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INTERVIEW/023: Lyrikgespräch - urkulturelle Errungenschaften    ... Prof. Dr. Dirk von Petersdorff im Gespräch (SB)


Lyrik ist etwas Freies und Unabhängiges und sollte sich von niemandem und nichts vereinnahmen lassen ...

Lyrik im Gespräch im Literaturhaus Schleswig-Holstein am 13. Mai 2015

Prof. Dr. Dirk von Petersdorff über Lyrik und Popmusik, Wirkung, Form und Verständlichkeit von Gegenwartsgedichten, ihre Widerständigkeit gegen Einordnungsversuche und über das Gedichteschreiben


Seine Gedichte geben das typische Lebensgefühl der Generation der Vierzigjährigen wieder. Vieles basiert auf eigenen, alltäglichen Erlebnissen, die, über das Persönliche hinausgehend, aktuelle Themen mit einschließen. Alte lyrische Formen wie Sonette oder ein strenges Reimschema und Strophen sind für ihn ein zeitloses Prinzip, derer er sich gerne bedient, denn sie verleihen seiner Meinung nach dem oftmals "Unbestimmten und Fließenden" in einer Welt voller "Verschiedenheit" Festigkeit. Dirk von Petersdorff ist Lyriker und außerdem Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Jena, Mitglied der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur und des Internationalen Zentrums für Klassikforschung. Zur Verbreitung von Poesie trägt er aber auch mit dem Vortrag eigener Gedichte bei wie im Mai 2015 im Literaturhaus Schleswig-Holstein in Kiel. Anläßlich einer Lesung mit anschließendem Austausch zum Thema Literatur und Politik mit Robert Habeck, Minister für Energiewende, Landwirtschaft, Umwelt und Ländliche Räume in Schleswig-Holstein, traf sich der Schattenblick mit Dirk von Petersdorff zu einem Gespräch über Wirkung und Formen der Gegenwartslyrik, Popmusiktexte, Gedichte schreiben, Lyrikleser und daß Gedichte zum Beispiel nicht von der Politik zu vereinnahmen sind.


Portrait - Foto: © 2015 by Schattenblick

Dirk von Petersdorff
Foto: © 2015 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Herr von Petersdorff, der Titel Ihres zuletzt veröffentlichen Gedichtbandes lautet "Sirenenpop". [1] Wie ist er entstanden?

Dirk von Petersdorff (DP): Das ist der Titel eines Gedichtes aus dem Band, der dann auch für den Buchtitel als geeignet angesehen wurde. Er hat damit zu tun, daß ich mich in den letzten Jahren sehr stark mit Popmusik beschäftigt habe und immer mehr den Eindruck gewinne, daß die Grenzen zwischen Gedichten und populärer Musik - Popmusik als allgemeiner Oberbegriff verschiedener Stile - durchaus fließend sind und daß die Lyrik aus der Beschäftigung mit der Popmusik gewinnen kann. Was mich besonders interessiert hat, ist die deutschsprachige Popmusik. Ich glaube, daß in den letzten zehn, fünfzehn Jahren sehr viele Lieder mit für die Lyrik wirklich spannenden Texten entstanden sind. Das war die eine Grundlage für das Wort "Sirenenpop". Die andere ist das Sirenenbild, ein ganz altes Bild für das Verlockende von Klängen und Gesängen - Klang und Gesang, der Menschen anziehen soll, der eine Faszination ausübt. Das wäre die Zusammensetzung des Titels.

SB: Betrifft Ihr Interesse an der Popmusik auch den Rhythmus?

DP: Ich habe natürlich auch ein Interesse am Rhythmus, das mit Sicherheit, aber als Lyriker legt man den Schwerpunkt auf die Texte und fragt sich: Wie arbeiten sie eigentlich und welche Weltwahrnehmungen gibt es in der Popmusik? Ich finde, daß viele Texter und Sänger der Popmusiken sehr interessante Perspektiven haben, eine große Neugier sowie eine große Weltkenntnis und daß man von ihnen lernen kann. Aber natürlich würde ich auch sagen, daß die rhythmische Grundlage ein Kennzeichen von Lyrik ist. Sie ist rhythmisierte Sprache. Und weil sie im Gegensatz zu unserer Normalsprache einen Rhythmus aufweist, interessiert man sich natürlich auch für die Rhythmik der Musik.

SB: Haben Sie selbst Favoriten unter den Songtexten?

DP: In der deutschsprachigen Popmusik finde ich die Texte von Tocotronic seit vielen Jahren interessant. Auf der CD, die jetzt gerade erschienen ist, "Das rote Album", gibt es einen sehr interessanten Eröffnungssong, "Prolog", dessen Text ich zum Beispiel wirklich gut finde. Aber auch den Song "Denkmal" von "Wir sind Helden" finde ich sehr interessant oder Texte von "Element of Crime", Sven Regener, der ja selber Schriftsteller ist, zum Beispiel "Delmenhorst". Da gibt es einiges.

SB: Welches Gedicht und welche Themen bevorzugen Sie aus Ihrem Buch persönlich am meisten?

DP: Das wechselt eigentlich immer, das kann ich gar nicht so sagen. Heute lese ich nicht nur aus "Sirenenpop", sondern auch einige ältere Gedichte, eher einen Querschnitt. Zum Lesen ist wiederum manches nicht so geeignet, zum Beispiel große Zyklen, sehr lange Gedichte. Da habe ich auf kürzere, auch auf ein Lied zurückgegriffen. Für eine Lesung wählt man speziell aus.

SB: Haben Sie für die Lesung hier in Kiel auch das Thema Politik berücksichtigt?

DP: Ein Gedicht aus dem neuen Band habe ich gewählt, in dem es um das Schloß Sanssouci geht. Damit versuche ich eine andere Idee von deutscher Geschichte zu verbinden, die Möglichkeit einer sozusagen heiter verlaufenden, deutschen Geschichte. Es ist eine Art Utopie beziehungsweise in diese Richtung gehend. Ich glaube aber, daß das Gespräch auf jeden Fall in den Bereich der Politik gehen wird. Es gibt einiges, was ich Herrn Habeck gern fragen möchte. Es ist jedoch von den Gedichten etwas losgelöst, weil ich nicht im engeren Sinn politische Gedichte schreibe.

SB: Welche Schwerpunkte setzen Sie inhaltlich und formal, wenn Sie Gedichte schreiben?

DP: Das wechselt, muß ich sagen. In den letzten Jahren habe ich mich stärker für rhythmisierte und gereimte Gedichte interessiert. Das war in den ersten Bänden anders, und im Moment schreibe ich auch wieder an freieren Formen. Das ändert sich, glaube ich, auch im Laufe der Entwicklung. Man merkt vielleicht, in bestimmten Phasen liegt mir eine spezielle Form mehr und hilft mir auch mehr. Man hat da Klangerlebnisse oder betrachtet die Form als Herausforderung, das ist nicht ganz kontinuierlich. Eine Zeitlang habe ich mich mit Shakespeare-Sonetten ganz intensiv beschäftigt, weil ich sie als außerordentlich interessant ansah. Da habe ich einen Zyklus mit dieser Form geschrieben.

SB: Was macht Ihre Gedichte denn unverwechselbar?

DP: Das ist für mich ziemlich schwer zu sagen. Ich glaube, daß ich relativ viele Gegenstandsbereiche in der Lyrik aufgreife. Ich würde schon sagen, daß das, was in der Welt vorkommt, grundsätzlich auch in Gedichten vorkommen kann. Ich finde nicht, daß Gedichte mit einer Sprache, die vielleicht der gesprochenen Sprache möglichst unähnlich ist, nur so etwas wie Wirklichkeitsreservate beschreiben sollten. Das finde ich als Konzept nicht interessant. Darüber gibt es jedoch sehr verschiedene Meinungen. Manche finden das gut, aber es wird mir manchmal zum Vorwurf gemacht, es gibt auch sehr kritische Reaktionen darauf.

SB: Meinen Sie das im Sinne von Wirklichkeitsverdichtung?

DP: Ja, zunächst einmal glaube ich, es ist einfach gut, auch Wirklichkeit interessant zu finden. Also die Dinge, die draußen vorkommen, nicht einfach nur als abstoßend oder langweilig anzusehen, sondern zu sagen, da finde ich Stoff und auch Klänge. In der Sprache, wie sie jetzt gesprochen oder gesungen wird, finde ich viele Anknüpfungspunkte.

SB: Der Sprache wird heute nachgesagt, daß sie ein Medium ist, das gerade ziemlich abflacht und seltener bewußt eingesetzt wird und mit dem man nicht mehr viel bewirken kann.

DP: Ob Sprache wirklich abflacht, weiß ich nicht. Sie verändert sich. Ich glaube, sie bekommt auch erhebliche, neue Potentiale und Möglichkeiten. Noch einmal am Beispiel der Populärmusik, wenn man sich den Rap und den Bereich des HipHop ansieht. Was dort in den letzten zwanzig, dreißig Jahren an wirklich ästhetischen Innovationen geschehen ist, teilweise in einer vielleicht sehr groben Sprache. Da, würde ich sagen, gibt es auch Neuentwicklungen und Bereicherungen der Sprache. Daß sicherlich in unserer Kultur das Visuelle ein größeres Gewicht gegenüber der Sprache gewonnen hat, das ist schon so. Aber ganz so eindeutig ist es dann auch nicht. Wenn man nachher Robert Habeck fragen würde, glaube ich gar nicht, daß er sagen würde, Sprache ist in unserer Kultur weniger wichtig geworden, in der Politik auch nicht. Wir können ihn nachher fragen, ob er dem so zustimmen würde, das wäre eine interessante Frage an ihn. Ich bin da befangen, ich arbeite ja an der Uni und habe ununterbrochen mit Sprache zu tun.

SB: In der Programmankündigung für diese Lesung steht: "Sich einer Bewegung anzuvertrauen, mit dem Unbestimmten und Fließenden, mit einer Welt voller Verschiedenheit Ernst zu machen und gleichzeitig den Gefühls- und Formenreichtum der Vergangenheit spielerisch und gekonnt aufzugreifen, ohne dass irgendeine weltanschauliche Verbindlichkeit daraus abgeleitet wird - so könnte man die Haltung der Lyrik Dirk von Petersdorffs beschreiben." Wo finden Sie sich darin wieder und wo vielleicht auch nicht?

DP: Da finde ich mich wieder, weil die Programmankündigung mit dem Zitat auf den Klappentext von "Sirenenpop" zurückgreift. Ich finde die Beschreibung in Ordnung. Nur der letzte Teil, "ohne dass irgendeine weltanschauliche Verbindlichkeit daraus abgeleitet wird", das ist vielleicht ein bißchen stark gesagt. Es gibt so etwas wie zwischenmenschliche Verbindlichkeiten, das finde ich schon. Solche Verbindlichkeiten würde ich auch in Gedichten nicht unbedingt in den Wind schlagen. Man muß vielleicht in Gedichten nicht darüber sprechen, aber gelegentlich schon.

SB: Vielleicht gibt es ja auch Themen, die man nur oder besser über Gedichte miteinander austauschen kann?

DP: Ja. Das sicherlich.

SB: Weiter heißt es in der Programmankündigung: "... die Eremitage zu verlassen, in der sich die deutschsprachige Gegenwarts-Lyrik so oft und gern einrichtet" - Könnten Sie uns das genauer erläutern?

DP: Das ist nicht aus dem Klappentext, da müßten wir Herrn Sandfuchs fragen, der diese Ankündigung formuliert hat, was er genau meint. [2] Wahrscheinlich meint er aber: Teile der Gegenwartslyrik umgehen wiederum größere Teile der Wirklichkeit. Wenn man also Bände der Gegenwartslyrik liest, dann könnte man vielleicht manchmal denken, so etwas wie Großstadtwahrnehmung zum Beispiel kommt darin relativ wenig vor, auch Gesellschaftsbeobachtung nicht so viel. Da sind manchmal schon auch esoterische Themen sehr stark vertreten und immer wieder Naturlyrik. Das ist alles sehr gut und gekonnt, aber letztlich muß jeder wissen, was er mag. Da muß jeder seinen Weg finden. Das ist wirklich keine Verbindlichkeit, die daraus hervorgeht.

SB: Die Frage liegt ja gerade beim Thema "Lyrik und Politik" nahe, inwieweit sich die Inhalte von Lyrik den entsprechenden Themen entziehen.

DP: Das ist sicherlich so, daß das Politische in der Lyrik vielleicht in den letzten zwanzig Jahren ganz stark zurückgetreten ist. Politische Lyrik wird sehr wenig geschrieben. Das kann sich aber auch wieder ändern. Da kann man nach Gründen fragen, das ist sicher kein böser Wille, daß das nicht passiert.

SB: Wie entscheiden Sie, ob ein Gedicht Ihnen gefällt?

DP: Das ist schon eine gute Frage, aber schwierig zu beantworten. Was, glaube ich, immer gut sein kann, ist, Gedichte länger liegen zu lassen. Zeitlicher Abstand hilft. Man sagt sich, ich bin jetzt erst mal zufrieden und prüfe es nach einigen Wochen und Monaten wieder. Aber auch das ist nicht immer stabil. Wenn ich heute meine älteren Bände durchgucke, dann gefällt mir manches nicht mehr so gut. In dem neueren Band gefällt mir vielleicht im Moment noch mehr, aber in zehn Jahren wird mir auch aus diesem wieder vieles nicht gefallen. Das ist, glaube ich, der normale Gang der Dinge. Manchmal helfen einem auch andere Menschen, die man fragen kann, wenn man Ratgeber hat oder Menschen, denen man vertraut und denen man die Gedichte schickt.

SB: Wie entscheiden Sie das bei den Studierenden, in den Kursen für kreatives Schreiben?

DP: Diese Schreibkurse sind so angelegt, daß sich die Studenten auch selber gegenseitig kritisieren, das sollen sie lernen. Wenn ich an einer Stelle sage, das gefällt mir nicht, dann versuche ich es in allen Einzelheiten zu begründen und sage zum Beispiel, wenn sie meinetwegen eine kurze, einseitige Erzählung schreiben: Seht mal, am Anfang war die Perspektive so, am Ende ist sie eine ganz andere, das wirkt aber nicht so, als sei das bewußt geschehen. Oder es werden Zeiten vertauscht. Oder: Glaubt ihr, daß die Figur diesen Satz wirklich sagt? Und wenn man Lyrik schreibt und sich meinetwegen eine festere Form vornimmt, daß man dann sagt: Hier stimmt der Rhythmus nicht. Oder es gibt so etwas wie abgegriffene Metaphorik oder Spannungslosigkeit. Da gibt es klare Kriterien. Wichtig sind, glaube ich, Begründungen und Erklärungen. Die soll man auch in solchen Kursen lernen.


Dirk von Petersdorf im Gespräch - Foto: © 2015 by Schattenblick

Ich finde schon, daß Gedichte auch tatsächlich eine Art Funktion, auch einen Gebrauchswert haben.
Foto: © 2015 by Schattenblick

SB: Ist die Verständlichkeit dabei auch ein Thema? Viele Gedichte sind heute so geschrieben, daß man zwar das Kunstwerk sieht, aber das sagt einem eigentlich gar nichts.

DP: Ja, ich finde, daß nichts dagegen spricht, wenn Gedichte verständlich sind. Ich weiß aber, was Sie meinen. Teile der deutschen Gegenwartslyrik haben andere Konzepte, denen kommt es nicht so sehr auf Verständlichkeit an. Ich finde es gut, wenn Menschen mit den Gedichten auch etwas anfangen können für sich selber. Ich finde schon, daß Gedichte auch tatsächlich eine Art Funktion, auch einen Gebrauchswert haben.

SB: ... nur für sich selber?

DP: Für sich selber in dem Sinne, daß man mit dem Gedicht eine Sache besser versteht und etwas ausgedrückt findet, was einem selber hilft. Es kann natürlich auch eine gesellschaftliche Wirksamkeit haben. Jedenfalls würde ich so etwas wie einen Gebrauchswert von Gedichten überhaupt nicht ablehnen. Ich finde, es spricht nichts dagegen, daß ein Gedicht kunstvoll gearbeitet ist, eine ästhetische Kraft und Dynamik hat und man gleichzeitig sagt: Damit kann ich etwas anfangen.

SB: Manche Gedichte erwecken den Eindruck, daß sie nur die Absicht haben zu verrätseln und daß das schon ihre einzige Aussage ist. Sie wollen sich einfach allem entziehen ...

DP: Ja, kann das aber eine letzte Absicht eines Gedichtes sein, nur zu verrätseln? Ich glaube schon, daß die Dichter doch auch einen Anspruch haben, meinetwegen, daß die Welt in diesem Gedicht in einer ganz anderen, uns fremden Sprache erscheint, und sie versuchen vielleicht unsere Weltwahrnehmung damit zu erweitern oder so etwas. Aber meine Idee von Lyrik ist das auch nicht, eine zu starke Verrätselung. Ich kann Ihnen nur zustimmen.

SB: Welchen Maßstab sollte man zum Gebrauchswert eines Gedichtes ansetzen?

DP: Ich würde nicht sagen, daß man allgemein einen Maßstab ansetzen sollte. Es gibt verschiedene Programme innerhalb der Literatur, die jeweils ihr Recht haben. Ich würde es aber gut finden, wenn Menschen sagen, sie lesen dieses Gedicht und merken dabei, es könnte zum Beispiel erstmal eine Gefühlswirkung haben, so etwas wie damit beruhigt oder getröstet zu sein. Auch das sind, finde ich, ganz ursprüngliche Aufgaben von Literatur. Dann könnte man sagen: Ich sehe etwas, ich verstehe etwas, was ich vorher so nicht verstanden habe, meinetwegen auch: Ich sehe, was Sprache alles kann, ich erkunde Möglichkeiten der Sprache. Ich meine, es gibt verschiedene Maßstäbe.

SB: Werden aus Ihrer Sicht bestimmte Gedichtformate oder spezielle Themen in der Lyrik ignoriert oder gemieden?

DP: Nimmt man den engeren Politikbegriff - man kann "politisch" auch weit definieren und sagen, alles, was irgendwie gesellschaftliche Beobachtung betrifft oder vielleicht auch nur die Einstellung von Menschen ist auch schon politisch -, dann gibt es wirklich in jüngster Zeit eher wenig politische Lyrik mit erkennbar politischen Themen und der Sprache der Politik. Ich finde, daß auch nicht mehr so viele Liebesgedichte geschrieben werden. Ich schreibe Liebesgedichte. Ich finde das schade. Es gibt Uraltthemen der Lyrik. Aber das bedeutet ja nicht, daß man immer das gleiche sagt. Diese Themen sind offenbar immer wieder vorhanden, aber ihre Ausdrucksweise ändert sich. Ein Liebesgedicht, das ich heute schreibe, muß wohl eine andere Sprache verwenden als eines, das ich vor dreißig, fünfzig oder hundert Jahren geschrieben hätte, weil wir uns in einer anderen Welt bewegen. Und vielleicht ist auch eine andere Idee von Liebe vorhanden, wir haben andere Geschlechtervorstellungen ... In diesem Gedicht sollte dann auch zu merken sein, aus welcher Welt es stammt.

SB: Kann man denn einen neuen, modernen Trend in der Schreibweise der Lyrik ausmachen, neue Formen und Ausdrucksweisen?

DP: Ja, es gibt verschiedene Strömungen, die sich auch manchmal etwas ablehnend gegenüberstehen, und eine starke Rückkehr zu festen Formen. Ich glaube, da sind in den letzten Jahren wenige Lyriker, die nicht in irgendeiner Weise meinetwegen mit der Sonett-Form experimentiert haben, was ganz kurios ist, daß gerade Sonette auf einmal wieder so interessant werden, auch für experimentelle Lyriker. Aber das ist kein Programm in dem Sinne, daß man sie schreiben sollte. Es ist ein Experimentieren mit vergangenen Formen zu beobachten, die natürlich verändert werden. Ich glaube ohnehin, daß es solche Formen gibt, die immer wieder aufgegriffen werden, aber in jeder Zeit dann ganz neu gefaßt werden.

SB: Und eine neue Wirkung haben.

DP: Ja, finde ich, hoffentlich.

SB: Was kann und will Lyrik heute überhaupt oder welche
gesellschaftliche Funktion übernimmt sie gegenwärtig?

DP: Ich weiß nicht, ob sie eine gesellschaftliche Funktion übernimmt. Ich glaube, der Lyriker hofft, daß immer wieder einige Leserinnen und Leser da sind, die sagen, ein Gedicht ist etwas, auf das ich nicht verzichten möchte, weil mir dort Dinge gesagt werden, die keine andere Form so sagen kann. Das hat dann sicher auch mit dem Rhythmus zu tun. Man sagt, das ist eine Sprache, die mich auch innerlich bewegt. Nicht nur, daß ich Worte höre, die eine Bedeutung haben, sondern da ist etwas, was vielleicht auch körperlich zu spüren ist. Das ist sicher keine gesellschaftliche Funktion, aber es ist vielleicht auch nicht unbedingt etwas, was man von Lyrik erwarten kann. Es kann in bestimmten Zeiten so sein.

SB: In ein Literaturhaus kommen bestimmt Besucher, die das kennen oder die sich irgendwann damit befaßt haben. Aber ein breiteres Publikum erreicht das ja gar nicht.

DP: Nein, ich glaube, daß das bei Lyrik fast immer der Fall gewesen ist. Sie war in gewisser Weise eine Minderheitengattung, die Auflagen waren selten wirklich hoch in diesem Bereich. Natürlich gibt es auch ein Auf und Ab und auch Ausreißer nach oben, aber nicht so dramatisch, daß man damit Massen erreicht. Das weiß man als Lyriker irgendwie auch, das ist nicht so schlimm. Andererseits glaube ich nicht, daß lyrisches Sprechen den Menschen unserer Zeit grundsätzlich fremd ist, was man schon daran bemerken kann, daß sehr viele Menschen mit Kopfhörern durch die Gegend laufen, mit denen sie Musik hören. Das ist zwar erstmal rhythmisierte Sprache, und auch Songs sind oft nicht Gedichte und es ist auch nicht so interessant, sie als Gedicht wahrzunehmen. Aber die Begegnung mit rhythmisierter Sprache haben die Menschen durchgehend von Kindheit an, was in unserer Kultur sehr, sehr stark ist. Man könnte sagen, die lyrischen Bedürfnisse der meisten Menschen werden eher in diesem Bereich bedient. Das ist ein bißchen schade. Wir sollten versuchen, mehr Menschen für vielleicht auch manchmal interessantere Lyrik zu gewinnen.

SB: Manchmal kann sie ja auch durchschlagende Wirkung haben, gerade bei Protestsongs ...

DP: Ja, natürlich, das sind dann besondere Phasen. Es gibt Songs, die das Gefühl einer großen Gruppe ausdrücken, in denen sich eine ganze Gruppe wiedererkennt und es hat sicher Phasen gegeben, in denen das so war. Das mag auch hier irgendwann so sein.

SB: Es erübrigt sich dann fast zu fragen: Ist Lyrik ein aussterbendes Genre?

DP: Nein, ganz ernsthaft, das glaube ich überhaupt nicht. Natürlich sind die Auflagen, wenn man danach geht, alle gering. Aber was entsteht andererseits an neuer Lyrik! Wie viele Leute sagen, ich schreibe, ich versuche, ich probiere mich an Gedichten aus. Auch die Kurse, die ich gerade im kreativen Schreiben in Jena gebe - die Studenten werden ja nicht alle Lyriker, aber viele von ihnen haben ein Interesse daran, das mal probiert zu haben und manche fasziniert das, auch wenn sie später im Leben etwas anderes machen. Und ich glaube, das hat die Lyrik auch selber in der Hand, daß sie nicht ausstirbt. Man muß nicht gnadenlos populär werden, aber man kann schon sagen, man freut sich auch, wenn Menschen das lesen und damit etwas anfangen können. Nein, also da habe ich keine Sorge. Ich glaube, das Gedicht stirbt nicht so leicht aus, das ist anthropologisch irgendwie ziemlich hart.

SB: Warum sind Sie Lyriker geworden?

DP: Das ist schwer zu begründen. Vielleicht wird man es einfach nur, weil man irgendwann merkt, diese Form des Gedichtes bedeutet einem so viel, daß man ohne sie nicht leben kann und will. Man beschließt dann, sie zu einem großen Teil seines Lebens zu machen und setzt irgendwann seine Idee daran, daß man mit dieser Form des Gedichtes bestimmte Dinge ausdrücken möchte und hofft, daß es vielleicht einige andere Menschen auch interessiert und bewegt. Aber das ist in dem Sinne, glaube ich, keine Entscheidung. Am Anfang probiert man es aus, dann merkt man, wie wichtig es einem ist. Manche lassen es dann wieder und andere sagen, daß es jetzt zu ihnen gehört, ein Teil oder sogar der Kern ihrer Person geworden ist.

SB: Das Thema dieser Veranstaltung ist unter anderem das Verhältnis von Literatur und Politik. Schließen sich Poesie und Politik nicht gegenseitig aus?

DP: Das ist eine Frage, die ich nachher Robert Habeck stellen möchte. Ich möchte gerne jemanden fragen, der in der Politik arbeitet, welche Erfahrungen er macht. Herr Habeck ist auch Schriftsteller, und die Sprache, die er dort für schön und reizvoll hält, ist von der Sprache der Politik völlig getrennt. Man bewegt sich eigentlich in zwei Welten. Oder ob man das Gefühl hat, daß es zwar Unterschiede gibt, aber letztlich ist es doch ein Sprachbereich, eine Sprachwelt, in der wir uns bewegen. Ich finde zum Beispiel an Robert Habeck sehr interessant, daß er - bis jetzt jedenfalls - eine ganz wenig normierte Sprache hat. Er spricht sehr frei und sehr natürlich. Ich glaube, daß das auch viele Menschen schätzen. Er verwendet nicht diese vorgestanzten Sätze, die vielleicht auch irgendwann im politischen Betrieb notwendig sind. Das, finde ich, ist bei ihm bis jetzt überhaupt nicht der Fall. Er hat in seiner Sprache etwas sehr Freies, das finde ich interessant und bewundernswert.

SB: Hans Magnus Enzensberger formuliert in seinem Essay "Poesie und Politik": "Das Gedicht spricht mustergültig aus, daß die Politik nicht über es verfügen kann: Das ist sein politischer Gehalt." Oder anders gesagt: Lyrik zeichnet sich durch ihre Widerständigkeit gegen Einordnungsversuche aller Art aus. Sehen Sie darin ein Potential für Lyrik?

DP: Das würde ich sagen, ja. Lyrik ist etwas Freies und Unabhängiges und sollte sich von niemandem und nichts vereinnahmen lassen. Das finde ich schon. So wie Enzensberger das ausdrückt, kann man in einem weiteren Sinne einfach Widerstand dazu sagen, da haben wir einen Bereich, der frei ist. Sie folgt eigenen Gesetzen und andere Bereiche der Wirklichkeit haben dort keinen Zugriff, deren Regeln gelten da nicht. So eine Form von Widerständigkeit und Freiheit finde ich schon sehr schön und wichtig und daß man solche Bereiche auch stark macht. Wir wollen uns nicht vollständig von anderen Welten besetzen lassen. Es ist schön zu sagen, da kommt jetzt keiner hinein, da folge ich keinen Vorgaben.

SB: Vielleicht kann man in einem Gedicht verschlüsselt auch das sagen, was man sonst nicht ohne Folgen sagen darf.

DP: Ich glaube nicht, daß wir hier in Deutschland - im Moment glücklicherweise jedenfalls, muß man immer sagen - in einer Situation sind, wo man Dinge nicht sagen darf. Es gibt im Grunde wirklich wenige Dinge, die man nicht mehr sagen darf. Es gab sicher Zeiten, in denen das Gedicht diese Bedeutung hatte, daß man damit Dinge sagen konnte, die anderswo nicht möglich waren. Mit einem Gedicht kann man aber auch Dinge ausdrücken, die man sonst nicht anders sagen kann. Das schon, daß es eine besondere Sprache hat, die nirgendwo sonst ihren Platz und ihren Ort hat. Und diese Eigenständigkeit, die finde ich stark.

SB: Günter Kuhnert sagte einmal: Seit dem Zweiten Weltkrieg hat es weltweit keinen Tag ohne Krieg gegeben, wogegen kein dichterisches Wort geholfen hat. - Kann man mit einem Gedicht überhaupt eine Änderung bewirken?

DP: Es ist die Frage, was man unter direkter Änderung versteht. Ich meine, wenn ein Krieg in Gang gesetzt ist, dann zu glauben, man könne mit Liedern und Songs so einen Krieg beenden, dagegen spricht leider fast immer die Wirklichkeit. Man kann aber hoffen, daß der Umgang mit Literatur die Menschen sensibler macht, indem sie zum Beispiel dazu führt, das Innenleben anderer Menschen besser kennenzulernen, sich in andere Menschen hineinzuversetzen und damit vielleicht auch zu sagen: Es ist nicht mein Hauptinteresse, anderen Menschen Leid zuzufügen.

Für mich war ein sehr wichtiges Buch das von Richard Rorty [3], einem amerikanischen Philosophen, "Kontingenz, Ironie und Solidarität". Kontingenz und Ironie sind für mich ganz wichtige Stichworte, weil das meinem Lebensgefühl entspricht. Ich finde aber das dritte genauso wichtig, die Solidarität. Er sagt, Literatur macht uns mit Menschen bekannt, die wir sonst nicht kennen, mit einem Innenleben, mit Gefühlslagen, die wir nicht kennen, sie macht uns sensibler und aufmerksamer für andere Menschen.

SB: Beim Lesen?

DP: Gerade beim normalen Lesen, nicht nur beim Schreiben, keineswegs. Da kann man schon hoffen, daß das auch eine zivilisierende Wirkung hat. Die Geschichte spricht leider in bestimmten Phasen immer wieder in verzweiflungsvoller Weise dagegen. Dann denkt man, mein Gott, das sind zivilisierte Völker, ich meine, was hatte Deutschland in den 20er Jahren für eine hochstehende literarische Kultur? Da hätte man ja sagen können, wie konnte ein ästhetisch zivilisiertes Land wie Deutschland dann 1933 ... Das sind Ereignisse, bei denen man denkt: Worauf sollen wir da noch hoffen? Aber die Hoffnung gibt man nicht auf.

SB: Kann das Schreiben ohne Distanz ein Rückfall in die Betroffenheitsliteratur werden? Das bezieht sich zum Beispiel auf Dichter, die ihre Länder verlassen mußten und sehr viel erlebt haben.

DP: Das kann es immer werden. Aber ich wäre da gerade in solchen Bereichen sehr vorsichtig. Es ist ja auch die Frage, was diese Literatur bezweckt. Wenn Menschen in einer Weise mit Leid konfrontiert worden sind, das wir uns gar nicht vorstellen können, und das irgendwie auszudrücken versuchen, dann würde ich nicht sagen, das ist schlechte Literatur. Natürlich, wenn man sich aus einem größeren zeitlichen Abstand fragt, wo historische Erfahrungen wirklich zur Literatur geworden sind, dann gelten wiederum andere Urteile. Aber dieser erste ganz starke Ausdruck für Betroffenheit, der hat immer ein Recht. Da können Außenstehende schwer etwas sagen. Etwas anderes, finde ich, ist eine Betroffenheit, die erschlichen ist, wo Leute sagen, sie versetzen sich in die Lage von Menschen wer weiß wo in der Welt hinein und versuchen, deren Gefühlslage nachzumachen. Das kann schnell kitschig werden, eine erschriebene und erdachte Betroffenheit oder ein erdachtes Leiden. Das finde ich schon schwierig. Aber wenn jetzt zum Beispiel aus dem syrischen Bürgerkrieg Zeugnisse entstehen, in denen Menschen sich ausdrücken, dann gelten da ganz eigene Gesetze.

SB: Wie bringt man denn Lyrik einem größeren Publikum näher und wie könnte man die Leser- beziehungsweise die Höreranzahl erhöhen?

DP: Ich glaube, jede Lyrikerin oder Lyriker fragt sich, wie man das Publikum vergrößern kann. Ganz wichtig dafür ist die Kindheit und Jugend. Wenn in Kindergärten, Schulen oder in Elternhäusern ein Interesse geweckt und dort vorgelesen wird, und man dort verschiedene Formen kennenlernt, das ist das Allerbeste und Wirksamste. Ich glaube, daß diese frühkindliche Bildung gesellschaftlich ein unglaublich wichtiger Bereich ist. Da, finde ich, muß man Lyrik als etwas präsentieren, was Freude macht und was auch schwierig sein darf, so daß Kinder sagen: Das ist etwas Schönes, das ich sonst nicht so erfahre.

SB: Wie definiert man Gedichte? Gehört dazu, daß sie immer eine Handlung haben?

DP: In der Literaturwissenschaft hat man das lange Zeit so definiert, daß Gedichte eigentlich keine Handlung haben mit Ausnahme von Balladen, denen man aber eine Mischform von Gedicht und Prosa zugestanden hat. Zunehmend sieht man jetzt, daß das nicht stimmt. Viele Gedichte haben zumindest so etwas wie eine Minimalhandlung, irgendein Ereignis, was eintritt, Zeit, die vergeht und in dieser Zeit ändert sich etwas mit einem Menschen. Das wäre ja auch schon eine Handlung.

SB: Gibt es denn heutzutage unter den Studenten vermehrt oder verstärkt Lyrik-Interessierte?

DP: Es gibt Berührungsängste zur Lyrik, das kann man sagen, weil sie in der Schule vielleicht gar nicht, manchmal in einer seltsamen Form vermittelt wird, obwohl viele Lehrer das auch sehr, sehr gut machen. Aber für manche scheint das abschreckend zu sein. Und dann wird es auch noch in der Klausur abgefragt, das ist vielleicht manchmal schwierig. Aber ich habe die Erfahrung, wenn man an einem Gedicht mit Studenten arbeitet, lassen sie sich darauf ein und kommen damit auch zurecht und einige entdecken, daß das reizvoll ist.

SB: Machen Sie auch Lesungen außerhalb von Literaturhäusern, in einem Café oder in einer Buchhandlung?

DP: Schon an verschiedenen Orten. Da ich aber fest an der Universität arbeite, kann ich einfach nicht so viele Lesungen machen. Es ist jedoch nicht so, daß ich sagen würde, es gibt nur bestimmte Orte, wo ich lese, und ich finde auch die Anzahl der Zuhörer überhaupt nicht entscheidend, wichtig ist doch, daß es interessant ist und Leute da sind, denen es gefällt. Dann ist der Ort, der Rahmen, wieviel Leute da sind, nicht so wichtig.

SB: Vielen Dank, Herr von Petersdorff, für das ausführliche Gespräch.


Altes Fachwerkhaus mitten im Park - Foto: © 2015 by Schattenblick

Literatur-Idyll: Literaturhaus Schleswig-Holstein im Alten botanischen Garten in Kiel
Foto: © 2015 by Schattenblick


Anmerkungen:


[1] Dirk von Petersdorff: "Sirenenpop", Verlag C.H. Beck, München 2014, 96 Seiten, ISBN: 978-3-406-66691-9

[2] Dr. Wolfgang Sandfuchs ist seit 2000 der Geschäftsführer und Programmleiter des Literaturhauses Schleswig-Holstein e.V. in Kiel.

[3] Dirk von Petersdorff bezieht sich hier auf Niklas Luhmanns Begriff der Kontingenz und Richard Rortys Entwurf des Ironikers. - Rorty, Richard: Kontingenz, Ironie und Solidarität. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1989

22. Mai 2015


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