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INTERVIEW/069: Zukunft, Literatur, Gesellschaft - neue Elite, Sachverstand ...    Jörg Sundermeier im Gespräch (SB)


Zum Lesen braucht der Mensch Bücher

Interview am 20. Mai 2016 im Brecht-Haus in Berlin-Mitte


Jörg Sundermeier ist Journalist und Verleger des Verbrecher Verlages. Im Rahmen der zweiten Schriftstellertagung "Richtige Literatur im Falschen" präsentierte er die Dokumentation des ersten Treffens namhafter Autorinnen und Autoren, auf der im April 2015 über "Schriftsteller - Kapitalismus - Kritik" debattiert wurde. Am Rande der Buchpremiere beantwortete Jörg Sundermeier dem Schattenblick einige Fragen zu seinem Verlagsprojekt.


Im Gespräch - Foto: © 2016 by Schattenblick

Jörg Sundermeier
Foto: © 2016 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Herr Sundermeier, wie lange gibt es den Verbrecher Verlag schon und wie sind Sie auf den Namen gekommen?

Jörg Sundermeier (JS): Den Verbrecher Verlag gibt es seit 1995. Gegründet wurde er von zwei Studenten, die ursprünglich gar nicht vorhatten, einen Verlag zu machen. Von Interviews aus Autoren- und Autorinnen-Portraits wußten wir von Manuskripten und Werken, die sie gern veröffentlicht sehen wollten, nur daß sie aus verschiedenen Gründen - zu umfangreich, zu komplex und was auch immer - keinen Verlag dafür gewinnen konnten. Wir waren Fans dieser Leute, jung und unbedarft, gerade 24 Jahre alt, und haben uns gefragt, wie wir an die Schriftstücke herankommen. Daher kamen wir auf die Idee, uns einfach als Verlag auszugeben. Weil das ganze Unterfangen moralisch ein bißchen fragwürdig war, haben wir den Namen Verbrecher Verlag gewählt, um die Angelegenheit offen zu machen. Wer uns etwas schickt, hat selber schuld. Aus dieser Nummer sind wir dann nicht mehr herausgekommen.

SB: Wie umfangreich ist Ihr Sortiment?

JS: Wir haben 230 lieferbare Titel. In den letzten 20 Jahren sind insgesamt etwa 280 Bücher erschienen. Inzwischen sind wir ein professionell arbeitender unabhängiger Verlag.

SB: Publizieren Sie in der Hauptsache linke Literatur?

JS: Wir haben ein Selbstverständnis als linker Verlag, wobei wir bei Belletristik und Kunst nicht vorher einen Gesinnungspaß verlangen. Natürlich schließen sich rassistische, antisemitische, sexistische et cetera Sachen von selbst aus. Aber man muß uns gegenüber nicht unbedingt erklären, welche Partei man wählt oder welcher wie auch immer gearteten linken literaturpolitischen Strömung man angehört. Bei Giwi Margwelaschwili beispielsweise, der hier in Berlin direkt nach dem Krieg unter den Sowjets völlig unschuldig zwei Jahre im Lager gesessen hat, gewissermaßen als Beifang mit seinem Vater, denen die Sowjets etwas vorgeworfen hatten, ist die Zuneigung zur Linken sehr gespalten. Trotzdem ist er ein großer humanistischer Denker, im Zweifelsfall Sozialdemokrat.

SB: "Yuropa", das Buch von Tanja Petrovic [1] zum Thema "Jugoslawisches Erbe und Zukunftsstrategien in postjugoslawischen Gesellschaften", ist nicht unbedingt ein Verkaufsrenner. Wieso verlegen sie Bücher, die ein Minderheiteninteresse bedienen?

JS: Man muß Bücher schon auf ihre ökonomische Grundlage hin kalkulieren. Anders als eine Stiftung sind wir leider nicht in der Lage, alles zu drucken und zu finanzieren, was uns interessiert, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, ob wir die Bücher überhaupt verkaufen können. Am Ende müssen die Leute, die darin involviert sind, und die Druckerei etc. bezahlt werden. Alles, was wir aus eigener Tasche finanzieren, müssen wir auch erwirtschaften können. Wenn wir die Hoffnung haben, daß ein Projekt dies schafft, was nicht immer, aber oft klappt, dann machen wir es. Ich halte das Buch von Tanja Petrovic für wesentlich, um zu verstehen, was nach Jugoslawien gekommen ist und was jetzt im Rahmen der Flüchtlingspolitik noch einmal in Jugoslawien passiert ist, wie die EU-Grenze - egal, ob EU-Land oder avisiertes Mitgliedsland - verschoben und Europa, unabhängig von der Geographie, plötzlich definiert wurde. All das erklärt Tanja Petrovic recht gut und letztendlich über Jugoslawien hinaus, so daß das Werk leider noch einmal über seine historische Bedeutung hinaus immense Aktualität gewonnen hat.

SB: Sie haben Erasmus Schöfers jüngstes Buch verlegt. Wie kam es dazu?

JS: Das Buch heißt "Kalendergeschichten des rheinischen Widerstandsforschers" in Anlehnung an "Schatzkästlein des rheinischen Hausfreunds". Schöfer hat sich, ohne daß es rheinische Geschichten sind, den Kalendergeschichtenstil zum Vorbild genommen, um bekanntere, auch unbekanntere und scheiternde Widerstandsgeschichten zu erzählen. Wir haben uns auf den Begriff Vademecum geeinigt. Das Buch ist ein gewisser Balsam für Leute, die sich fragen, ob man in dieser Zeit überhaupt noch irgend etwas machen kann. Schöfer sagt durch seine Kalendergeschichten, daß es schlimmere Zeiten gab, in denen Menschen Widerstand geleistet haben, man kann immer etwas machen.

SB: Erasmus Schöfer ist ein gutes Beispiel dafür, daß ein politisch engagierter Autor mit einer langen Lebensgeschichte, die er literarisch zu einem umfassenden Werk über die bundesrepublikanische Linke voller Erfahrungen aus erster Hand verarbeitet hat, im Literaturbetrieb relativ wenig bekannt sein kann. Wie erklären Sie sich das?

JS: Sein Buch "Die Kinder des Sisyfos" ist zu Schöfers eigener Überraschung über die politischen Grenzen hinweg sehr gelobt worden. So gab es eine wohlwollende Rezension in der FAZ und auch in anderen Zeitungen. Ich glaube nicht, daß es die Grenze zwischen bürgerlichen und nichtbürgerlichen Medien heute noch in dieser Schärfe gibt. Jedenfalls war, was man früher bürgerliche Medien genannt hat, des Lobes voll. Er ist trotzdem kein Bestsellerautor, aber das eine ist das eine und das andere ist das andere. Die Zeit wird entscheiden, was bleibt, und in diesem Sinne glaube ich, daß Erasmus gute Chancen hat.

SB: Als eher konservatives Medium hat die FAZ früher die Kolumne "Fremde Federn" geführt, in der auch linke Autorinnen und Autoren veröffentlicht wurden. Inzwischen ist die Linke im Kulturbetrieb derart marginalisiert, daß man sie fast schon unter Artenschutz stellen muß. Sehen sich bürgerliche Medien möglicherweise veranlaßt, diese Art von Gegenstimme retten zu müssen?

JS: Ich würde es sogar noch schärfer formulieren: Es gibt einige Artikel in der Welt, wo man denkt, das hätte sich eine linke Zeitung nicht zu veröffentlichen getraut, während man über manche Artikel in linken Zeitungen denkt, daß hätte sich die Welt nicht getraut, weil es so rechts ist. Schlußendlich würde ich sagen, was den Bereich Literatur oder vielleicht allgemeiner gesagt, den der Kunst angeht, daß die Grenzen doch relativ verschwimmen. Wenn die Kunst nicht zwingend gut ist, wenn sie nicht zwingt, wird sie auch nicht wahrgenommen.

SB: Sie haben heute abend die vom Verbrecher Verlag herausgegebene Dokumentation der Erstausgabe der Schriftstellertagung "Richtige Literatur im Falschen?" vorgestellt. Wird ein so aufwendiges Projekt subventioniert oder tragen Sie das verlegerische Risiko allein?

JS: Bei größeren Auflagen bin ich momentan sehr vorsichtig, denn es gibt auch unter progressiven Leserinnen und Lesern eine merkwürdige Haltung: Ich habe schon die Rezension gelesen oder Ich habe ohnehin zu viele Bücher zu Hause oder Das kostet aber viel und ich will doch zu einem Bruce Springsteen-Konzert gehen. Glücklicherweise gibt es eine große Unterstützung von seiten des Literaturforums im Brecht-Haus. So haben wir eine gemeinsame Schriftenreihe, in der auch dieser Band erscheint. Auch von der Rosa-Luxemburg-Stiftung erhalten wir Unterstützung. Ohne dies wäre es uns nicht möglich gewesen, es zu machen. Was wir kriegen, ist zwar nicht kostendeckend, aber es minimiert unser Risiko, was uns sehr freut.

SB: Haben Sie konkrete Pläne, neue Reihen auch in Hinsicht auf gesellschaftskritische Themen aufzulegen?

JS: Teilweise decken unsere Reihen das schon jetzt ab. Neuveröffentlichungen könnten also innerhalb dieser Reihe weitergeführt werden. Wir haben ein starkes literaturpolitisches Interesse. Neben der klassischen Gesellschaftskritik oder Gesellschaftsanalyse haben wir immer schon Mischformen gemacht und werden das auch weiter machen.

SB: Herr Sundermeier, vielen Dank für das Gespräch.


Fußnoten:

[1] http://www.schattenblick.de/infopool/buch/report/brin0004.html


Berichte und Interviews zur Tagung "Richtige Literatur im Falschen?" im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → DIE BRILLE → REPORT:

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