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INTERVIEW/047: Jetzt schreiben, wofür? - alte, neue und offene Fragen ...    Rolf Becker im Gespräch (SB)


Interview mit Rolf Becker am 18.02.2016 in Hamburg

Vor Ort sein!


Georg Weerth, Jahrgang 1822, den Friedrich Engels als den "ersten und bedeutendsten proletarischen Dichter Deutschlands" bezeichnete, war den meisten Deutschen lange unbekannt. Seine Schaffensphase war kurz und ergiebig. In nur sechs Jahren schuf er neben über 140 Gedichten, in denen er auch die Folgen der Industrialisierung für die Arbeiter in England beschrieb und anprangerte, zahlreiche theoretische Schriften zur politischen Ökonomie sowie in Skizzen und Romanfragmenten etliche Prosa. Weerth war neben Marx und Engels Mitbegründer der Neuen Rheinischen Zeitung und deren Feuilletonchef. Nach dem Scheitern der 48er Revolution zog er sich vom Schreiben und von der Politik zurück und begründete ein Handelshaus in Lateinamerika. 100 Jahre lang lagen seine Schriften auf dem Dachboden seines Elternhauses in Detmold, bis ihn die Literaturwissenschaft zuerst in Ost-, dann in Westdeutschland wiederentdeckte.

Am Abend des 18. Februar 2016 brachte der Schauspieler Rolf Becker diesen engagierten Denker und Dichter des Vormärz noch einmal in sehr lebendige Erinnerung. Im Polittbüro in Hamburg las er vor fast vollem Haus aus Georg Weerths Werken.

Rolf Becker selbst ist seit Jahrzehnten in zahlreichen Projekten politisch engagiert. So trat er Anfang 2000 für einen gerechten Prozeß für Slobodan Milosevic vor dem internationalen Gerichtshof in Den Haag an, war ehrenamtlicher Betreuer des einstigen RAF-Inhaftierten Christian Klar, setzt sich bis heute für die Freilassung Mumia Abu Jamals ein und unterstützt den Kampf der Kurden gegen Vertreibung und Vernichtung. Nicht zuletzt beschäftigt ihn auch die aktuelle Situation von Millionen von Menschen, die aus durch den Einfluß der Westmächte mitverursachten Bürgerkriegen, aus zerrütteten und zerbombten Ländern zu fliehen versuchen.

Im Anschluß an die Lesung nahm sich Rolf Becker Zeit für ein Gespräch mit dem Schattenblick um politische und soziale Fragen, die seit Weerths Zeiten gleichermaßen aktuell wie ungelöst sind.


Rolf Becker im Porträt, nachdenklich - Foto: © 2016 by Schattenblick

Rolf Becker
Foto: © 2016 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Es schien, als habe die Lesung Sie am Ende auch emotional sehr mitgenommen. Stimmt dieser Eindruck?

Rolf Becker (RB): Ja, es nimmt mich auch inhaltlich mit. Dieses Wissen, was da begraben liegt, Georg Weerth mit seiner Voraussage, daß der Bruch zwischen dem Norden und dem Süden in der Havanna stattfindet, also in Kuba, 1855 geschrieben, und ein Jahrhundert später tritt ein, was er gesagt hat. Das ist eine Weitsichtigkeit von den marxistischen Theoretikern, die für uns kaum vorstellbar ist. Wir wissen nicht einmal die nächsten Etappen einzuschätzen, die uns bevorstehen. Und diese Voraussicht ist so wenig aufgegriffen worden, weder von der Arbeiterbewegung noch von den Schreibenden der deutschen oder auch der internationalen Literatur. Georg Weerth ist einfach lange Zeit nicht zur Kenntnis genommen und zurückgedrängt worden auf die Position eines etwas abseitigen Schriftstellers aus Detmold.

SB: Wie sind Sie auf Georg Weerth gekommen?

RB: Zusammen mit Klaus Bremer, dem Schweizer Poeten und deutschen Dramaturgen, mit dem ich jahrzehntelang zusammengearbeitet habe. Ich weiß nicht mehr, wodurch wir genau darauf gekommen sind. Ich nehme an, wir haben, als wir uns mit Heinrich Heine beschäftigten, die Briefe von Weerth an Heine gefunden, und haben dann gefragt, wer ist denn das? Wir hatten dann vor, ein Lesebuch "Georg Weerth" herauszubringen. Das ist aber nicht zustande gekommen, weil Klaus Bremer an Parkinson erkrankte und 1996 starb. Das Material ist einfach liegen geblieben, bis ein Anstoß von Arno Klönne kam, dem Historiker aus Paderborn, der mich im vorigen Jahr, wenige Monate vor seinem Tod, anrief und fragte: Kannst du im Dezember bei uns in Paderborn - ich lese seit 10 Jahren jedes Jahr dort vor - nicht den nächsten Abend über Georg Weerth machen? So habe ich dann aus den Materialien zu dem Lesebuch und einem nochmaligen Gang durch das Werk von Weerth - ein erstaunlich umfangreiches Werk, obwohl er mit 34 gestorben ist - diese Textfolge zusammengestellt.

SB: Von Georg Weerth stammen die Zeilen, auch die haben Sie vorgelesen: "Jetzt schreiben! Wofür? Wenn die Weltgeschichte den Leuten die Hälse bricht, da ist die Feder überflüssig." In diesem Zusammenhang gefragt: Wen können oder wollen Sie mit einer solchen Lesung erreichen, was bewirken?

RB: Schwer zu sagen. Auf die Ankündigung der Veranstaltung haben sofort eine Reihe von Organisationen hier in Hamburg reagiert - die stehen auch auf dem Einladungszettel - als sie hörten, daß ich im Polittbüro vorlesen werde. Es waren heute Abend sogar Gewerkschaftskollegen aus Mecklenburg-Vorpommern da, aber alles Leute, die schon ein Vorwissen haben, die Reste der Interessierten aus der Arbeiterbewegung, die mit dem Namen Georg Weerth irgendetwas verbinden. Gehofft hatte ich, daß vielleicht ein größerer Teil hier aus St. Georg kommen würde, auch aus dem gewerkschaftlichen Bereich. Die Hoffnung hat sich leider nicht erfüllt.

Wir sind ja mit unserem Anliegen, die Arbeiterbewegung zu reorganisieren, wenn wir ehrlich sind, gescheitert. Wir haben nicht umsetzen können, was wir uns vorgenommen hatten. Ich bin Jahrgang 1935, habe die Kriegs- und Nachkriegsgeschichte in Erinnerung und habe eigentlich mein Leben darauf ausgerichtet zu verhindern, daß sich wiederholen kann, was ich als Kind miterlebt habe, aber damals noch nicht reflektieren konnte. Entsprechend habe ich dann Kontakte gesucht und gefunden, teilweise im Bereich der Literatur, aber zum größeren Teil im Bereich der Arbeiterbewegung oder den aufgeschlossenen Teilen der gewerkschaftlichen Bewegung. Unser Anliegen war es, der Arbeiterbewegung wieder eine Stimme zu geben, sie wieder zum Sprechen zu bringen.

SB: Engels nannte Weerth den ersten und bedeutendsten proletarischen Dichter Deutschlands, obwohl er selber kein Proletarier im engeren Sinne war. Ist die Distanz, diese Vermitteltheit, und das träfe jetzt vielleicht auch für Ihr eigenes politisches Engagement zu, ein Nachteil oder vielleicht eine besondere Chance, für die Benachteiligten dieser Welt einzutreten?

RB: Weerth kommt, anders als Engels, nicht aus einer begüterten Familie, sondern aus einem Pastorenhaus, das heißt, er kommt von einem moralischen Engagement her, was ihn dann auch vom Christentum entfernt, also von seinem Vater gelöst hat. Das ist eigentlich nicht mehr als das, was Kinder gerne tun, sich erst einmal lösen von dem, was von den Vätern vorgegeben wird. Aber Weerth kommt von unten. Er fängt wirklich als Handelslehrling an, ganz jämmerlich ....

SB: ... aber er ist kein Proletarier ...

SB: Nein, er kommt aus dem Angestelltenbereich, aber da von ganz unten und durchstreift dann mit Engels - wobei wissenschaftlich noch nicht geklärt ist, wodurch der Kontakt entstand, ob der schon in Wuppertal-Elberfeld existierte oder ob sie sich durch Zufall begegnet sind - die Elendsviertel Manchesters und sie untersuchen die Lage der arbeitenden Klasse in England, wie Engels das nennt. Es gibt ähnliche, ergänzende Schriften von Weerth. Man müßte eigentlich "Die Lage der arbeitenden Klasse in England" von Engels zusammen herausgeben mit den Schriften von Weerth, weil diese Texte in gemeinsamer Arbeit und aus gemeinsamen Untersuchungen und konkreten Erfahrungen hervorgegangen sind.


Rolf Becker im Gespräch - Foto: © 2016 by Schattenblick

Foto: © 2016 by Schattenblick

SB: Sie sind ja nun auch selber über Jahrzehnte in den verschiedensten Krisengebieten weltweit unterwegs gewesen. Wie sehen Sie Ihre eigene Rolle des Eintretens für Benachteiligte oder emanzipatorische Bewegungen?

RB: Ich habe es schon angedeutet, der Ursprung liegt in den Erfahrungen der Kriegszeit. Ich bin Kind einer kleinbürgerlichen Familie, aufgewachsen auf dem Bauernhof meines Großvaters hier oben in Schleswig-Holstein, was man so eine Bauernklitsche nennt, 25 Hektar - meine Großmutter hat immer gesagt, zu wenig zu leben, zu viel zum Sterben - und der Hof ist dann auch kaputtgegangen, weil er die Industrialisierung nicht hat realisieren können, wie die Mehrzahl der Höfe auf unserem Dorf. Von den 28 Höfen, die es einmal gab, existieren heute noch drei, und die drei sind noch wieder abhängig von den Samenzuchtanstalten in Elmshorn. Entsprechend hat es einen Proletarisierungsschub gegeben, der das ganze Dorf ergriffen hat. Von daher habe ich noch Kontakt mit einigen der Bauernjungs, mit denen ich während der Nazizeit zur Volksschule gegangen bin. Ich selber wurde dann, meine Mutter hatte wenig Geld, nach Bremen in Pension gegeben und habe dann in den Ferien im Hafen gearbeitet, später dann mein Schauspielstudium als Bühnentechniker an den Münchner Kammerspielen verdient. Das heißt also, ich bin im engsten Kontakt aufgewachsen mit der Klasse, die kein Klassenbewußtsein hat oder noch nicht hat. Und daraus ist dann eben dieser Doppelgedanke entstanden, einerseits zu verhindern, was sich geschichtlich damals abgespielt hat und andererseits dieser Klasse, die sich ihrer Geschichte nicht mehr bewußt ist, zum Bewußtsein ihrer Geschichte zu verhelfen.

Und da fand ich einen Partner, den Klaus Bremer, aus katholischem Elternhaus, der schrittweise dahin gekommen ist zu sagen, Kommunismus und Christentum schließen einander nicht aus, sondern bedingen einander; auch ausgelöst durch die Kriegserfahrung. Das hat uns verbunden in einer Arbeit, die zunächst rein dramaturgisch angefangen hat, bessere Übersetzungen zu machen, der Dramaturgie in den Theatern auf die Sprünge zu helfen und ist dann schrittweise gekippt in die gemeinsame politische Arbeit, die sich dann auch in seinen Gedichten, soweit er sie noch schreiben konnte, niedergeschlagen hat. Ein bisher kaum bekannter Poet, ich möchte demnächst einmal mit einer Veranstaltung an ihn erinnern.


Rolf Becker im Halbprofil - Foto: © 2016 by Schattenblick

Foto: © 2016 by Schattenblick

SB: Georg Weerth hat, nachdem die Revolution von 1848 gescheitert war, sein politisches Engagement drangegeben und ist nach Südamerika gegangen, um sich ganz seinen Handelsgeschäften zu widmen.

Sehen sie in dieser Reaktion eine mögliche Parallele zu einigen Vertretern der Generation der 68er, die sich nach enttäuschten Hoffnungen auf eine Umwälzung der Gesellschaft von ihren politischen Positionen abgewendet und aus dem Scheitern eine bürgerliche Karriere legitimiert haben?

RB: Ich denke, das ist nur bedingt vergleichbar. Die Bewegung, in die Weerth gestellt war, vor, während und dann mit der gescheiterten 48er Revolution, war eine gigantische Bewegung, die die gesamte Bevölkerung nicht nur Deutschlands erfasst hat. Die Studentenbewegung ist, will ich mal sagen, der intellektuelle Versuch gewesen, eine Avantgarde zu schaffen, um den Sorgen, wohin sich diese Bundesrepublik entwickeln könnte, entgegenzutreten. Aber das ist von der Wucht, von dem elementaren Schub her, der das damalige Europa erfaßt hat, überhaupt nicht zu vergleichen. Davon sind wir weit entfernt. In Frankreich hat sich das angedeutet, da war das an der Schwelle, in Deutschland kam es mit Verzug zu den Septemberstreiks 1969 in den Stahlwerken, bei Klöckner in Bremen und Hoesch in Dortmund, auf den Werften, wo man gedacht hat, sie ziehen nach. Aber dann hat sich, vor allem seit den Aktionen der RAF, die Arbeiterbewegung von diesem Ansatz abgesetzt und sich zurückbewegt in Richtung der sozialdemokratischen Partei, weil solche Methoden von der Arbeiterschaft niemals aufgegriffen werden. Weerth zitiert ja Marx, den revolutionären Terrorismus, das meint aber nicht den Terrorismus individueller oder kleinerer Gruppierungen, sondern das meint den Terror, der aus seiner Sicht - ich möchte mich da zurückhalten - dann entsteht oder notwendig wird, wenn es zur Klassenauseinandersetzung kommt. Aber um 1848 - das waren Kräfte von einer Dynamik, die weit umgreifender war, die später auch die französische Commune hervorgebracht hat oder die Russische Revolution, die Kubanische Revolution, die Chinesische Revolution, das waren Weltbewegungen. Da spielt die 68er Zeit eine verschwindend kleine Rolle.

SB: Sie haben zu Beginn der Lesung erwähnt, daß afghanische und syrische Flüchtlinge im Publikum waren. Möglicherweise eine etwas unzulässige Frage, ich stelle sie trotzdem: Was wäre Ihr Rat zum Thema Flüchtlingsfrage, Flüchtlingskrise an die Politik?

RB: Das ist sehr, sehr schwer. Ich erinnere mich gut an die Zeit ab 1944, als die Flüchtlinge kamen. Wir hatten auf unserem Hof die Einquartierung einer ostpreußischen Familie. Alles, was sie noch hatten, war der Pferdewagen, immerhin mit zwei sehr kräftigen Pferden, und dann die vielköpfige Familie. Deutschland lag damals in Trümmern, die Fabrikation war unten, man war froh, wenn zeitweilig Licht brannte, es fehlte an Nahrungsmitteln, es fehlte an fast allem - aber es war möglich, um die zehn Millionen Flüchtlinge aufzunehmen. Heute sagen wir, wir sind mit einer Million an der äußersten Grenze. Das stimmt einfach nicht, wir können weit mehr. Die Appelle, die von rechts außen kommen, von PEGIDA, AfD und ähnlichen Gruppierungen, richten sich an das Wahren und die Verteidigung des kleinbürgerlichen Besitzstandes. Dabei brauchten wir nur einen Bruchteil unserer Besitzstände zu opfern, um weitere Millionen aufzunehmen. Das gilt auch europaweit. Daß sich die Oststaaten sperren, in denen die Menschen meist nur zu einem Bruchteil der Löhne in Deutschland, Frankreich, den Niederlanden oder England arbeiten, macht nachvollziehbar, daß sie mit Grenzzäunen drohen. Aber wenn wir öffnen, bräuchten sie keine Grenzzäune. Sie ziehen sie ja nur hoch, weil sie fürchten, die Flüchtlingsschwemme bleibt bei ihnen hängen.


Rolf Becker beim Interview in seiner Garderobe - Foto: © 2016 by Schattenblick

Rolf Becker im Gespräch mit dem Schattenblick
Foto: © 2016 by Schattenblick

Ich nehme mal ein konkretes Beispiel: Im letzten September waren wir mit unserer Solidaritätsgruppe, wie jedes Jahr, in Griechenland. Da waren wir häufig unten am Hafen von Piräus, wo die Fähren von Lesbos und anderen Inseln ankommen, mal mit 500, mal mit 2500 Flüchtenden und mehr. Versorgt werden sie von den Ärmsten der Armen, die selber kaum existieren können, Leute aus den Arbeitslosenzentren, die Selbstversorgungsstrukturen aufbauen, um ihre Kinder noch zu ernähren, damit sie nicht hungernd zum Unterricht gehen. Diese Frauen sind unten am Hafen und versorgen die Flüchtlinge. Die Griechen sind durch die Sparauflagen zu einem extrem notleidenden Volk geworden mit einer Vielzahl der Flüchtlinge, die wir hier haben, und es geht ohne AfD und ohne PEGIDA. Wir können viel lernen und wir können umdenken. Das wären, wenn ich mit Frau Merkel reden könnte, Stichworte, die ich gern weitergeben würde.

Genauso wie jetzt die Milliardenunterstützung für Erdogan, der die Flüchtlinge halten soll und in der Nähe der syrischen Grenzen in grauenhafte Lager sperrt. Ich war vor drei Wochen in der eingeschlossenen Altstadt von Diyarbakir, Sur, bis an die Frontlinie, wo die Schießereien begannen, und wo die Sonderpolizei uns nicht von der Seite wich. Weil mir das lästig war, habe ich zu einem gesagt, 'ich brauche keinen Schutz, die tun mir nichts' und da hat er gesagt, 'aber ich brauche Schutz, deshalb bleibe ich neben Ihnen'. Unter extremen Bedingungen passiert auch was in den Köpfen.

Daß es keinen Einspruch gibt von seiten Merkels, daß sie nicht sagt, was ihr da in Kurdistan treibt, was ihr in Syrien mit eurer Unterstützung des IS macht, um die Kurden unter Kontrolle zu kriegen, das geht nicht. Da wäre Einspruch möglich und der würde auch gehört. Leider schweigt die Mehrzahl der Medien bei uns zu diesen Sachverhalten. Um Gottes Willen die Politik der Merkel nicht gefährden, erstens, damit sie nicht stürzt, und zweitens, damit die Flüchtlinge in der Türkei gehalten werden. Vernünftig wäre das Gegenteil: Dafür eintreten, daß die Kriege aufhören! Gestoppt werden müssen die Saudis, gestoppt werden muß Erdogan. Beide versuchen, ihre Machtbereiche im Nahen Osten auszuweiten. Da müssten die europäischen Regierungen deutlich gegenhalten. Mich erschüttert, was da zur Zeit passiert.

SB: Ist die ganz archaische Angst des Menschen, selber nachher Hunger zu leiden, eben weil man teilen soll, nicht irgendwo berechtigt?

RB: Was die Bevölkerung signalisiert hat, als die Flüchtlingsströme kamen, hat doch kein Mensch für möglich gehalten. Hier am Hauptbahnhof kamen pro Abend mal 500, mal 2000 an - das Schauspielhaus hatte die Türen offen, Kampnagel hatte sie offen, die Diakonie hatte sie offen und es waren, weiß der Kuckuck, woher die kamen, Menschen in großer Menge da, unorganisiert, und es lief alles. Die Bevölkerung hat gezeigt, nicht nur hier in Hamburg, sondern in vielen Städten Deutschlands, wozu sie in der Lage und bereit ist. Ich kenne hier in St. Georg eine ganze Reihe Familien - das liegt nahe, weil wir eben dicht am Hauptbahnhof wohnen -, die Flüchtlinge aufgenommen haben, zwei und mehr, eine Wohngemeinschaft hat sogar bis zu 15 Flüchtlinge pro Nacht untergebracht. Es ging eine ganze Menge. Auch die Kirche hat mitgespielt. Das müßte gestärkt werden. Anfangs hat die Merkel das noch gemacht. Dann hat sie gemerkt, daß sie sich politisch selbst gefährdet, ist bedrängt worden und hat sich zurücknehmen müssen. Dieser Impuls hätte gestärkt werden müssen, auch als Impuls gegen PEGIDA, gegen AfD und erweitert werden müssen: Macht Schluß mit den Kriegen und damit den wirklichen Fluchtursachen.

SB: Aber es gibt den Konflikt zwischen Regierungsinteressen und Bevölkerung.

RB: So ist es. Und das beschreibt ja auch Weerth, daß die Politik die Interessen vertritt, die von der Ökonomie vorgegeben werden. Das macht auch Olaf Scholz hier in Hamburg treu und brav, dabei ein bißchen sehr bürokratisch. Die Impulse aus der Bevölkerung, auch das Knurren, auch der Widerstand, all das wird viel zu wenig aufgegriffen. Konkretes Beispiel: Als die Lampedusa-Gruppe kam, das waren ja nur 300, hätte Scholz mühelos sagen können, Paragraph 23 und fertig. Nachdem er einmal nein gesagt hatte, konnte er später nicht wieder ja sagen, obwohl er sogar bedrängt wurde aus seiner eigenen Umgebung: Gehen Sie einmal in die St.-Pauli-Kirche, geben Sie den Flüchtlingen die Hand und äußern Sie Ihre Sorgen und Probleme, daß Sie fürchten, daß sich weitere Gruppen auf den Paragraphen berufen; aber nehmen Sie einmal konkret wahr, was sich abspielt. Was hat er gemacht? Irgendein Vertreter ist hingegangen, hat sich aber geweigert, mit den Flüchtlingen zu sprechen, sondern nur mit den Pastoren geredet.


Rolf Becker Porträt - Foto: © 2016 by Schattenblick

Bleibt engagiert: Rolf Becker
Foto: © 2016 by Schattenblick

Das Vor-Ort-Gehen ist eine unglaubliche Hilfe, vor allen Dingen hilft es, die falschen, zusammengemixten Vorstellungen zu korrigieren. Die kommen ja nicht nur von den Medien, sondern das liegt auch am eigenen Kopf, an der zufälligen Auswahl dessen, was man wahrnimmt. Wenn man vor Ort ist, dann dreht sich das um und man muß sich auseinandersetzen mit dem, was man gelesen hat, was man hört oder im Fernsehen sieht.

SB: Sie fahren selbst ja seit eh und je in alle möglichen Krisengebiete, um sich ein eigenes Bild vor Ort zu machen.

RB: Soweit ich das schaffe, mache ich das noch. Das härteste war der Jugoslawienkrieg.

SB: Und Vietnam, habe ich gelesen ...

RB: ... da bin ich aber nicht gewesen. Ich bin nur bis Laos gekommen und bis in die Nähe des Ho-Chi-Minh-Pfades. Ich hatte einen Motorradfahrer, der erklärt hat, ich fahre keinen Meter weiter, da unten in der Ebene wird geschossen und die schießen auf alles, was sich bewegt, wir fahren zurück. Ich hatte versucht, über die Air France reinzukommen, aber die hat nur noch raustransportiert. Ich habe gedacht, was hast du zu verlieren, mehr als festsetzen können sie dich nicht, tun werden sie dir mit Wahrscheinlichkeit nichts, sie werden dich zunächst für einen Amerikaner halten und vom Hocker fallen, wenn du mit einem deutschen Pass kommst - aber es ging nicht. Aber ich habe am 1. Mai das Takeover mitbekommen in Form der geflohenen amerikanischen Piloten und mit einem amerikanischen Offizier gesprochen, der heulend in der Maschine saß. Er hat gesagt, wenn Sie wüßten, wie viele meiner Kameraden tot oder Krüppel sind - wofür das alles? Da habe ich gefragt, was wäre denn die Alternative gewesen und meinte, den Krieg nicht geführt zu haben. Aber er hat gesagt: Warum haben wir die Atombomben, die wir haben, nicht eingesetzt. Also auf der einen Seite weinen über das Erlittene und auf der anderen Seite nicht wissen, warum.

SB: Herr Becker, wir bedanken uns ganz herzlich für das Gespräch.



Einen Bericht zur Lesung finden Sie im Schattenblick unter:
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BERICHT/040: Jetzt schreiben, wofür? - Rolf Becker liest Georg Weerth (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/d-brille/report/dbrb0040.html


28. Februar 2016


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