Schattenblick → INFOPOOL → DIE BRILLE → REPORT


INTERVIEW/028: Links, links, links - Neue Pläne ...    Susann Witt-Stahl im Gespräch (SB)


Kritischer Musikjournalismus in ideologisch angespannter Zeit

20. Linke Literaturmesse in Nürnberg


Susann Witt-Stahl ist Chefredakteurin des Musikmagazins Melodie und Rhythmus. Am Rande der Linken Literaturmesse beantwortete sie dem Schattenblick einige Fragen zur Vergangenheit und Zukunft, zur gesellschaftspolitischen Positionierung und kulturellen Schwerpunktsetzung dieses ambitionierten publizistischen Projekts.


Schattenblick (SB): Was für eine Zeitschrift war Melodie und Rhythmus (M&R) zu DDR-Zeiten, und wie seid ihr dazu gekommen, es als Projekt neu aufzulegen?

Susann Witt-Stahl (SWS): Melodie und Rhythmus hat eine lange Tradition. Sie wurde 1957 gegründet und stellte zumindest objektiv eine sozialistische Antwort auf die Bravo dar, die es seit 1956 gibt. Der Kalte Krieg der Systeme hat sich gewissermaßen im Verhältnis zwischen Bravo und M&R gespiegelt. Aber wie alles nach 1990 seinen Niedergang erlebte, irrte auch M&R mit einigen Jahren Unterbrechung, in denen sie gar nicht mehr existierte, etwas ziellos im Popzeitschriften-Kosmos umher.

Es ist viel ausprobiert worden; vieles ist gescheitert. Ich würde sagen, daß M&R bis zum Frühjahr 2014 ein in weiten Teilen eher konventionelles Popmagazin war. Ein Alleinstellungsmerkmal war allerdings, daß die Künstler der ehemaligen DDR große Aufmerksamkeit erhielten, die in anderen Popmagazinen praktisch totgeschwiegen wurden. M&R hatte auch politische Themen, aber die konnten aus organisatorischen Gründen und Personalmangel nicht so elaboriert werden, wie es vielleicht von einem Printmedium aus dem Verlag 8. Mai, dem Herausgeber der marxistischen Tageszeitung junge Welt, zu erwarten wäre und wie es ein linkes, kritisches Publikum verlangt.

Es war kein Zufall, daß wir zum 1. Mai vergangenen Jahres mit "Class-War" als Titelthema der ersten Ausgabe der neuen M&R an die Öffentlichkeit gegangen sind. Tatsächlich war dieser Titel des Relaunch-Heftes programmatisch gedacht und stellte einerseits eine Antithese zu vielen Konventionen von Popmagazinen dar, auch der alten M&R, die sehr musikmarktabhängig agieren; andererseits versuchen wir, die Stärken und Besonderheiten der alten M&R - vor allem aus DDR-Zeiten - zu bewahren. Daher war es uns auch wichtig, die politischen und kulturkritischen Akzente wieder stärker zu betonen, was uns, glaube ich, ganz gut gelingt.

Wir bilden heute auch den Musikmarkt breiter ab und fokussieren uns nicht mehr so stark auf deutschen Pop. Wir sind insgesamt internationaler geworden und geben auch der Avantgarde, zeitgenössischer und klassischer Kunstmusik Raum. Daß wir darüber hinaus die Ideologiekritik der Frankfurter Schule in das Magazin hineinholen, ist uns sehr wichtig. Die Kulturindustriethese von Adorno und Horkheimer hat eine große Bedeutung für die Melodie und Rhythmus neben anderen marxistischen Ansätzen, die nicht unweigerlich alle mit der Kritischen Theorie korrespondieren. Wir interessieren uns auch sehr für traditionelle marxistische Musikästhetik und -praxis, wenn wir beispielsweise immer wieder an die reiche Musikgeschichte der Arbeiterbewegung oder die Geschichte des Liedguts im Spanischen Bürgerkrieg erinnern. Der Komponist und Theoretiker Hanns Eisler, der in vielen Punkten nicht auf Linie der Kritischen Theorie war, stellt für uns einen wichtigen Referenzrahmen dar.

Wir stehen auch in Opposition zu einem unkritisch linken Verständnis von Musik als Mittel, mit dem man argumentfrei die "richtige Gesinnung" verordnet und zur Schau stellt. So ist uns die Musik als Agitation zwar sehr wichtig, aber eben nicht als Propaganda, im negativen Sinn. Wir wollen nicht steuern und falsche Hoffnungen machen - wir wollen aufklären. Mittlerweile haben wir viele apostrophierte Autoren gewinnen können. Da ist Moshe Zuckermann zu nennen, der in Israel nicht nur als Historiker und Kritiker der Besatzungspolitik seiner Regierung, sondern auch als Kunsttheoretiker und Gelehrter der Kritischen Theorie bekannt ist. Er vertritt bis heute die Frankfurter Kulturindustriethese, die er sogar noch radikalisiert hat, weil seines Erachtens die Herausforderungen der Manipulationstechniken, die der Kapitalismus heute über die Kultur entfaltet, dafür eine Notwendigkeit bilden. Im Prinzip bringt Zuckermann das, was vor allem Adorno schon in den 1930er- und 1940er-Jahren diagnostiziert und prognostiziert hat, am Puls des aktuellen Zeitgeschehens auf den Punkt. Es sind in der neuen M&R aber auch Autoren dabei, die schon früher wichtige Akzente gesetzt haben, ohne die es die M&R heute vielleicht gar nicht mehr geben würde und auf die wir nicht verzichten möchten. Das gilt beispielsweise für Gerd Schumann, der das Konzept für unsere "DDR-Musiken"-Ausgabe, M&R 5/15, geschrieben und auch umgesetzt hat.

Nicht zuletzt mit solchen Titelthemen will die M&R auch den Lesern der jungen Welt ein zusätzliches Musikkulturangebot machen. Deren Feuilleton muß ja im hektischen Tagesgeschäft auf zwei Seiten über die Musik hinaus auch alle anderen Bereiche der Kunst und Kultur abdecken. Hundert Seiten Magazin bieten natürlich einen weitaus intensiveren Zugang und tieferes Eintauchen in die weite Welt der Musik.

SB: Adorno hatte zur populären Musik ein eher angespanntes Verhältnis, vor allem in Hinsicht auf seine ästhetischen Vorstellungen. Bereitet dir das in irgendeiner Weise Probleme, zumal in der Kritischen Theorie ganz andere Formen und Stränge der musikalischen Entwicklung als die der Popkultur hohen Stellenwert besitzen?

SWS: Ich muß erst einmal vorausschicken, daß wir die Kulturindustriethese von Adorno nicht zum Dogma erheben. Vielmehr versuchen wir zum einen, die Kritik an der Kulturindustrie zu modernisieren und zeitgemäß zu interpretieren, wie es die Realität im Zeitalter hochgradiger Monopolisierung, Inszenierung von Konzerten als gesamtkunstwerklich ausgerichtete High-Tech-Spektakel, wachsender Beeinflussungsmöglichkeiten via Internet etc. erfordert. Zum anderen ist uns Popmusik auch als Mittel der politischen Mobilisierung wichtig. Diese Kategorie war Adorno natürlich suspekt. Meines Erachtens müßte die Dialektik der Kritik der sich zusehends totalisierenden Kommerzialisierung populärer Musik und Anerkennung von deren potentieller Bedeutung als revolutionäre Gegenkultur viel stärker hervorgehoben werden - durch die schonungslose Entlarvung des Warencharakters von Pop auf der einen und Sichtbarmachung dessen, was populäre Musik sein könnte, wenn sie von den Fesseln der Warenform befreit wäre, auf der anderen Seite. Dazu gab es immer wieder Ansätze in sozialistischen Gesellschaften und linken Kollektiven, die populäre Kultur für soziale oder antifaschistische Kämpfe rekrutiert haben und bemüht waren, eine proletarische Popkultur als Ausdrucksmittel der Arbeiterklasse zu entwickeln.

H. P. Hofmann war einer der bekanntesten Musiktheoretiker der DDR und hat diverse Standardwerke geschrieben. Er hat eine Binsenweisheit ausgesprochen, als er feststellte, daß der Popkulturbetrieb aufklärerisch und emanzipativ oder manipulativ und repressiv wirken kann - es käme darauf an, ob er unter dem Kommando fortschrittlicher Kräfte oder eben des Kapitals steht. In den Händen von Revolutionären ist er eine Bastion im Kampf für Befreiung, in den Händen der Reaktion hat er die Funktion, die Menschen in dem Sinne von Fürst Metternich zu konditionieren: "Das Volk soll sich nicht versammeln, es soll sich zerstreuen." Metternich war ein führender Ideologe der Restaurations- und Biedermeierzeit. Seit 1990 leben wir in einer vergleichbaren Zeit, in der die Reaktion nicht zuletzt in der Popkultur fröhliche Urstände feiert und jede Form von kollektivem Widerstand mit ziemlich perfiden Methoden in Verruf bringt. So zerstreuen scheinbar linke Bands, wie etwa die Antilopen Gang, ihr Publikum, indem sie antikapitalistischen Bewegungen Aufrufe zu Pogromen unterstellen und sie politisch in die Nähe von Nazis rücken. Dafür werden sie freilich reich belohnt - die Antilopen Gang wird vom Kulturindustrie-Establishment mit Preisen überhäuft und bekam sogar schon einen Gastauftritt in der ARD-Tagesschau.

Auf der Gegenseite sieht man, daß Popmusik, die sich nicht dem Diktat des Kommerziellen völlig unterwirft und sich nicht der Fuchtel des Neoliberalismus beugt, Menschen zusammenbringt und ihren Widerstand organisieren hilft. Bei aller Begeisterung dafür, darf man nie die Grenzen der Musik aus den Augen verlieren. Wer glaubt, daß Musik unmittelbar etwas auszurichten vermag, der geht der Lüge der Kulturindustrie von der "politisch engagierten Musik" - damit werden Milliarden-Umsätze eingespielt -, die angeblich die Welt verändert, auf den Leim. Aber Musik kann revolutionäre Prozesse begleiten, den Menschen Mut machen, ihnen Halt geben und ihren Gefühlen und ihrer inneren Natur zum Ausdruck verhelfen. Sie kann, wie alle gute Kunst, Vorschein einer freien Gesellschaft sein, Formen des solidarischen Zusammenlebens schemenhaft skizzieren. Damit meine ich nicht Beihilfe zur Weltflucht, die der Schlager anbietet als Veranstalter von Traumschiffreisen aus dem grauen Alltag ins gesellschaftliche Nirwana. Das ist ein regressives Konzept. Ich meine populäre Musik, die daran erinnert, daß für eine bessere Welt gestritten werden muß. Zwischen Weltflucht und Weltveränderung besteht bekanntlich ein fundamentaler Unterschied. Der sollte in keinem Fall verschleiert werden.

SB: Der Musikjournalismus wird heutzutage mehr denn je über Gratisblätter verbreitet, die teilweise vom Schreiberischen her gar nicht schlecht gemacht sind, aber nur die Funktion haben, den Verkauf von Musik zu fördern, also letzten Endes Tonträger, Streaming-Dienste und Konzerte zu bewerben. Ist es in einem so stark auf Kommerz abonnierten Umfeld überhaupt möglich, mit einem Magazin wie eurem eine kritische Leserschaft zu erreichen und dabei wirtschaftlich über die Runden zu kommen?

SWS: Mit dieser existenziellen Frage sind wir ständig konfrontiert. Der Musikjournalismus heute befindet sich in einer Lage, die sich noch zugespitzter darstellen ließe: Mittlerweile hat die Kulturindustrie ihn so sehr im Zangengriff, daß sie den Magazinen die Texte vorschreibt - im doppelten Sinne. Sie versucht erstens, die Inhalte zu bestimmen; zweitens drängt sie darauf, vorgefertigte Werbetexte, meist Rezensionen, als redaktionellen Inhalt zu verkaufen. Wir lehnen derart unseriöse Angebote ab. Aber auch wir bleiben in einem gewissen Rahmen von der Musikindustrie abhängig, allein schon weil wir ganz ohne Anzeigen nicht leben können - die nicht geschaltet werden, wenn wir die aktuellen kommerziellen Trends ignorieren. Dennoch haben wir uns seit dem Relaunch ein großes Stück Unabhängigkeit überaus mühsam zurückerobert. Und nun muß sich zeigen, ob sich überhaupt noch genügend Leser finden, die noch auf unabhängigen Popjournalismus Wert legen, die auch anerkennen, daß es das, was M&R in die Waagschale zu werfen hat, nicht gratis geben kann, und die sich mit unserem Engagement für eine von den Gängelungen der Kulturindustrie so weit wie möglich befreite Berichterstattung solidarisieren wollen. Es ist schlichtweg so, daß fehlende bezahlte Anzeigen nicht nur ausgeglichen, sondern auch der erhebliche Mehraufwand für Recherchen, Übersetzungen - die neue M&R arbeitet mit internationalen Autoren -, die Exklusivität der politischen und ideologiekritischen Beiträge und eine Bild- und Layoutarbeit, die mehr und mehr auf die langweiligen Promo-Fotos der Industrie verzichtet und auf eigene Fotografen und kreative Gestalter setzt, finanziert werden muß. Ein Qualitätsprodukt wie M&R mit vielen Alleinstellungsmerkmalen hat seinen Preis - der übrigens mit 4,90 Euro pro Heft wirklich günstig ist und nach dem Relaunch nicht einmal erhöht wurde. Das bedeutet auch, daß viel mehr Popmusikbegeisterte ein Abo zeichnen müssen, um das Projekt zu erhalten. Wir betrachten das Magazin auch als work in progress. Wir wollen uns weiterentwickeln, mehr Debatten an uns ziehen und die Leser auch mehr einbeziehen; wir wollen noch kritischer und noch politischer werden. Für 2016 planen wir, wenn wir das personell stemmen können, zu jedem Titelthema Veranstaltungen zu organisieren. Wir starten mit Heft 1/16 und dem Thema "Migration und Flucht". Es ist an den Lesern zu entscheiden, ob die Welt eine M&R braucht. Falls ihnen die oftmals dreist als unabhängige Magazine getarnten Anzeigenblätter der Kulturindustrie, die sie meist gratis bekommen - manchmal nicht einmal das: viele kosten auch noch viel Geld am Kiosk -, "Journalismus" genug sind, dann wird M&R mittel- und langfristig keine Überlebenschance haben.

SB: Wenn ihr euch an ein linkes Publikum wendet, seid ihr auch mit den innerlinken Kämpfen und Kontroversen konfrontiert. Du hast vor kurzem einen Beitrag in der jungen Welt über den Rapper Kaveh geschrieben und damit etwas thematisiert, worüber in der deutschen Hip-Hop-Szene eine heftige ideologische Auseinandersetzung geführt wird. In einem bürgerlichen Magazin würde man lieber die Finger davon lassen, aus Furcht, einen Teil der Leserschaft verlieren zu können. Wie weit würdet ihr in einer solchen Auseinandersetzung gehen, die in diesem Fall über Hip-Hop verhandelt wird?

SWS: Da braucht man gar nicht den Konjunktiv zu bemühen, sondern kann es ruhig im Indikativ sagen: Wir sind schon sehr weit gegangen. In den letzten Ausgaben haben wir zum Beispiel neoliberale Tendenzen in der Popmusik offengelegt und "heilige Kühe geschlachtet", um einmal eine konventionelle Metapher zu bemühen. Wir übten scharfe Kritik an Bands aus der Zeckenrap-Szene, die als linke Ikonen gelten. Das Label "Zeckenrap" ist längst ein Selbstgänger: Man inszeniert sich als linksradikal und hält sich für subversiv, weil man für Flüchtlinge ist. Das ist aber lange noch kein Merkmal für eine ernst zu nehmende Opposition. Frau Merkel, ihr Vize-Kanzler und Claudia Roth sind auch irgendwie für Flüchtlinge; heute sind alle christlich-sozialen und linksliberalen Bürger für Flüchtlinge, genauso wie sie alle gegen Nazis sind, solange es nicht ans Eingemachte geht. Genau da ist das Problem der Zeckenrap-Szene: Ihre Gesellschaftskritik - von einer Systemkritik müssen wir gar nicht erst reden - setzt nicht dort an, wo es schmerzt: An der Eigentumsfrage, am Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit, an den imperialistischen Kriegen und der Naturzerstörung, die Hunderttausende von Menschen das Leben kosten und viele Millionen in das nackte Elend treiben und zu Flüchtlingen machen. Von den Hauptwidersprüchen lassen die meisten Zeckenrapper lieber die Finger. Sie sind eine mittelständische Unternehmung, wollen doch eigentlich nur spielen und daß man sich nicht sexistisch, homophob, rassistisch und antisemitisch verhält und natürlich daß man sich einer politisch korrekten Sprache bedient - bloß keine schmutzigen Worte, die die Welt, so häßlich wie sie für die unteren Klassen dieser Erde ist, reflektieren. Zeckenrapperin Sookee sagte das so schön: "Meine Wohnung ist lila, meine Klamotten sind lila, mein Leben ist lila." Solchen Musikern reichen die wenigen emanzipativen Standards, die wir überall in der neoliberalen Gesellschaft finden - auch bei Kriegsparteien wie den Grünen. Selbst die Jungliberalen und große Teile der Jungen Union würden das unterschreiben.

M&R ist meines Wissens das einzige Kulturmagazin in Deutschland, das Kritik an dieser Szene geübt hat. Kein Wunder. Die bürgerlichen Medien sind freilich begeistert von "Zecken", die nicht beißen. Aber auch M&R hat dieses Phänomen noch gar nicht angemessen ideologiekritisch aufgemischt. Uns geht es allerdings nicht darum zu sagen, daß es solche Popkultur nicht geben soll. Weit mehr als 90 Prozent der Popkultur heute ist kreuzbrav und angepasst - warum dann nicht Zeckenrap?! Wir wollen nur zeigen, daß so was gar nichts mit linksradikal und wenig mit links zu tun hat, dafür aber umso mehr mit einem Marketing, das die Sehnsucht der Middle-Class-Kids nach einem wilden Lebenssommer der Anarchie befriedigt. Nicht wenige Phänomene in der linken Popkultur ventilieren auch antikommunistische Ideologie. In der aktuellen M&R findet sich ein Beitrag mit der Überschrift "Tönende Totalitarismustheorie", in dem wir eine musikalische Ikone der Antifa-Szene kritisieren. In ihren Stücken findet sich eine popkulturelle Reproduktion der antikollektivistischen Weltanschauung, die in der faschistische Zwangsformationen und revolutionären Massen gleichsetzenden Totalitarismustheorie der Architekten des Neoliberalismus angelegt ist. Die Band nennt sich "Egotronic" - nomen est omen. Auch in Interviews stellen die Frontleute der Band im Prinzip alles Kollektivistische mehr oder weniger in die Nazi-Ecke. Kritik in dieser Preisklasse kostet uns natürlich Anzeigenkunden, aber man kann nicht gleichzeitig immer der Kulturindustrie gefallen und ein wahrhaft linkes Magazin sein wollen.

Was wir übrigens nicht machen, ist, das Big-Music-Business und den kommerziellen Mainstream aus dem Magazin nehmen. Wir rezipieren den Markt, und wir haben auch viele sachkundige Autoren, die sehr emphatisch und auch nicht sonderlich kritisch über Popmusik schreiben. Das gefällt mir oft nicht, aber das ist eben auch eine Seite der Medaille. Diese Autoren sollen mit ihren Apologien zu Wort kommen, solange genug freier Raum für qualifizierte Kritik bleibt. Natürlich kann auch ein marxistisches Kulturmagazin die Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft nicht lösen - es kann sie nur aufdecken und am Lack der bunten Kulturindustriewelt kratzen. Und dabei dürfen wir nicht verschweigen, daß wir unweigerlich auch immer noch ein Teil davon sind und sein müssen. Würden wir etwas anderes behaupten, machen wir uns zu Komplizen des Betrugs und tun nichts anderes als die Zeckenrapper: Wir machen auf linksradikal, präsentieren eine heile Welt, in der es nur antikapitalistische und andere gute linke Bands gibt und suggerieren, daß wir die Logik und Gesetze des Marktes überwunden hätten und außerhalb des Betriebs stehen, was natürlich unmöglich ist: die Kulturindustrie heute überwölbt die gesamte Kultur der westlichen Welt - sie läßt praktisch kein Außen mehr zu.

SB: Jugendliche definieren sich in starkem Maße über Musik. Das geht so weit, daß die Identifizierung mit bestimmten Bands zu Rivalitäten mit Fans anderer Musikgruppen führt. Gleichzeitig ist die heutige Popmusik extrem ausdifferenziert, das heißt, wir haben es mit einer großen Vielfalt von Genres und Subgenres zu tun. Im Unterschied dazu gab es in den 70er Jahren nur wenige Stilarten. Wie kommt ihr als Musikmagazin mit dieser großen Heterogenität klar, denn alle Szenen könnt ihr schwerlich bedienen?

SWS: Ich meine, was so ausdifferenziert klingt, ist im Grunde gar nicht so different. Zeitgenössischer Soul klingt heute wie Soul aus den 1960ern oder 1970ern, Indie-Rock oder Progressive, oder wie das sonst noch genannt wird, klingt wie New Wave aus den 1980ern etc. Der Stillstand und die Rückwärtsgewandtheit der Popmusik wird mit immer neuen Begriffen camoufliert. Je weniger Neues die Branche zu bieten hat, desto mehr Neologismen schmeißt sie auf den Markt oder operiert mit Präfixen wie "Post-", "Hard-", "Heavy-" etc. Jede ordinäre Mainstream-Popgruppe wird heute von den Major Labels als "Indie" promotet. Früher gab es Rock'n'Roll, dann Beat und Rock, dann Hardrock und Punk, dann kamen Hardcore und Metal. Diese Begriffe bildeten real existierende neue Entwicklungsstände ab, einige weitere Differenzierungen, wie Black Metal, waren sicher auch noch nötig, aber irgendwann wurde die Ausdifferenzierungspraxis an den Begriffen völlig inflationär - ein Epiphänomen des Neoliberalismus. Je standardisierter die Ware ist, die uns zugemutet wird, desto mehr Kaufanreize müssen her.

Wir versuchen, mit diesen Marketing-Strategien souverän und unaufgeregt umzugehen. Wir hecheln nicht gleich jedem vermeintlich neuen Trend hinterher. Ein kritisches Popmagazin wie M&R läßt sich nicht von der Marktschreierei der Labels, Promoter und Konzertveranstalter treiben. Es versäumt aber auch nicht, den Markt, so dürftig sein Angebot auch zu weilen sein mag, so authentisch wie möglich abzubilden, die Konsumenten über seine Mechanismen aufzuklären und ihnen hier und da zu sagen, warum es kein Wunder ist, daß sie angeblich neue Stile zu Tode langweilen. Die meisten Menschen sind ja auch nicht blöd.

SB: Der Name Melodie und Rhythmus klingt fast schon anachronistisch, denn in der Regel geben sich Popmusikmagazine englischsprachige Namen. Seid ihr nicht auf den Gedanken gekommen, euch mit dem Relaunch einen neuen Namen zuzulegen?

SWS: Das stand nie zur Disposition. Wenn man, wie wir es tun, auch die Sphäre der Musikkultur historisch-materialistisch denkt, hat man unweigerlich einen sehr starken Bezug zur Geschichte aller Musik, deren vielfältige Verbindung zu Politik und Gesellschaft, aber eben auch zu seiner eigenen Geschichte. Wir wollten ja mit dem Relaunch auf keinen Fall einen Bruch in der Biographie von Melodie und Rhythmus herbeiführen, sondern Erhaltenswertes bewahren und Überholtes hinter uns lassen. Ein neuer Name hätte dieses Vorhaben konterkariert. Bei aller notwendiger Kritik an der DDR und ihrer in einigen Belangen verblendeten Kulturpolitik: Gerade heute, wo wir einen ideologisierten Umgang mit der DDR erleben und die Klitterung ihrer Geschichte in einem atemberaubenden Ausmaß betrieben wird, wäre es das völlig falsche Zeichen, den Namen des führenden Musikmagazins des einzigen sozialistischen Staats auf deutschem Boden im Abgrund der Musikkulturgeschichte versinken zu lassen.

Und was einen englischsprachigen Namen anbelangt: Man kann mit Anglizismen nicht weniger der Regressionen und Barbarei das Wort reden als mit der deutschen Sprache. Deutsch ist nicht nur die Sprache von Julius Streicher - es ist die Sprache von Karl Marx und Rosa Luxemburg. Wir fetischisieren die deutsche Sprache nicht, aber wir wenden uns gegen ihre Verteufelung. Der Inhalt der Standpunkte ist entscheidend, nicht die Sprache, in der sie formuliert werden. Poptheoretiker, die heute meinen, in jedem deutschen Song-Subtext ein "Heil Hitler!" aufspüren müssen, und diese dümmliche Parole "Deutsch mich nicht voll!", die sich nicht nur gegen den deutschen Nationalismus richtet - der sollte in der Tat konsequent bekämpft werden -, sondern gegen die deutsche Sprache, beweisen doch nur eines: Daß die Ideologiekritik in unserem Land ziemlich runtergekommen und in den bürgerlichen Idealismus und Formalismus zurückgefallen ist. Je weniger Rückgrat und systemkritische Standpunkte, desto mehr pseudokritisches Gedöns und moralische Hysterie.

SB: Susann, vielen Dank für das Gespräch.


Berichte und Interviews zur 20. Linken Literaturmesse im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → DIE BRILLE → REPORT:

BERICHT/030: Links, links, links - Getrennt publizieren, gemeinsam agieren ... (SB)
BERICHT/031: Links, links, links - in jedem Falle unbestechlich ... (1) (SB)
INTERVIEW/027: Links, links, links - strukturell faschistoid ...    Wolf Wetzel im Gespräch (SB)

17. November 2015


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang