Schattenblick → INFOPOOL → DIE BRILLE → REPORT


INTERVIEW/100: Richtige Literatur im Falschen - Lyrik, Freiheit und Entwicklung ...    Monika Rinck im Gespräch (SB)



Gespräch am 8. Juni 2018 in Dortmund

Die Übersetzerin und Schriftstellerin Monika Rinck studierte Religionswissenschaft, Geschichte und vergleichende Literaturwissenschaft. Sie gehört dem PEN-Zentrum Deutschland, der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung sowie der Berliner Akademie der Künste an und hat diverse Lyrik-, Prosa- und Essaybände verfaßt. Zu den Auszeichnungen, mit denen ihre literarische Arbeit gewürdigt wurde, gehören unter anderem der Peter-Huchel-Preis, den sie 2012 für den Gedichtband "Honigprotokolle" erhielt, der Kleist-Preis 2015 für das Gesamtwerk und der Ernst-Jandl-Preis 2017. Zuletzt erschienen sind 2015 der Essay "Wir. Phänomene im Plural", die Streitschrift "Risiko und Idiotie", das Hörbuch "Lieder für die letzte Runde" und 2017 das Buch "Kritik der Motorkraft".

Auf der Tagung "Richtige Literatur im Falschen", die vom 7. bis 9. Juni auf der Zeche Zollern in Dortmund stattfand, war Monika Rinck an der Podiumsdiskussion zur Frage "Soziale Klassen und Literatur?", mit der das Treffen eröffnet wurde, beteiligt. Zu der Frage, ob Klasse, verstanden als Kampfbegriff, überhaupt literarisch produktiv gemacht werden könne, verwies sie auf die geringe gesellschaftliche Wahrnehmung einer Buchbranche, deren Umsatz ungefähr bei dem von Aldi Nord liege und deren in kleiner Auflage von 500 bis 1000 Exemplaren veröffentlichten Bücher kaum jemand wahrnehme. So gebe es zahlreiche Werke, die nirgendwo erscheinen, die nicht übersetzt werden, die wie Stein im Regal liegen, die hin und wieder vielleicht doch einmal aufscheinen und dann gleich wieder verschwinden. Sie beklagte die unglaubliche Tristesse des Nonbook-Sortiments und schlechte Verkäuflichkeit von Übersetzungen, sie berichtete von Verlegern, die nach einer Verlagsvertreterkonferenz einfach alles hinwürfen und einem Börsenverein des Deutschen Buchhandels, der die neuesten Zahlen eigentlich am liebsten geheimhalten würde.

Rinck attestierte der Fülle tatsächlich vorhandener Literatur zum einen eine verschwindend geringe Sichtbarkeit, zum anderen sei sie wie kaum eine andere Kulturtechnik Marktgesetzen unterworfen. Dabei gebe es immer wieder sehr beeindruckende sprachästhetische Formen der Beschreibung, wobei es sich interessanterweise häufig um Übersetzungen handle. Ihrer Ansicht nach müsse man auf diese Art der Generalisierung und unübersichtlichen Universalisierung der Situation eigentlich mit deren besonderer Förderung, also der besseren Bezahlung der Übersetzungsarbeit wie der Ermöglichung von Formen der literarisch-ästhetischen Identifikation, die nicht auf anderen Formen der Identität aufgebaut sind, antworten.

Daß der französische Autor Didier Eribon auf einer internationalen sozialphilosophischen Tagung zum Thema Emanzipation Ende Mai in Berlin über seine gerade in einem Altersheim gestorbene Mutter sprach und meinte, daß niemand den Alten und Kranken eine Stimme gebe, nahm Monika Rinck zum Anlaß, auf den jüngsten Lyrikband der Schriftstellerin Martina Hefter "Es könnte auch schön werden" hinzuweisen. Dieser genuin ästhetische Text sei allen Insassen von Pflegeheimen gewidmet und setze sich genau mit diesen Formen des Elends wie dem Aufbegehren gegen dieses Elend und der Überforderung der Pflegekräfte auseinander. Von diesem sehr engagierten und gleichzeitig höchst experimentellen Text wisse wahrscheinlich niemand und es erfahre auch kaum jemals etwas davon.

Ein nicht minder großes Lob erteilte sie dem Buch "Panikraum" von Hendrik Jackson, der sich darin den verschiedenen Formen von Panik innerhalb prekärer Verhältnisse widmet. Sie führte das jüngste Werk des Berliner Schriftstellers als Beispiel dafür an, daß nicht alle Leute quasi "klassenanalog" über ihre Zahnarzttochterkindheit schrieben, sondern über sehr viel mehr, und konstatierte ein gewisses Versagen des Feuilletons, das sich vor allem um die Buchpreise jeweils im Frühjahr und im Herbst kümmere. Immerhin könne man die 20 Besprechungen über ein bestimmtes Buch, das niemanden interessiert, miteinander vergleichen, so Rinck, die diese Art der Eindampfung des Gesprächs über Literatur als eine Form des Erteilens marktkonformer Zensuren kritisierte, mit vernehmlicher Ironie. Anstatt im Feuilleton über diese und andere Mißstände im Literaturbetrieb zu klagen gelte es, relevante Dinge nicht auszublenden, sondern einfach genauer hinzuschauen.


Bei der Eröffnungsdiskussion mit Mikro - Foto: © 2018 by Schattenblick

Monika Rinck
Foto: © 2018 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Frau Rinck, worum geht es bei dem Projekt Weiter Schreiben, von dem vorhin die Rede war?

Monika Rinck (MR): Das ist eine Initiative von Annika Reich und Annett Gröschner sowie verschiedenen anderen Autorinnen und Autoren, die quasi Paare gebildet haben zwischen deutschen AutorInnen und Neuankömmlingen. Es geht darum, dabei zu helfen zu verstehen, wie der hiesige Literaturbetrieb funktioniert, vielleicht auch an Übersetzungen zu arbeiten und eine größere Präsenz zu bekommen, vor allem aber das Weiterschreiben zu ermöglichen. Das ist ja sehr schwierig, wenn man in einem anderen Land ist, in dem eine andere Sprache gesprochen wird und wo möglicherweise auch der Literaturbetrieb selbst ganz anders funktioniert und man niemanden kennt.

SB: Heute wurde darüber gesprochen, daß es sicherlich sinnvoll wäre, auch geflüchteten Menschen eine Stimme zu geben. Gibt es dafür Ihres Wissens nach auch Beispiele in der deutschsprachigen Literatur?

MR: Jenny Erpenbeck hat 2015 den Roman "Gehen, ging, gegangen" zur Lage der afrikanischen Flüchtlinge in Berlin veröffentlicht. Was ich sehr interessant finde, ist allerdings türkische Literatur. So ist Hakan Gündays "Flucht" ein sehr interessanter, teilweise schwer zu verkraftender, aber auf jeden Fall guter Roman. Noch interessanter finde ich beispielsweise zusammen mit dem Autor Ramy al Asheq an Übersetzungen zu arbeiten, damit er dann irgendwann ein Konvolut von deutschen Übersetzungen seiner auf arabisch verfaßten Gedichte hat, die er möglicherweise Literaturzeitschriften anbieten kann und die von Schauspielerinnen, Schauspielern bzw. Autoren oder anderen Anwesenden auf der Lesung vorgetragen werden können. Unsere Verkehrssprache ist dabei englisch, wobei Ramy al Asheq immer weiter Deutsch lernt.

Es gab einmal ein Projekt, das durch die Berliner Akademie der Künste angeschoben worden ist, wo es darum ging, daß geflüchtete Menschen mit Hilfe von Autorinnen und Autoren über ihre Erfahrungen berichten und dies quasi literarisieren. Darüber können, wie ich glaube, jedoch Konflikte aufkommen, die nicht unbedingt zuträglich sind. Nichts gegen Konflikte, aber dies ist ja mehr als ein Lektorat, es entsteht dann quasi ein hybrider Text, aber jetzt nicht aus der Überzeugung heraus, daß man schon immer kollektive Schreibweisen erproben wollte, sondern es wirkt ein bißchen gezwungen, als wollte man aus der Not eine Tugend machen. Deshalb finde ich gut bei Weiter Schreiben, daß man mit Übersetzern und Übersetzerinnen zusammenarbeitet, Veranstaltungen und get together macht, wo man auch die anderen Konstellationen kennenlernen kann. Das ist nicht nur auf Berlin bezogen, obwohl da natürlich aus unterschiedlichen Gründen einige Leute leben, aber das soll dann aufs gesamte Bundesgebiet ausgeweitet werden.


Diverse Bücher im Angebot auf Tisch - Foto: © 2018 by Schattenblick

Klassenfragen und mehr - Büchertisch zur Tagung
Foto: © 2018 by Schattenblick

SB: Gedichte werden kaum rezipiert und Übersetzungen sind noch seltener. Während meiner Schulzeit habe ich noch Gedichte gelernt. Was ist mit der Lyrik geschehen, daß sie heute eine so geringe Rolle zu spielen scheint?

MR: Ich weiß es nicht genau, denn für mich war in der Pubertät die poetische Sprache eine Sprache, in der ich überwintern und überleben konnte. Das Interesse für Gedichte, das ich mit einigen Freundinnen teilte, hat uns einen ungeheueren Freiraum, auch einen sprachlichen Frei- und Erfahrungsraum erschaffen. Das war ja vor dem Internet, als es mit den Entdeckungen nicht ganz so einfach war, aber wenn man dann etwas in der Stadtbücherei fand, was einem gefallen hat, haben wir es abgeschrieben, auswendig gelernt und uns gegenseitig in Heftform geschenkt. Vielleicht hat der Deutschunterricht Angst vor der generellen Deutungsoffenheit poetischer Texte, daß quasi nach Abschluß einer Lehreinheit abgefragt und dann auch noch benotet wird, was an Deutungsergebnis zustande kommen muß. Das Gedicht als Kooperation zwischen Dichterin und Leserin fordert ja die Leserin dazu auf, sich selbst mit hineinzugeben und möglicherweise per Intuition oder Erfahrung bestimmte Leerstellen mit Sinn zu versehen. Wenn dann der Lehrer kommt und sagt, deine Intuition ist übrigens falsch und deine Erfahrung entspricht nicht der korrekten Deutung dieses Gedichtes, kann ich mir schon vorstellen, daß man während der Pubertät, wo die meisten Jugendlichen irgendwie verunsichert und von unterschiedlichsten Anfeindungen betroffen sind, einfach denkt, damit möchte ich mich nicht mehr beschäftigen, ich möchte keinen Lackmustest, der mir zeigt, daß meine Sensibilität im Unrecht ist. Vielleicht sollte man einfach aufhören, das zu benoten.

SB: Im deutschsprachigen Hip Hop gibt es Jugendliche, die reimen und darüber angefangen haben, sich für Literatur zu interessieren. Könnte so etwas eine zeitgemäße Ergänzung oder Alternative zur Dichtkunst sein oder halten Sie das generell für nicht seriös genug?

MR: Nein, ich finde, das kann man gerne machen. Man muß es sich natürlich im Einzelfall anschauen. Ich bin auch gar nicht unbedingt dafür, daß man jetzt noch mehr normative Regeln hier einträgt und sagt, das ist jetzt kein Gedicht mehr oder das ist noch Gedicht bzw. Slam Poetry ist keine Dichtung. Das würde ich gar nicht machen, ich möchte es mir im Einzelfall anschauen. Wir haben hier auch Beispiele für sexistischen, rassistischen, selbst antisemitischen Rap, und deswegen kann man nicht sagen, aber das ist ja mit allem so, daß die Form per se progressiv ist.


Am Tisch auf der Bühne mit Monika Rinck am Mikrofon - Foto: © 2018 by Schattenblick

Klaus Dörre, Raul Zelik, Monika Rinck, Juditha Balint (Moderation), Cornelia Koppetsch auf dem Eröffnungspodium
Foto: © 2018 by Schattenblick

SB: Wo liegen Ihrer Ansicht nach die Probleme der Übersetzbarkeit von Literatur?

MR: Ich würde auf jeden Fall sagen, übersetzen ist möglich, aber es kann sich kaum noch jemand leisten. Gerade wenn ich Gedichte übersetze, wäre es eigentlich ideal, wenn ich jemanden aus der Zielsprache mit jemandem aus der Ausgangssprache zusammen an einen Tisch setze. Das bedeutet allerdings, daß man sich die ohnehin schon geringen Honorare teilen muß, aber dann kann man das zweisprachlich Unbewußte möglicherweise zur Übereinstimmung bringen oder zumindest einander annähern. Beispielsweise wird im osteuropäischen Raum nach wie vor sehr gerne gereimt, da gibt es noch eine Reimsprache, die nicht so altbacken ist wie das teilweise in Deutschland der Fall ist. Es ist je nach nationaler oder Sprachtradition unterschiedlich, ob ich jetzt Paarreime zurückschreibe ins 19. Jahrhundert oder ob es eine größere Tradition gibt, die sozusagen eine moderne Reimsprache mitentwickelt hat. Bei all diesen Formen, wo das Sprachmaterial bzw. die Lautleite in den Vordergrund treten, muß ich dann eben Entscheidungen treffen.

SB: Hat gereimte Dichtung überhaupt noch einen aktuellen Stellenwert?

MR: Doch, doch, zum Beispiel hat Ann Cotten 2016 einen in Spenserstrophen gehaltenen Versepos in einem 200seitigen Band bei Suhrkamp herausgegeben. Oder man denke an Jan Wagners Gedichtband "Regentonnenvariationen", auch Nicolai Kobus hat einen interessanten spinozistischen Sonettenkranz abgeliefert. Es passiert doch immer wieder. Der Reim ist dann korrupt, denke ich, wenn er als Dekoration eines vorausgewußten Gedankens funktioniert, so daß ich aufgrund des Reimes irgend jemand sozusagen umbenennen muß, es aber die gleiche Person bleiben soll.

Wenn der Reim allerdings dazu führt, daß ich mich auf unbekanntes Terrain begeben muß, weil die Klangfarbe der Semantik eine weitere Drehung gibt, dann ist es etwas anderes. Wird es jedoch so eine Art von Büttenrede, wo ich mir vorstelle, jetzt sitzt da diese Person und denkt die ganze Zeit über einen Reim auf Finanzamt nach, dann muß es in diesem Bereich bleiben, anstatt daß es sich wegbewegt, weil es eben gar keinen Reim gibt. Ein landläufiges Verständnis sagt, Lyrik ist, wenn es sich reimt, und dann kann ich vielleicht eine gewisse Virtuosität erkennen, aber es gibt auch gereimte Prosa.

SB: Wie sind Ihre persönlichen Erfahrungen als Frau im Literaturbetrieb? Gibt es in diesem Bereich noch so etwas wie eine Dominanz von Männlichkeit oder patriarchale Strukturen?

MR: Es gibt Untersuchungen darüber, daß die Anzahl der besprochenen Bücher im deutschen Feuilleton weitaus mehr von Autoren stammt als von Autorinnen. Jetzt gerade gibt es beispielsweise am Deutschen Literaturinstitut zum ersten Mal seit seinem bundesdeutschem Bestehen mit Ulrike Draesner eine Autorin, die dort eine Professur bekommen hat. In Hildesheim sah es, glaube ich, ähnlich aus, daß dort eben das gesamte Lehrpersonal Professoren waren. Oft wird dann das weitere durch Gastdozentinnen abgedeckt, wie es vielerorts ist. Es ist wahrscheinlich kein Phänomen, das allein für den Literaturbetrieb steht. Schon seit meinem Studium kann man auf Podien deutlich sehen, daß sich Männer in ihren Ausführungen viel breiter machen, oder daß ein Gedanke, der im Vorfeld von einer Frau geäußert worden ist, danach leicht variiert von einem männlichen Podiumsteilnehmer für den eigenen ausgegeben und ausgewalzt wird. Deswegen habe ich bereits während der Universität angefangen, alles zwei- oder dreimal zu sagen, das am Anfang eine gewisse Überwindung gebraucht hat, was ich aber nach wie vor mache, wenn ich das Gefühl habe, daß es nötig ist.

SB: Frau Rinck, vielen Dank für das Gespräch.


Pflanzen und Gleisanlage auf Zeche Zollern - Foto: © 2018 by Schattenblick

Im Hinterhof der Industriekultur
Foto: © 2018 by Schattenblick


Berichte und Interviews zum Symposium "Richtige Literatur im Falschen 2018" im Schattenblick unter:
www.schattenblick.de → INFOPOOL → DIE BRILLE → REPORT

BERICHT/071: Richtige Literatur im Falschen - Besinnung auf den Klassenkampf ... (SB)
BERICHT/080: Richtige Literatur im Falschen - Industrieästhetik ... (SB)
BERICHT/081: Richtige Literatur im Falschen - ein hoher Preis bis heute ... (SB)
BERICHT/082: Richtige Literatur im Falschen - Flohhüpfen ... (SB)
INTERVIEW/090: Richtige Literatur im Falschen - getrennt arbeiten, vereint schlagen ...    Hans-Jürgen Urban im Gespräch (SB)
INTERVIEW/100: Richtige Literatur im Falschen - keine Partei und keine Versprechen ...    Udo Achten im Gespräch (SB)


13. August 2018


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang