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INTERVIEW/035: Links, links, links - alte Kämpfe, neue Wege ...    Uschi Grandel im Gespräch (2) (SB)


Baskenland, Nordirland... Bruchstellen etablierter Herrschaft?

20. Linke Literaturmesse in Nürnberg


Quo vadis, Europa? Gehen die verschiedenen Völker, in ein Korsett namens Europäische Union gepreßt, der versprochenen demokratischen und solidarischen Zukunft entgegen oder offenbart sich nicht deren tatsächlicher Charakter in geradezu dramatischer Weise am Beispiel Griechenlands, das seiner Souveränität beraubt und in sozialer Hinsicht demontiert wurde? Innerhalb einer parteilich organisierten und parlamentarisch orientierten Linken werden perspektivische Strategien nicht selten auf die EU fokussiert in der Erwartung, via Brüssel und damit sozusagen "über Bande" politische Fortschritte erzielen zu können, die sich im nationalstaatlichen Bezugsrahmen in der Konfrontation mit den dominierenden Eliten von Staat, Gesellschaft und Kapital bislang nicht realisieren ließen.

Wäre die EU das versprochene und erhoffte Füllhorn demokratischer wie sozialer Segnungen, hätte sie angesichts der vielen Jahre und Jahrzehnte ihres Werdens und Entstehens Gelegenheiten genug gehabt, anhand ihrer Bereitschaft und Kompetenz, fundamentale und seit langem schwelende Konflikte innerhalb ihrer Mitgliedsstaaten einer auf politischem Wege ausgehandelten und von allen Beteiligten als gerecht empfundenen Lösung zuzuführen, dies auch unter Beweis zu stellen. Da sich die demokratische Qualität staatlicher wie suprastaatlicher Gebilde nicht zuletzt am Umgang mit sogenannten Minderheiten, randständigen oder auch sozial marginalisierten Menschen messen läßt, sind Konflikte wie die zur Zeit unter Druck stehende Befriedungslösung Nordirlands, aber auch die ungelösten Probleme Spaniens mit der baskischen und der katalanischen Bevölkerung Beispiele, die für eine Nagelprobe in Sachen EU geeignet wären.

Auf der Linken Literaturmesse in Nürnberg moderierte Uschi Grandel von den Freundinnen und Freunden des Baskenlandes eine Diskussionsveranstaltung mit Ingo Niebel, dem Autor des Buches "Das Baskenland". Hier nun der zweite Teil eines Gesprächs, das der Schattenblick mit ihr am Rande der Messe führte zum Thema Selbstbestimmungsrecht, Separatismus und Demokratie in Europa. [1]


U. Grandel steht neben I. Niebel während seines Vortrags - Foto: © 2015 by Schattenblick

Uschi Grandel und Ingo Niebel auf der Nürnberger Linken Literaturmesse
Foto: © 2015 by Schattenblick


Schattenblick (SB): Ingo Niebel und andere vertreten die These, daß der spanische Staat insgesamt quasi erodieren würde. Kannst du etwas dazu sagen, welche Einschätzungen und Perspektiven seitens der baskischen Bewegung damit verbunden sind?

Uschi Grandel (UG): Das ist eine ganz schwierige Frage. Auch wenn man das Thema Unabhängigkeit einmal zurückstellt, gibt es einen großen Konsens im Baskenland: Egal wo die Leute stehen, sie wollen auf jeden Fall das Selbstbestimmungsrecht für die Basken. Sie wollen selber entscheiden können, welchen Weg sie gehen. Sie möchten das demokratisch und friedlich tun und von der spanischen Regierung nicht daran gehindert werden. Die Drohgebärden Spaniens gegenüber Katalonien werden natürlich auch im Baskenland sehr aufmerksam wahrgenommen und verfolgt. In Spanien ist der Konflikt mit dem Baskenland in den Medien immer als propagandistische anti-baskische Hetze angekommen. Jahrzehntelang gab dort eine unglaubliche Verteufelung und Kriminalisierung alles Baskischen, was in der spanischen Bevölkerung natürlich dazu geführt hat, daß Toleranz oder die Forderung nach einer politischen, friedlichen Konfliktlösung nicht sehr populär sind.

Deshalb haben auch Parteien wie jetzt zum Beispiel Podemos sehr unterschiedliche Flügel, was das Thema angeht, wie man mit den Nationen ohne Staat, wie sie in Spanien genannt werden, denn nun umgeht. Es gibt Leute, die sich zum Selbstbestimmungsrecht bekennen und auch das Selbstbestimmungsrecht der Nationen ohne Staat hochhalten, aber es gibt eben auch andere, die die spanische nationalistische Linie vertreten und sagen: Wir rütteln nicht am großen Konsens der spanischen Großparteien von der Rechten bis zur Izquierda Unida [2], die alle sagen: Wir sind ein einiges Spanien und erlauben nicht irgendwelche separatistischen Bewegungen oder Abspaltungen.

SB: Ist das denn wirklich eine Besonderheit Spaniens, auch wenn es immer noch eine Verfassung hat, die den Geist Francos atmet und in dieser Frage besonders extrem erscheint?

UG: Jein muß man dazu sagen. In Großbritannien zum Beispiel gab es das Referendum in Schottland, das die britische konservative Regierung auch anerkannt hat. Sie hat gesagt: Wenn sich Schottland für die Unabhängigkeit entscheidet, dann akzeptieren wir das - was natürlich nicht heißt, daß sie nicht alle Hebel in Bewegung gesetzt hat, um die Abspaltung zu verhindern, was sie, jedenfalls fürs erste, auch knapp geschafft hat. Im nordirischen Friedensvertrag gibt es zum Beispiel eine ganz spezielle Festlegung, daß sich Irland und Großbritannien dem nicht in den Weg zu stellen, wenn die nordirische Bevölkerung abstimmt und sich für den Anschluß an Irland, also für ein vereinigtes Irland, entscheidet. Das ist so ausgehandelt und in dem Vertrag festgehalten worden, dazu hat sich Großbritannien verpflichtet.

Es gibt also solche Festlegungen, das ist überhaupt keine Problem. Sie sind demokratisch möglich und innerhalb Europas, glaube ich, für die einzelnen Staaten auch weniger gefährlich als in dem voreuropäischen Einzelnationalstaatenverbund, weil das für die entsprechenden Wirtschaftsmächte etc. jetzt nicht unbedingt ein Desaster bedeuten würde und keine neuen Zollschranken oder so etwas errichtet werden müßten. Das ist ein Thema, das in EU-Zeiten vielleicht sogar leichter umgesetzt werden kann als in der Nationalstaatenzeit. In Spanien ist es aber auch die Frage, wie sich das Land selber entwickeln will. Das Thema Separatismus wird immer so diskutiert, als ob die Basken oder die Katalanen Spanien etwas wegnehmen wollten, aber letztendlich ist in diesen Konzepten auch eine riesengroße Chance für die Demokratisierung Spaniens enthalten.

Du hast vorhin nach dem erodierenden, zerfallenden Staat gefragt. Spanien hat ein Riesen-Demokratiedefizit. Es gibt keine entwickelte politische demokratische Kultur und immer noch eine riesengroße Machtfülle dieser alten Eliten. Viele Leute argumentieren damit und sagen: Spanien braucht eigentlich eine zweite Transición [3], die wirklich mit den alten Herrschaftsstrukturen bricht und dazu führt, daß die Menschen selbst mehr über ihre Schicksal entscheiden können, und zwar nicht nur in den Regionen, die sich von Spanien distanzieren, sondern auch in denen, die sich als spanisch verstehen, wo die Leute in Spanien selber aber trotzdem nichts zu sagen haben.

SB: Gibt es denn in Spanien außerhalb des Baskenlandes und Kataloniens viele Menschen, die sagen: Auch wenn wir nicht direkt betroffen sind, möchten wir in einem demokratisch-liberalen Staat leben, wenn die Basken sich also mehrheitlich abspalten wollen, wäre uns das lieber als ein Zentralstaat, in dem Menschen sozusagen gezwungenermaßen leben?

UG: Dieser Gedanke ist in Spanien nicht sehr ausgeprägt. Das liegt an dieser großen Hetze, von der ich vorhin schon gesprochen habe. Das ist eine ganz, ganz große Schwarz-Weiß-Malerei, so nach dem Motto: Wer in diesem bewaffneten Konflikt nicht für uns ist, der unterstützt ETA. Das war der gängige Versuch, Solidarität für die Basken innerhalb Spaniens zu verhindern. Das wurde mit den entsprechenden medialen Kampagnen und einer Hetze gegen bestimmte Leute verbunden.

Bei den vorletzten Europawahlen gab es in der Linken eine Initiativa Internationalista, die von kleineren linken Gruppen in ganz Spanien unterstützt wurde. Die haben gemeinsam mit der baskischen und der katalanischen Linken zum Europaparlament kandidiert und dadurch der damals noch illegalisierten baskischen Linken eine Stimme verliehen. Diese Solidarität gibt es. Während des bewaffneten Konfliktes hatte sie unglaubliche Schwierigkeiten wegen des parallellaufenden Propagandakrieges. Jetzt aber wächst sie, weil im Baskenland dieser Friedensprozeß im Entstehen ist, auch wenn sich die spanische Regierung wie verrückt dagegen stemmt.

Man könnte sehr stark das Gefühl haben, daß die spanische Regierung lieber auf einen bewaffneten Konflikt setzen würde, weil er leichter zu unterdrücken ist und Unterdrückungsmaßnahmen dann ebenso leicht zu rechtfertigen sind. In einem Konflikt, in dem die Gewalt einseitig nur noch vom spanischen Staat ausgeht, sind repressive Gesetze auch nach außen hin ganz schwer zu vermitteln. Darin liegt eine große Chance für ganz Spanien. In den anderen Regionen wird es immer schwerer, damit zu argumentieren, daß da nur verrückte Terroristen und irgendwie durchgeknallte Psychopathen sitzen, wenn überhaupt keine Gewalt vom Baskenland ausgeht und die baskische Linke sich ganz klar dazu bekennt. ETA hat vor vier Jahren keinen Waffenstillstand erklärt, sondern den bewaffneten Kampf aufgegeben und kämpft seitdem darum, die Waffen auch abgeben zu können. Dadurch besteht jetzt die Chance, daß die Leute besser zuhören, weshalb die baskische Linke versucht, auch nach Spanien hinein zu werben. Sie sitzt bereits im spanischen Parlament und im Senat und ist auch in Madrid präsent.

SB: Könntest du erläutern, was der Senat ist?

UG: Spanien hat ein Zwei-Kammer-System. Das Parlament ist die eine Seite, der spanische Senat die andere, vergleichbar vielleicht mit dem Oberhaus in England. Die Basken sitzen also in diesen spanischen Institutionen und gehen dort natürlich auch stärker der Frage nach: Wie löst man diesen Konflikt? Was hat Spanien eigentlich davon, wie will es weiterleben? Wie können wir miteinander umgehen? Die Basken bemühen sich darum, diese Diskussionen zu führen und auch nach Spanien hineinzutragen, also nicht nur in die internationale Solidarität in der ganzen Welt, in die solidarischen Bewegungen in Lateinamerika und Europa, sondern eben auch in die verschiedenen spanischen Regionen.

SB: Nun ist Spanien in der EU wie auch in der NATO. Wie schätzt du die Unabhängigkeit der spanischen Regierung angesichts der daraus resultierenden Bündnisverpflichtungen ein?

UG: Ich glaube, daß in diesem Fall die Mitgliedschaft in der NATO oder auch in der europäischen Gemeinschaft keine Hindernis ist, den Konflikt zu lösen. Bei einem bewaffneten Konflikt mitten in Westeuropa, also sozusagen in den Staaten, die sich selber nach außen gerne als Hort der Demokratie präsentieren, besteht das überwiegende Interesse darin zu sagen: Wir wollen diesen Konflikt von der Tagesordnung haben. Lange hat man gesagt: Okay, Spanien besteht darauf, daß es seine Aufgabe und seine eigene Sache ist, diesen Konflikt zu beenden. Wir reden denen nicht rein, und Spanien verbittet sich auch jede Einmischung von außen.

Das hat sich aber spätestens seit der letzten großen Friedensinitiative von 2005 bis 2007, die noch auf dem Verhandlungsweg stattgefunden hat, geändert. Da haben sich die europäischen Vermittler und Moderatoren sehr stark eingebracht und versucht, in dem Konflikt zu vermitteln. Sie haben es geschafft, sich mit der baskischen linken Seite zu einigen. Die Konfliktlösung ist letztendlich nicht an den Basken gescheitert, sondern an der sturen Haltung der spanischen Regierung, was nach außen hin auch die Bündnispartner schon etwas vergrätzt hat. Es gab zum Beispiel Verhandlungen in Genf, bei denen die Schweiz gesagt hat, sie stellt bestimmte Dinge zur Verfügung. Dann gab es das Angebot Norwegens an ETA, sich für die Verhandlungen zur Waffenübergabe oder -vernichtung auf neutralem Gebiet in Norwegen zu treffen. All diese Initiativen sind daran gescheitert, daß der spanische Staat letztendlich gesagt hat: Wir wollen nicht verhandeln, wir wollen, daß ETA weggeht und sich auflöst - Schluß. Wenn nicht, setzen wir das Baskenland und die baskische Unabhängigkeitsbewegung massiv unter Druck und versuchen auf die Art und Weise, sie politisch einfach fertig zu machen.

SB: Du hast vorhin erwähnt, daß du ursprünglich aus der irischen Unabhängigkeitsbewegung kommst. Wie ist die aktuelle Situation in Nordirland? Steht der Friedensprozeß auf der Kippe?

UG: Ähnlich wie bei den baskischen oder auch anderen Konfliktlösungen dauern solche Friedensprozesse oft sehr lange. Im irischen Prozeß ist 1998 ein Friedensvertrag geschlossen worden. Es wird häufig gesagt: Das ist doch schon eine ganze Zeit lang her. Aber ein Friedensvertrag ist natürlich nur ein Stück Papier, das ein bestimmtes Machtverhältnis zwischen den einzelnen Verhandlungspartnern darstellt und festschreibt. In diesem Friedensvertrag wurde als erster Schritt die Demokratisierung Nordirlands festgeschrieben. Das war ja in diesem Konflikt ein waffenstarrender Unterdrückerstaat, in dem die Hälfte der Bevölkerung unterdrückt und praktisch sämtlicher Bürgerrechte beraubt worden ist.

Dieser Umbau Nordirlands stößt natürlich auf Schwierigkeiten bei denen, die vorher davon profitiert haben. Er bewegt sich seit '98 mit großen Erfolgen, aber immer wieder auch Riesenrückschlägen langsam nach vorn. Die treibende Kraft dort ist Sinn Féin, die eine andere Entwicklung genommen hat, als es sich die britische und die irische Regierung damals gedacht haben. Die waren eigentlich der Meinung, daß, wenn sie einen solchen Friedensvertrag zur Demokratisierung Nordirlands beschließen, die beiden nordirischen Großparteien, also die sozialdemokratische und die führende unionistische, als Gewinner aus diesem Prozeß hervorgehen würden. Das hat sich aber nicht bewahrheitet, denn die republikanische Bewegung ist unglaublich stark geworden.

Sinn Féin ist im Moment stärkste Partei in Nordirland und hat auch im Süden enorm zugelegt. Natürlich steht sie als linke Partei im Widerspruch zu den Austeritätskonzepten im Süden wie auch in Großbritannien. Das ist im Moment einer der Punkte, der die britische Regierung in eine totale Abwehrstellung bringt. Sinn Féin weigert sich, die Austeritätskonzepte, die in Westminster ausgearbeitet werden, in Nordirland umzusetzen. Es gibt dort eine Allparteien-Regierung, in der Sinn Féin und die DUP, die extrem rechte unionistische Partei, praktisch gemeinsam die Führung haben und einen Konsens brauchen, um Dinge umzusetzen. Das rührt aus dem Friedensvertrag her, weil es eben in Nordirland diese zwei Arten von Gruppen gibt, die sich gegenüberstehen, die pro-irischen und die pro-britischen. In diesem Konsens verweigert Sinn Féin die Umsetzung der Austeritätsmaßnahmen, was die große Krise erst hervorgerufen hat, weil die Unionisten an dieser Stelle sagen, sie sind pro-britisch und weigern sich, die Dinge anders umzusetzen, als Großbritannien das möchte. Sie bekommen aber Schwierigkeiten mit ihrer eigenen Anhängerschaft, die zum großen Teil aus der pro-britischen Arbeiterschaft stammt und zwar unionistisch eingestellt, aber natürlich auch von der Kürzungspolitik betroffen ist.

SB: Gibt es neben der EU-Austeritätspolitik und der in Großbritannien bereits vieldiskutierten Frage eines möglichen Austritts aus Eurozone oder EU weitere Konfliktfelder, die sich auf den Friedensprozeß in Nordirland auswirken?

UG: Die Austeritätspolitik zum Beispiel betrifft ja nicht nur Nordirland, sondern auch den Süden. Es gibt aber noch einen zweiten Punkt, der extrem schwierig zu lösen ist, weil er die Art und Weise betrifft, wie die britische Regierung diesen Konflikt geführt hat, nämlich als einen sehr schmutzigen Krieg, mit Tötungen und Massakern an Zivilisten, die damals alle unter den Teppich gekehrt worden sind als Kampf gegen "Terroristen". Die Bürgerbewegung der Familienangehörigen, die diesen staatlichen Terror aufarbeiten und aufdecken wollen, ist in Nordirland sehr stark. Diese Kampagnen gibt es zum Teil schon seit 20, 30 Jahren. Sie sagen: Wir wollen Gerechtigkeit für unsere Angehörigen. Beim Bloody Sunday haben sie es geschafft. Der ist weltweit bekannt geworden, und da hat sich Cameron für den Mord an 14 Zivilisten auch entschuldigen müssen. Die Angehörigen haben einen langen Kampf geführt, bis anerkannt wurde, daß diese 14 Zivilisten, die von den Paratroopers, einer britischen Eliteeinheit, auf einer Demonstration gegen Internierungen erschossen worden sind, keine bewaffneten Terroristen waren, wie es die britische Regierung behauptet hatte.

Einen ähnlichen Fall gab es in Belfast, das Ballymurphy Massaker, bei dem im Zuge dieser Internierungen 11 Zivilisten, vom Pfarrer bis hin zu einer Mutter von fünf Kindern, erschossen wurden. Auch das geschah damals unter dem Tenor: Es sind ja nur "Terroristen". Auch hier kämpfen die Hinterbliebenen noch heute um Gerechtigkeit für ihre Angehörigen. Großbritannien müßte zugeben, daß dieser Krieg weder rechtsstaatlich noch demokratisch, sondern einfach ein brutaler Unterdrückungskrieg war, der mit völlig illegitimen Mitteln geführt worden ist, und das kratzt natürlich am demokratischen Image des Landes. Es müßte eine Aufarbeitung gemacht werden wie zum Beispiel in den Kolonialkonflikten in Kenia oder anderen Ländern wie Malaysia, in denen die Briten eine ganz ähnliche Taktik durchgeführt haben gegenüber der Zivilbevölkerung.

SB: Ist es nicht so, daß Cameron zur Tagesordnung übergehen kann und ihn diese Entschuldigung politisch nicht viel gekostet hat? Wie schätzt du diesen Erfolg ein, was ist damit gewonnen?

UG: Unglaublich viel. Ein ganz wichtiger Propagandakrieg Großbritanniens wie auch der übrigen Westmächte - das reicht von den USA bis zu all den übrigen imperialistischen Staaten, die es heute gibt -, besteht darin, daß sie ihre Kriege überall auf der Welt als Kampf für Menschlichkeit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie ausgeben. Das ist eine nicht zu unterschätzende Propagandanotwendigkeit, um diese Kriege zu legitimieren. Die Aufarbeitung der alten Verbrechen führt dazu, daß man diese Konflikte besser einschätzen kann und daß diese Propagandalüge auch als Propagandalüge enttarnt wird.

Dafür gibt es ein ganz praktisches Beispiel. Der britischen Armee wird vorgeworfen, daß sie im Irak genauso weitergewütet hat wie im Nordirlandkonflikt und daß es genau die gleichen extralegalen Tötungen, Verhaftungen und Folterungen gegeben hat. Die irische Bewegung hat, weil sie eben so stark ist und schon Erfolge erzielt hat, jetzt auch mit Menschenrechtsanwälten zusammengearbeitet. Sie hat mit den Familien im Irak Kontakt aufgenommen und Großbritannien in Einzelfällen vor Gericht gebracht. In dem Fall eines jungen Mannes zum Beispiel, der von der britischen Armee gefoltert und ermordet worden ist, hat sie gewonnen und Recht bekommen. Das sind Einzelsiege, die nicht zu unterschätzen sind, weil sie die Kriegführung delegitimieren und ihren wahren Charakter aufdecken.

SB: Zum Schluß noch eine Frage zur Linken Literaturmesse hier in Nürnberg, in diesem Jahr ist es ja bereits die zwanzigste. Wie würdest du die Entwicklung in dieser Zeit beschreiben?

UG: Was mich an der Linken Literaturmesse extrem begeistert, ist, daß es einen unglaublichen Andrang gibt, der sich über die Jahre sehr positiv und stetig nach oben entwickelt hat. Die Unkenrufe von Leuten, die gesagt haben, "es wird nicht mehr gelesen", "wer interessiert sich schon noch für linke Literatur", "das ist doch irgendein Außenseiterthema", "die Leute werden immer unpolitischer" und so weiter, all das kann man hier eigentlich überhaupt nicht wiederfinden.

Die Zusammensetzung der Leute, die hierherkommen und sich für Literatur interessieren - das reicht von jung bis alt -, gefällt mir außerordentlich gut. Und weil die Literaturmesse eine kleine Messe ist, in der man im Vergleich zu den großen, kommerziellen Messen die Übersicht behalten kann, hat man hier mehr Zeit zu reden und in den Büchern zu stöbern. Das ist für die Leute, die hier die Stände machen, also auch für mich, einfach etwas anderes und gibt uns ein gemütliches Ambiente. Für uns aus der Solidaritätsbewegung ist es ja so: Wir vertreiben Bücher, die von Verlagen, die hier auftreten, gemacht sind. Eine solche Messe ist eine sehr schöne Art und Weise, Leuten Bücher anzubieten. In der Solidaritätsarbeit gerade zu den Konflikten in Europa, die eine lange Historie haben, helfen natürlich diese Bücher, und die Diskussionen auf der Messe geben uns eine gute Möglichkeit, ein größeres Publikum zu erreichen.

SB: Vielen Dank, Uschi, für das Gespräch.


Fußnoten:

[1] 1. Teil des Interviews im Schattenblick unter www.schattenblick.de → INFOPOOL → DIE BRILLE → REPORT:
INTERVIEW/033: Links, links, links - Politik stirbt in repressiven Raten ...    Uschi Grandel im Gespräch (1) (SB)

[2] Izquierda Unida (IU) ist die Vereinigte Linke Spaniens, ein 1986 gegründetes linkssozialistisches Parteienbündnis, in dem die Kommunistische Partei Spaniens (PCE) eine dominierende Rolle spielt.

[3] Unter Transición wird in Spanien der Übergang vom Franquismus zur parlamentarischen Demokratie verstanden. Es ist die Zeit nach dem Tod Francos im November 1975 bis zur politischen Wende von 1982, als die in der Diktatur verbotene sozialistische Partei PSOE als Wahlsiegerin zum ersten Mal die Regierung stellen konnte.


Berichte und Interviews zur 20. Linken Literaturmesse im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → DIE BRILLE → REPORT:

BERICHT/030: Links, links, links - Getrennt publizieren, gemeinsam agieren ... (SB)
BERICHT/031: Links, links, links - in jedem Falle unbestechlich ... (1) (SB)
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Zur 19. Linken Literaturmesse 2014 siehe unter dem Sammeltitel "Linksliteraten" im Schattenblick unter:
http://www.schattenblick.de/infopool/d-brille/ip_d-brille_report_bericht.shtml
http://www.schattenblick.de/infopool/d-brille/ip_d-brille_report_interview.shtml

2. Januar 2016


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