaßen unter Legenden, Mythen und Fälschungen begraben wie Meinhof", urteilt die Mitbegründerin und ehemalige Vorsitzende der Partei Die Grünen Jutta Ditfurth, die 2007 eine Biografie zur Person vorgelegt hat. [1]

Einen sehr privaten Blick der Erinnerung hat im letzten Jahr Anja Röhl mit ihrem Buch "Die Frau meines Vaters" preisgegeben. [2] Die Tochter des Konkret-Begründers Klaus Rainer Röhl aus erster Ehe lernte Ulrike Meinhof als die neue Freundin und spätere zweite Ehefrau ihres Vaters schon als Kind kennen - und war beeindruckt. Sie sei die erste Erwachsene gewesen, die ihr zuhörte, ohne sie zu bevormunden, die ihr eigenständiges Denken förderte und sie zum Widerspruch ermutigte, die ihr mit Wärme und Anteilnahme begegnete. In der Zeit der ausgehenden 50er und beginnenden 60er Jahre, als Prügelstrafen in Schulen, Heimen und Elternhäusern noch selbstverständlich waren und Mädchen in Hosen ein Unding wahrlich keine Selbstverständlichkeit im Umgang mit Kindern.

Die Veröffentlichung des Buches, das auch eine Erinnerung an die eigene Kindheit und ein Sittengemälde der Bundesrepublik dieser Zeit ist, war nicht unumstritten und hat einige rechtliche Auseinandersetzungen hinter sich. Anläßlich einer Autorenlesung im Literaturhaus Schleswig-Holstein am 7. April traf der Schattenblick Anja Röhl im Alten Botanischen Garten in Kiel zu einem Gespräch über das Buch, seine Entstehung, ihr Verhältnis zu Ulrike Meinhof und ihren eigenen Weg.

Anja Röhl auf einer Parkbank im Alten Botanischen Garten - Foto: © 2014 by Schattenblick

Anja Röhl
Foto: © 2014 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Was hat den Zeitpunkt des Schreibens und des Publizierens deiner "Erinnerungen an Ulrike" bestimmt?

Anja Röhl (AR): Ich bin mit diesem Buch lange schwanger gegangen. 2003 gingen meine Kinder aus dem Haus und dann habe ich mich intensiv damit befassen können. Ich habe eine Weile gebraucht, um es in eine Form zu bekommen, die mir gefällt. Es ist ein subjektives, ein belletristisches Buch, also kein Sachbuch. Ich habe mir Mühe gegeben, es so zu schreiben, daß es verstanden wird, denn ich musste gegen ein anderes Bild Ulrike Meinhofs anschreiben, das auch aus dem nahen Familienbereich her gezeichnet worden ist, da braucht man ein bißchen. Es hängt auch damit zusammen, daß ich mich, als meine Kinder heranwuchsen, ihren Fragen stellen mußte. Es konnte ihnen nicht entgehen, daß dazu in unserer Familie kontroverse Meinungen existierten.

SB: Wie geht man nach so langer Zeit mit dem Problem der Erinnerung um, die ja bruchstückhaft, selektiv und zwangsläufig auch immer interpretiert ist. Wieweit sind dann auch literarische Kunstgriffe ein Mittel?

AR: Aus der amerikanischen Literaturwissenschaft kommt die Vorstellung, daß Literatur immer Fiktion ist. Das ist aus meiner Sicht ein Fehler. Literatur ist ganz häufig Authentizität, eigenes, inneres Fühlen. Dadurch gibt es ja gerade die Möglichkeit, daß man durch Literatur Wahrheiten vermitteln kann und wahrnimmt. Literatur bezieht sich auf Sprache, sie wählt eine Sprache, die ins Innere dringt und einen da anpackt, aufbricht, trifft, Erkenntnisse entstehen lässt, ohne zu suggerieren. Das Literarische bezieht sich ausschließlich auf die Form, die ich gewählt habe, nicht auf den Inhalt. Der Inhalt ist authentisch. Es gibt einen kompositorischen Plan, da ich von einer Rückblende ausgegangen bin. Von dem Tag, als ich vom Tod Ulrikes erfahre, gibt es eine Rückblende, die in der Kindheit anfängt und wieder bis zu diesem Tod zurückgeht. Das ist etwas, was man in der Literatur häufig findet.

Mit der Erinnerung ist das nun so, daß ich das Glück habe, daß ich mich sehr gut erinnern kann. Ich neige nicht zur Verdrängung. Schon als kleines Kind habe ich mir bei manchen Erlebnissen immer wieder gesagt, das darfst du nie vergessen - da war ich drei. Ich erinnere mich an die ersten Szenen mit 2 ½ und da fängt auch das Buch an. Das liegt, glaube ich - Erich Fried beschreibt so etwas - auch an Dingen wie Schmerz. Ich war sehr viel alleine als Kind. Und wenn man viel alleine ist, dann denkt man halt viel nach. Dann redet man mit sich selbst, quasi in Gedanken. Das ist, wie Hannah Arendt es so schön beschreibt, das Denken: mit sich selbst diskutieren, reden, nachdenken, reflektieren, und das habe ich schon als kleines Kind gemacht. Ich erinnere mich natürlich an die Dinge, die mein Inneres aus diesem Ganzen ausgewählt hat, die mir damals wichtig waren, weil sie mich beeindruckten oder mir Schmerzen oder Glück verursacht haben. Damit habe ich das Buch gefüllt. Mit ausgewählten Erinnerungsstücken.

Altes Haus mit Fachwerk am Rande des Parks - Foto: © 2014 by Schattenblick

Das Literaturhaus Schleswig-Holstein im Alten Botanischen Garten in Kiel
Foto: © 2014 by Schattenblick

SB: Über Ulrike Meinhof positiv zu schreiben ist nach wie vor in der Bundesrepublik ein Tabu, über einen Staatsfeind schreibt man nichts Gutes.

AR: Ja, richtig, das kann man sagen. Damit hat man es nicht leicht.

SB: Welche Anfeindungen hast du erfahren und wie bist du damit umgegangen?

AR: Die bürgerlichen Medien haben beschlossen, das Buch totzuschweigen. Das ist insofern ganz gut, weil man öffentlich nicht so viel beleidigt wird. Und insofern natürlich schlecht, als ich ja nicht so bekannt bin, und mich immer noch bei den Lesungen Leute fragen, ob ich eine der Zwillingstöchter Ulrike Meinhofs sei. Das ist das Ergebnis dessen, daß ich mich die vergangenen Jahrzehnte, als andere Familienmitglieder ihre Sicht auf Ulrike Meinhof öffentlich kundgetan haben, zurückgehalten habe, da ich ihnen, weil ich sie liebte, keinen öffentlichen Geschwisterstreit aufdrängen wollte. Jetzt aber fand ich es an der Zeit, daß ich auch meine Meinung, meine Erfahrungen beisteuern sollte.

SB: Und hat dein Vater dazu Stellung genommen?

R.: Mein Vater hat nicht reagiert, er weiß, warum. Er hat allerdings schon in anderem Zusammenhang öffentlich auf mich reagiert, in der Preußischen Allgemeinen. Meine Schwestern waren gegen das Buch, besonders eine von ihnen, nicht, weil sie meint, es stimme nicht, was ich dort schreibe, sondern weil sie sich nicht noch einmal in der Öffentlichkeit haben will. Das kann ich verstehen, aber gleichzeitig habe ich ein anderes Interesse. Daher ging es um das Aushandeln von Kompromissen. Ich habe, so gut es ging, versucht, meine Geschwister herauszuhalten und nur von mir zu berichten. Wichtig war mir, der Rabenmutter-These zu widersprechen, weil ich es völlig anders erlebt habe. Und ich habe Ulrike eben früher gekannt und war, als meine Geschwister sieben waren, schon 14. Da kannte ich Ulrike schon über zehn Jahre lang intensiv und hatte viel beobachtet, insbesondere natürlich auch ihren Umgang mit ihren Kindern.

Die Verdichtung hat dem Buch gutgetan, so ähnlich wie bei Menschen, die unter der Zensur schreiben. Es wurde eigentlich immer besser dadurch. Die übriggebliebenen Szenen sind reduziert auf fünf Seiten, von denen jeder Satz schön ist und innige und liebevolle Situationen zwischen Mutter und Kindern beschreibt. Doch am Ende hat der Rechtsanwalt meiner Schwester gesagt, es darf gar nichts mehr über meine Geschwister drinstehen. Wir haben uns das nicht gefallen lassen wollen und deshalb mit dem Nautilus Verlag, bei dem das Buch erschienen ist, beschlossen, Passagen zu schwärzen. Dazu gibt es ein sehr eindrucksvolles Vorwort des verstorbenen Verlegers Schulenburg im Vorspann.

Anja Röhl im Gespräch - Foto: © 2014 by Schattenblick

Foto: © 2014 by Schattenblick

SB: Wann bist du Ulrike Meinhof zum ersten Mal begegnet, wann zum letzten Mal und unter welchen Umständen?

AR: Ich bin ihr zum ersten Mal begegnet, als ich fünf Jahre alt war, so erinnere ich das. In Briefen von Ulrike an Heidi Leonhard, die heute im Friedrich-Ebert-Archiv öffentlich zugänglich sind, schreibt sie "die vierjährige Anja, die ist ja immer ganz wild nach mir", so in der Art, und "die besucht uns ganz häufig." Also kannte sie mich schon etwas früher. Danach habe ich nur wenige Erinnerungen, sie beginnen erst wieder an dem Zeitpunkt, wo meine Schwestern auf die Welt kamen. Da war ich dann sehr oft da, einmal die Woche, und dann auch viel im Urlaub oder manchmal, wenn meine Mutter im Krankenhaus war. Ich bin dann von dort zur Schule gegangen. Wie gesagt, ich bin sieben Jahre älter, das ist ein Riesenabstand. Ich habe die Kinder versorgt, 'rumgefahren, habe mich mit Ulrike über Kindererziehung ausgetauscht. Ich fühlte mich schon sehr viel erwachsener, als ich es mit sieben war.

Das letzte Mal habe ich Ulrike im Knast in Köln-Ossendorf besucht. Anderthalb bis zwei Jahre vor ihrem Tod hatte ich nur noch wenig Briefkontakt, wir hatten irgendwann keine Lust mehr, immer nur Nichtigkeiten austauschen zu können. Viele Briefe wurden nicht durchgelassen, es reichte, auch nur das Geringste politisch anzureißen, ich wusste nicht mehr, was ich schreiben sollte. Sie war dann auch sehr beschäftigt mit dem Prozeß und man hat gemerkt, daß sie sich mehr darauf konzentriert. Die letzte Begegnung war irgendwann in Stammheim, wir haben uns umarmt, da gab's noch keine Trennscheibe, das war sehr schön, weil wir das eigentlich nicht durften. Wir wurden dafür auch gleich angeschrien, aber wir haben es trotzdem gemacht, es war sehr schön. Aber der Knast und diese Besuche waren natürlich immer ein harter Brocken, weil man nicht wirklich sagen konnte, was man wollte.

Irgendwann habe ich dann beschlossen, darauf zu warten, daß ich eines Tages wieder mit ihr sprechen kann, wenn sie freigelassen ist. Es war einfach schwer, sich dem ganzen Procedere immer auszusetzen. Wir mussten unsere Briefe vorher in offenen Umschlägen an die Sicherungsgruppe Bonn-Bad-Godesberg schicken, BKA. Heute weiß man, daß da fast nur Faschisten gesessen haben. Damals haben wir das nur den Beleidigungen entnehmen können, die wir bei den Besuchen zu hören bekamen. Wir haben Besuche gehabt, da waren acht Leute dabei, Staatsschutz, GSG 9, Bundeskriminalamt, was weiß ich. Ich weiß nicht mehr, wann der letzte Besuch war. Ich habe auch meine eigenen Briefe nicht, die liegen immer noch irgendwo beim BKA, keine Ahnung. Ich habe keine Lust, bei denen heute um meine Briefe zu betteln, es waren Briefe, die ich nie so schreiben durfte, wie ich wollte. Aus Äußerungen bei den Besuchen konnte ich damals entnehmen, die wußten alles über mich. Das war ein blödes Gefühl.

SB: Einige bürgerlich-intellektuelle Kreise haben sich schwer damit getan, den Weg von Ulrike Meinhof in den Untergrund und ihr Bekenntnis zum bewaffneten Kampf nachzuvollziehen, aber andererseits auch genauso damit, sie gänzlich zu verteufeln und vollständig abzulehnen. Zur Ehrenrettung einer Person, die einmal eine der ihren war, haben sie ihr entweder einen kranken Kopf oder die Zufälligkeit eines folgenreichen Sprungs aus dem Fenster anläßlich der Baader-Befreiung und damit zwangsläufig in die Illegalität unterstellt. Viele haben sie auch als Opfer ihrer Genossen gesehen.

AR: Richtig. Und daß sie völlig abhängig war von Andreas Baader. Das hat mir letztens wieder eine Zuhörerin bei einer Lesung erzählt, sie wäre angeblich völlig fixiert gewesen auf den Andreas Baader; so hat sie es jedenfalls interpretiert. Ich habe totale Zweifel an dieser Schwächethese. Es war mein Interesse, ein differenzierteres Charakterbild zu skizzieren.

Katriina Lehto-Bleckert aus Finnland hat eine Doktorarbeit über Ulrike Meinhof geschrieben, die sehr gut ist: "Ulrike Meinhof 1934-1976". [3] Sie hat dafür schon vor 20 Jahren recherchiert und ist an unglaublich viele Briefwechsel herangekommen. Und sie ist die einzige und erste, die nicht ständig nur die Männer zitiert. Ich empfehle das immer, weil es so einen feministischen Standpunkt hat. In Finnland hat dieses Buch einen sehr langen Titel, aber ich finde ihn gut, es ist ein Zitat von Ulrike Meinhof. "Nicht der Wirklichkeit, der Wahrheit nachgehen", heißt es da im Untertitel. Und das ist auch ein bißchen synonym für das Buch. Es ist erst vor wenigen Jahren ins Deutsche übersetzt, aber nur in einer 150er-Auflage gedruckt worden. Kein Mensch hat es rezensiert. Meine Rezensionsangebote sind abgelehnt worden, ich sei zu nah dran. Hier heißt der Untertitel: "Ihr Weg zum Terrorismus", den hat der Verlag ausgewählt, ein Wissenschaftsverlag.

In dem Buch wird ganz deutlich, daß es eine Entscheidung war, die auf Basis einer Lebensentwicklung getroffen wurde, die sozusagen zu dem Schluß gekommen war, daß man hier, also gegen den wiederaufkommenden Faschismus im neuen Gewand, wie man das damals stark empfand, auf Basis der Notstandsgesetze und der Beteiligung am Völkermord in Vietnam mit 2 Millionen Toten, das man also nun, immer wieder zurückweichend, nicht mehr weiterkommt durch Schreiben. Das war eine schmerzliche Erfahrung damals, ebenso, daß pazifistische Demonstrationsteilnehmer zu Massen kriminalisiert wurden und in die Knäste einfuhren. Das war lange vor jeder RAF-Bewegung. Es war eine Entscheidung, die in der damaligen Zeit sehr, sehr viele Menschen umtrieb. Man denke an Wolf Biermann, er dichtete in einem Lied gegen Chile, daß die Macht, auch für das Gute, nunmehr nur noch aus den Gewehrläufen kommen sollte.

SB: Und daß sie ein Opfer ihrer Genossen war, bis in die Auseinandersetzungen im Gefängnis, wo es heißt, sie habe nicht standgehalten?

AR: Ich bin für solche Fragen die Falsche, denn ich habe das nicht miterlebt. Ich war nie in Stammheim, habe mir nie so einen Prozeßtag angeguckt. Ein Augenzeuge, den ich selbst erlebt habe und der in meinem Buch auch vorkommt, ist Axel Azzola - inzwischen leider auch tot -, ein Rechtsanwalt und Rechtsprofessor in Darmstadt. Der war, wie man damals sagte, bürgerlich liberal, jedenfalls nicht linksradikal. Später wandte er sich der Linkspartei zu. Als jüdischer Rumäne gehörte er einer verfolgten Gruppe an, seine gesamte Familie ist in Auschwitz umgekommen. Er war Faschismuserfahren und er hatte daher eine gehörige Portion Skepsis. Er glaubte nicht an diesen Staat, der in den 50er Jahren Faschisten zu Massen freigelassen und sie sich in Legislative, Exekutive und Judikative einsortiert hatte.

Axel Azzola hat Ulrike Meinhof nicht gekannt, bevor sie im Knast war. Als sie in Stuttgart-Stammheim saß, hat sie sich an ihn gewandt, weil sie mit der Linie ihrer anderen Anwälte nicht einverstanden war - das hat er mir erzählt - und hat zu ihm gesagt: Ich kenne dich nur aus deinen Veröffentlichungen. Du scheinst ein kluger Mensch zu sein. Ich möchte gerne mit dir reden. Ich möchte gerne, daß du meine Verteidigung übernimmst. Er hat sie also das erste Mal in seinem Leben im Knast gesehen und hat erzählt, daß dieser Besuch für sein Leben prägend war. Die Frau sei ihm als die klügste Frau der Welt erschienen, nie sei ihm jemand Klügeres begegnet, so in der Art. Mag sein, er war ein schwärmerischer Mensch, aber es ist insofern interessant, als zu der Zeit öffentlich gesagt wurde, sie hat einen Hirntumor und kann nicht mehr richtig denken. Dann kann sie ja nicht so gebrochen, unsicher, abhängig, hörig, gehirnkaputt gewesen sein, wenn das ein Rechtsprofessor sagt, der schließlich ein durchaus gebildeter Mann war.

Daraufhin hat er sie mehrmals besucht und sie haben dann sehr erfolgreich zusammengearbeitet. Das veranlaßte Azzola auch, gegen die Selbstmordthese zu sein. Er war einer - das habe ich auch in meinem Buch beschrieben -, der auf der Beerdigung öffentlich ausgerastet ist. Danach wurde er vom Verfassungsschutz so sehr verfolgt, daß er darüber nie wieder gesprochen hat, er hatte große Angst um seine Familie. Ich habe ihn vor seinem Tod nochmal besucht, Mitte der 90er Jahre, und er hat mir das alles noch einmal bestätigt.

Wegstück mit Blick auf blühende Wiese und alten Baumbestand - Foto: © 2014 by Schattenblick

Ein Stück Weges gemeinsam gegangen
Foto: © 2014 by Schattenblick

SB: Dein Vater und Ulrike Meinhof haben, heißt es, sehr oft und sehr drastische Auseinandersetzungen gehabt. Man fragt sich manchmal, wie ihre Lebensauffassung und sein Lebensstil überhaupt zusammengepaßt haben. Was hat die beiden verbunden?

AR: Das ist natürlich auch so ein Mysterium, das wird sehr stark von manchen Leuten unterstützt. Sie berufen sich dabei auf die im Klaus-Röhl-Buch von 1972 geschilderte Selbstbeschuldigungszene, wo an Silvester, kurz vor der Trennung von meinem Vater und Ulrike, mein Vater plötzlich seine Geliebte öffentlich vorführte und Ulrike dabei war. Das wird als exemplarische Demütigungssituation beschrieben. Ich kenne eine Zeitzeugin von damals, die das miterlebt hat und die das sehr bestürzt hat. Meine ganze Kindheit hindurch war mein Vater aber oft so, das gehört zu seinem widerspruchsvollen Charakter. Diese Zeitzeugin war mit meinem Vater befreundet und konnte es nicht ertragen zu sehen, daß mein Vater Ulrike damit demütigte. Ich habe aber Ulrike in vielen anderen Situationen, die ich miterlebt habe, immer als diejenige empfunden, die die Oberhand hatte in der Beziehung und die Stärkere war. Besonders auf der intellektuellen, der Argumentationsebene, da war sie ihm immer überlegen.

Meinen Vater und sie hat die 58er-Bewegung verbunden, die Anti-Atomtod-Bewegung, die politische Basis, sie haben auch viel Ernsthaftes diskutiert. Sie hatte die Vorstellung, mit Konkret sehr viel zu bewirken, was ja auch stimmte. Sie hat innerhalb dieser Beziehung gekämpft mit Argumenten. Wenn er betrunken war, hat es schon Auseinandersetzungen gegeben, und irgendwann hat sie dann eben auch gesagt, ich will das nicht mehr. So hab' ich das erlebt. Aber natürlich war es für sie auch schmerzhaft und traurig - klar.

Als ich sie in Berlin besuchte, wo sie alleine lebte mit den Kindern, war sie jedenfalls munter, zufrieden, kein bißchen depressiv. Da hat sie zu mir gesagt, ich erinnere das ganz genau, sie habe früher immer gedacht, man brauche Hausmädchen und Mann und alles, aber sie komme viel besser alleine klar. "Ich fühle mich hier bedeutend wohler als vorher", das hat sie mir gesagt. Und ich habe sie da in keiner Weise geschwächt erlebt.

SB: Ist sie für dich ein Vorbild gewesen und ist sie es immer noch?

AR: Vorbild ist nicht das richtige Wort, das klingt so nach Bravo und anschwärmen. Sie war für mich eine bedeutende Erwachsene, die mich verstanden hat. Sie hat mit mir so gesprochen, daß bei mir im Kopf das kritische Denken begann. Ich habe immer das Gefühl gehabt, wenn sie redet, dann bringt sie genau das zum Ausdruck, was ich gerade denken will. Es war einfach eine ganz produktive Beziehung, die mich weitergebracht hat. Ich habe sie nicht erlebt wie Che Guevara oder Rudi Dutschke, die man sich damals an die Wand gehängt hat. Sie gehörte ja zu mir, sie war die Mutter meiner Geschwister, ich habe sie als Familienangehörige erlebt und als Familienangehörige habe ich sie geliebt. Ich hab' sie geliebt, und wenn man jemanden liebt und der stirbt, dann sieht man denjenigen über Jahre und Jahrzehnte vor sich, hört ihn sprechen, sieht seine Bewegungen, sieht ihn als Menschen vor sich, als sei er noch lebendig. Daher ist es wichtig, daß diejenigen Zeugnis über einen Menschen ablegen, die ihn geliebt haben, denn sie erinnern sich an denjenigen am besten.

SB: Viele Zeitgenossen, auch solche, die ihre Auffassungen nicht geteilt haben, schätzten an Ulrike Meinhof ihren scharfen Verstand, ihre präzise Analyse, deutliche Sprache, klare Positionierung und große Empathie. Du hast einmal gesagt, daß das Wichtigste, was zeitgeschichtlich von ihr bleiben wird, ihre fälschlicherweise als solche bezeichneten bürgerlichen Texte sind.

AR: Genauso sehe ich das auch - fälschlicherweise als bürgerlich. Obwohl sie das selbst auch so gesehen hat. Das halte ich für einen großen Fehler. Sie hat mir ja beigebracht, daß man sie ruhig kritisieren darf [lacht] und das würde ich z.B. absolut kritisieren. Mumia Abu-Jamal sitzt nicht im Gefängnis, weil er Bomben geschmissen oder sich für den bewaffneten Kampf ausgesprochen hätte oder irgendwas in dieser Richtung, sondern ausschließlich, weil er Journalist ist und eine klare Sprache spricht und überzeugend ist für viele, viele Menschen. Das ist auch bei Rudi Dutschke so gewesen. Man hat, wie ich glaube, das Attentat auf ihn in Auftrag gegeben oder wie auch immer provoziert, weil er eine so unglaublich integrative Wirkung hatte auf so viele Menschen. Und das ist natürlich das Gefährlichste, was man sich vorstellen kann, wenn man an der Macht bleiben will, ein Mensch, wie auch Rosa Luxemburg, der eine so große Breitenwirkung und Überzeugungskraft hat.

SB: Kann, darf oder muß man den Menschen Ulrike Meinhof mit seinen politischen Überzeugungen von seinen darauf folgenden Handlungen trennen, tun sich da Widersprüchlichkeiten auf oder läßt sich das eine mit dem anderen zu einem durchaus logischen Lebensentwurf verbinden?

AR: Auch da bin ich nicht die Expertin, aber es gibt eine sehr gute Arbeit genau zu dem Thema, die in der Kurt-Eissner-Gesellschaft ca. 2003 veröffentlicht wurde [4], eine kleine Schrift, in der es um den medialen und den juristischen Umgang mit dieser Gruppe geht und darum, daß es eben ein politischer Akt war, diese Gruppe so extrem zu isolieren und ihre politischen Ziele komplett zu verfälschen. Die Gruppe hat allerdings dazu beigetragen, weil sie auch in ihrer Sprache und schließlich dann auch in ihren Handlungen eskalierte. Das ist aber nur interaktiv zu verstehen und muss deshalb historisch seriös recherchiert werden. Man kann das ja nachlesen bei Dostojewski oder Sartre, wie das dann passiert in solchen Gruppen, selbst Brecht hat das beschrieben. Die Gruppen, die im Widerstand und illegal leben, fangen an, unter dem Druck der Situation und der Angst vor Spitzeln zu verrohen. Ulrike hat dann ihre eigenen Texte als unzulänglich empfunden, als 'bürgerliches Geschreibsel' bezeichnet, weil sie etwas empfand, was ja auch passiert, wie wir immer wieder sehen können: Alle fortschrittlichen Dinge werden in einer kapitalistischen Gesellschaft integriert, aufgesogen, umgewandelt, so, wie man das ja auch bei den Grünen oder bei den Linken überall sieht, wie es mit allen Bewegungen passiert. Was ursprünglich ein unabhängiges Jugendzentrum war, eine fortschrittliche Psychiatrie-, Inklusions- oder Pädagogikbewegung - das alles wird nach einer Weile konservativ umgewandelt, wie eingesogen, und steht dann später plötzlich ganz anders da.

Man muss es historisch seriös anfangen zu untersuchen, wie die genauen Zusammenhänge sind. In dieser kleinen Broschüre und in dem Letho-Buch, der Doktorarbeit der Finnin, ist das getan worden und das finde ich total spannend. Beide Autorinnen untersuchen die mediale und politische Prozeßführung, wie der Staat damals eigentlich im Inneren Bürgerkrieg geführt hat. Und damit erklären sich diese Brüche, daß eben dieser Mythos gepflegt wird, das wären so ein paar Irrsinnige gewesen.

Anja Röhl mit SB-Redakteurin auf einer Parkbank - Foto: © 2014 by Schattenblick

Anja Röhl im Gespräch mit dem Schattenblick
Foto: © 2014 by Schattenblick

SB: Du engagierst dich ja selber politisch seit vielen Jahren. Ist Ulrike Meinhof da der oder ein Zünder gewesen?

AR: Das könnte man denken, aber so empfinde ich es nicht. Ich habe mich nicht für den bewaffneten Kampf oder für die Stadtguerilla engagiert. Ich habe mich auf anderen politischen Feldern bewegt. Ich gehöre zu der Generation der 70er Jahre, die sich ganz stark ins proletarische Milieu begeben hat. Ich bin ins Krankenhaus gegangen, habe Krankenschwester gelernt, habe Betriebspolitik gemacht. Aber die Gefahr hat man immer im reformistischen Stückchen-für-Stückchen, im langsamen Gang durch die Institutionen, daß es nur ein Tropfen auf den heißen Stein ist, viel weniger, als man schaffen könnte, wenn man eine größere, revolutionärere Bewegung in Gang bringt.

Ich habe auch revolutionäre Situationen im Ansatz erlebt, nämlich nach Tschernobyl, wo ich sehr beteiligt war. Da hatte ich das Gefühl, daß sich kumulativ Bewußtsein entwickelt, das fand ich unglaublich, das war für mich ein Einschnitt, auch '68 war für mich sowas. Ich habe mich schon vorher für Politik interessiert, sicher waren das auch die Gespräche als Kind, das kann man nicht mehr so richtig auseinanderhalten. Ich habe mir aber immer eine ganz eigene Meinung gemacht. Ich bin durch die Schüsse auf Dutschke und Benno Ohnesorg politisiert worden, bin von selbst auf die Moorweide gegangen, habe Teufel gelesen und Beatles gehört und bin dann Anti-AKW-Gegnerin geworden. Die RAF als politische Option habe ich aufgrund der inneren Betroffenheit aus meinem Gehirn eher ganz ausgeblendet.

SB: Nochmal zum Buch zurück. Wer sind die Leser und welche Reaktionen gibt es darauf?

AR: Ich kann das nur von den Lesungen beurteilen. Viele sind im gleichen Alter, die sich angesprochen fühlen durch die Kindheitsschilderungen der 50er und 60er Jahre und sich dort wiederfinden. Dann kommen ehemalige Linke, die heute eher bürgerlich liberal sind und sich an diese Zeit erinnern wollen und dann so Sätze sagen: "Das ist ja erstaunlich, wie authentisch das ist." Und weil ich die anderen Sachen so echt und authentisch beschrieben habe, sagen sie, glauben sie mir daher dann auch das, was ich über Ulrike geschrieben habe. Das finde ich gut. Ulrikes Genossen, die heute nur noch zum Teil leben, in deren Umfeld ist es sehr schweigsam, eher verhalten. Ich kann das auch verstehen, weil sie das wahrscheinlich bei mir alles zu privat finden. Das ist aber auch gar nicht meine Zielgruppe, sondern eher eine andere, wo die verzerrte Wahrnehmung schon gegriffen hat. Ulrike ist ja eine historische Person der Bundesrepublik und wird es auch über die nächsten Jahrhunderte bleiben. Umso wichtiger, daß man da was gerade rückt, und ich wollte halt einen Mosaikstein dazu beitragen.

SB: Anja Röhl, vielen Dank für das offene Gespräch.


Fußnoten:

[1] Jutta Ditfurth, Ulrike Meinhof, Die Biografie, Ullstein Verlag, Berlin 2007

[2] Anja Röhl, Die Frau meines Vaters - Erinnerungen an Ulrike, Edition Nautilus, Hamburg 2013

[3] Katriina Lehto-Bleckert: Ulrike Meinhof 1934-1976, Ihr Weg zur Terroristin. Tectum Verlag, Marburg 2010 (deutsche überarbeitete Ausgabe der Dissertation an der Universität Tampere 2010)

[4] Isabel Erdem, Staatlicher und publizistischer Umgang mit der Stadtguerillabewegung in der BRD, in: Kurt-Eisner-Verein für politische Bildung (Hrsg.), Neue Kritik aus Schule und Hochschule, Heft Nr. 6, München 2004


18. April 2014