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GRENZEN/025: Das Dublin-Verfahren (FES)


Friedrich-Ebert-Stiftung
Internationale Politikanalyse

Das Dublin-Verfahren
Im Spannungsfeld einer menschenwürdigen und solidarischen Verantwortung für Flüchtlinge in Europa

von Klaudia Dolk, Oktober 2011


- Dass das Dublin-System sein wesentliches Ziel - die Vermeidung von Sekundärwanderungen von Flüchtlingen - nicht erreichen konnte, ist systemimmanent. Flüchtlinge werden nicht als Subjekte, sondern lediglich als Objekte eines technischen, zwischenstaatlichen Zuständigkeitsverfahrens betrachtet. In der Konsequenz werden die Bedürfnisse von Flüchtlingen in Dublin-Verfahren kaum berücksichtigt.

- Die aktuelle Solidaritätskrise unter den Mitgliedstaaten ist eine Folge des der Dublin II-Verordnung zugrunde liegenden Verantwortungsprinzips, nach welchem diejenigen Mitgliedstaaten zuständig sind, in deren Gebiet Flüchtlinge unerlaubt über eine EU-Außengrenze einreisen.

- Bis zur Vollendung einer Harmonisierung der Schutzstandards für Flüchtlinge innerhalb der EU ist ein flexibler und punktueller Aussetzungsmechanismus von Überstellungen nach der Dublin II-Verordnung einzuführen, wie er von der EU-Kommission vorgeschlagen wurde. Dieser müsste allerdings durch verschiedene flankierende Maßnahmen ergänzt werden.


Inhalt

1. Einleitung

2. Die Dublin II-Verordnung

3. Defizite der Dublin II-Verordnung

4. Handlungsbedarf

5.      Lösungsansätze
5.1    Systemimmanente Lösungsansätze
5.1.1 Änderungsvorschläge der EU-Kommission
5.1.2 Aussetzung der Zuständigkeit wegen unerlaubter Einreise über eine EU-Außengrenze

5.2    Alternativen zum Dublin-System
5.2.1 Vorübergehende Aussetzung oder Abschaffung der Dublin II-Verordnung
5.2.2 Verteilung der Flüchtlinge nach Quoten.
5.2.3 Verteilung der Kosten für Asylsuchende nach Quoten
5.2.4 Relocation
5.2.5 Freizügigkeit für Flüchtlinge innerhalb der EU
5.2.6 Saldierung der Überstellungen
5.2.7 Menschenwürde und Verantwortungsprinzip

6.    Fazit
6.1 Zusammenfassende Schlussfolgerungen


*


1. Einleitung

Flüchtlinge, die von Verfolgung in ihrem Heimatstaat bedroht sind, sollen in der Europäischen Union (EU) Schutz erhalten. Ein Flüchtling[1], der das Gebiet der EU erreicht hat, darf sich allerdings nicht selbst den Staat für die Durchführung seines Asylverfahrens und seinen Aufenthalt aussuchen. Die Zuständigkeit des jeweiligen EU-Staates wird vielmehr in einer EU-Verordnung, der so genannten Dublin II-Verordnung, geregelt und in einem so genannten Dublin-Verfahren für jeden Flüchtling geprüft.

Das Dublin-Verfahren ist in den letzten Jahren zunehmend in die öffentliche Kritik geraten, seit in Berichten die prekäre Flüchtlingssituation in Griechenland dokumentiert und dennoch weiterhin die Überstellung von Flüchtlingen nach Griechenland vorgenommen wurde. Handlungsbedarf sahen die anderen Mitgliedstaaten nicht, denn sie waren ja nicht zuständig. Erst mittelbare und unmittelbare Interventionen von Gerichten in den europäischen Mitgliedstaaten führten zu nationalstaatlichen Abschiebungsstopps nach Griechenland.[2] Kürzlich verurteilte nun auch der Europäische Menschenrechtsgerichtshof (EGMR) in einer Grundsatzentscheidung (M.S.S.[3]) Griechenland wegen der menschenrechtswidrigen Haft-, Verfahrens- und Aufnahmebedingungen. Zudem wurde gleichzeitig Belgien verurteilt, weil es einen afghanischen Flüchtling in Kenntnis der griechischen Bedingungen im Dublin-Verfahren nach Griechenland abgeschoben hatte. Denn laut EGMR dürfen sich die Staaten durch die Zuständigkeitsverlagerung nach der Dublin II-Verordnung nicht ihrer Verantwortung entziehen, wenn bei einer Abschiebung Menschenrechtsverletzungen drohen. Diese Entscheidung erschüttert das so genannte Dublin-System in seinen Grundsätzen.

Das Bundesverfassungsgericht hat sich bislang einer Grundsatzentscheidung zur Dublin II-Verordnung enthalten und vielmehr in einem Beschluss vom 25.1.2011[4] erklärt, »dass mit der Überforderung des Asylsystems eines Mitgliedstaats der Europäischen Union verbundene transnationale Probleme vornehmlich auf der Ebene der Europäischen Union zu bewältigen sind«.

Und nicht nur aus Flüchtlingssicht ist das Dublin-System in die Krise geraten. Auch die Mitgliedstaaten an den südlichen EU-Außengrenzen fühlen sich angesichts erhöhter Zugangszahlen bei der Aufnahme von Flüchtlingen aus Nordafrika überfordert und fordern insoweit die Solidarität der anderen Mitgliedstaaten ein. Überlegungen zur Einführung vorübergehender Kontrollen an den EU-Binnengrenzen in »wahrhaft kritischen Situationen« - d.h. bei hohem Druck an den EU-Außengrenzen[5] - runden die immer offensichtlicher werdende Akzeptanzkrise des Dublin-Systems auch unter den Mitgliedstaaten ab.

Auf politischer Ebene konnte in Europa bis heute keine Einigung für eine Änderung der Dublin II-Verordnung erzielt werden; die Diskussion der EU-Kommission dauert seit Dezember 2008 ergebnislos an. Am 13.12.2011 steht die Diskussion der Dublin II-Verordnung beim Rat erneut auf der Tagesordnung.

Ist das Dublin-System also gescheitert? Wie ist mit der M.S.S.-Grundsatzentscheidung des EGMR umzugehen? Welche Lösungen könnte es geben, um sowohl dem Flüchtlingsschutz als auch der Solidarität unter den Mitgliedstaaten ausreichend Rechnung zu tragen?

Ziel der vorliegenden Studie ist die Darstellung einiger aktuell diskutierter Lösungsansätze, ohne diese jedoch bis ins letzte technische Detail verfolgen zu können. Der Fokus soll hier auf grundsätzlichen Fragen liegen: Lässt sich das derzeitige Dublin-System im Spannungsfeld zwischen einem menschenwürdigen Flüchtlingsschutz und einer solidarischen Verantwortungsteilung unter den Mitgliedstaaten weiterhin rechtfertigen oder müssen Alternativen entwickelt werden?


2. Die Dublin II-Verordnung

Nach der Dublin II-Verordnung[6] müssen die Mitgliedstaaten feststellen, welcher Staat für die Prüfung eines im Gebiet der Mitgliedstaaten gestellten Asylantrags zuständig ist. Hält sich der Flüchtling danach in einem unzuständigen Mitgliedstaat auf, kann der zuständige Staat um Aufnahme bzw. Wiederaufnahme des Flüchtlings ersucht werden. Erkennt der ersuchte Mitgliedstaat seine Zuständigkeit an, wird der Flüchtling innerhalb bestimmter Fristen in denselben überstellt.

Im Jahre 2009 wurden in Europa insgesamt 266.400 Asylanträge gestellt, wovon mehr als 46.000 Aufnahme- bzw. Wiederaufnahmeersuchen (rund 17 Prozent) an andere Mitgliedstaaten gerichtet wurden. Zu tatsächlichen Überstellungen kam es in circa einem Viertel dieser Dublin-Verfahren, d.nach einer Asylantragstellung wurden Dublin-Überstellungen in vier Prozent der Fälle tatsächlich durchgeführt. Deutschland hat im Jahr 2009 beispielsweise knapp 4000 Ersuche von anderen Mitgliedstaaten erhalten, wovon letztlich jedoch nur 1258 Flüchtlinge im Dublin-Verfahren nach Deutschland überstellt worden sind. Dagegen richtete Deutschland im Jahr 2009 an andere Mitgliedstaaten insgesamt 8695 Ersuche, wovon tatsächlich nur 2932 Flüchtlinge in andere Mitgliedstaaten überstellt wurden.[7] Im Ergebnis hat Deutschland somit aufgrund der Dublin II-Verordnung im Jahr 2009 insgesamt - bei einer solch bilanzierenden Betrachtung - 1674 Flüchtlinge an andere Mitgliedstaaten zuständigkeitshalber abgegeben. Eine ähnliche Bilanz weisen die Schweiz und die Niederlande für das Jahr 2009 auf; von dort wurden in Dublin-Verfahren 1709 bzw. 1135 Flüchtlinge in andere Mitgliedstaaten überstellt. Weitere vierstellige Zahlen finden sich in der Überstellungsbilanz ansonsten nur noch für Griechenland und Italien, allerdings umgekehrt. Italien hat im Jahr 2009 im Ergebnis 1759 Flüchtlinge in Dublin-Verfahren aufgenommen, Griechenland bei dieser bilanzierenden Betrachtungsweise 1194 Flüchtlinge.

Hintergrund für die Regelung der Dublin II-Verordnung war vor allem die Abschaffung der Kontrollen an den Binnengrenzen der EU. Mit dieser europaweiten Zuständigkeitsregelung sollten einerseits Wanderbewegungen der Flüchtlinge verhindert werden, die mehrfache Asylverfahren in verschiedenen Mitgliedstaaten zur Folge hätten (sog. asylum shopping). Andererseits sollten aber auch alle Flüchtlinge das Recht auf eine inhaltliche Prüfung ihrer Asylanträge bekommen und verhindert werden, dass sie zwischen den Mitgliedstaaten ohne Prüfung ihrer Anträge hin- und hergeschoben werden (sog. refugees in orbit). Nach den Erwägungsgründen der Dublin II-Verordnung soll die Bestimmung auf objektiven und für beide Seiten (Mitgliedstaat und Betroffener) gerechten Kriterien beruhen, um ein Gleichgewicht - auch im Geiste der Solidarität - zu erreichen.

Die Bestimmung der Zuständigkeit eines Mitgliedstaates für ein Asylverfahren folgt in der Dublin II-Verordnung Kriterien, die sich insbesondere nach dem »Prinzip der Verantwortung« richten: Diejenigen Staaten, die für die Einreise oder den Aufenthalt eines Flüchtlings in einem Mitgliedstaat verantwortlich sind, sollen auch für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig sein. Verantwortlich in diesem Sinne ist ein Staat vor allem dann, wenn der Flüchtling unerlaubt (ohne Visum) über seine EU-Außengrenze eingereist ist oder auch wegen der Erteilung eines Einreisevisums bzw. eines Aufenthaltstitels. Dieses Verantwortungsprinzip wird nur dann teilweise durchbrochen, wenn es gilt, die Kernfamilie - d.h. Eheleute oder Eltern und minderjährige Kinder - nicht zu trennen, sowie bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen und - in wenigen Ausnahmefällen - aus humanitären Gründen.[8]

Die Dublin II-Verordnung dient auch dem Ziel einer gemeinsamen EU-Asylpolitik einschließlich eines Gemeinsamen Europäischen Asylsystems.[9] Sie beruht auf der Annahme, dass Asylsuchende in allen Mitgliedstaaten vergleichbare (Mindest-)Aufnahmebedingungen vorfinden und dass über ihre Asylanträge unter vergleichbaren (Mindest-)Verfahrensgrundsätzen mit vergleichbaren Chancen auf eine Anerkennung entschieden wird. Hierfür sind verschiedene EU-Richtlinien erlassen worden.[10] Letztlich soll es also für Flüchtlinge unerheblich sein, in welchem EU-Staat ihr Asylverfahren durchgeführt wird.


3. Defizite der Dublin II-Verordnung

In der Praxis konnte die Prämisse vergleichbarer Mindeststandards innerhalb Europas bislang nicht realisiert werden. Ein Blick in die Statistiken von Eurostat zeigt, dass beispielsweise im Jahr 2010 europaweit in 25 Prozent der erstinstanzlichen Verfahren ein Schutzstatus gewährt wurde, die Schutzquoten der einzelnen Mitgliedstaaten jedoch erheblich divergieren: Die Chancen für eine Flüchtlingsanerkennung betrugen beispielsweise im Jahr 2010 statistisch gesehen in Norwegen knapp 20 Prozent, in Deutschland 17 Prozent, in den Niederlanden nur knapp fünf Prozent und in der Slowakei weniger als zwei Prozent.

Auch der EGMR wies in der M.S.S.-Grundsatzentscheidung[11] ausdrücklich auf die unterschiedlichen Schutzquoten innerhalb der Mitgliedstaaten hin. Unter diesen Umständen sei es verständlich, dass der afghanische Flüchtling im oben beschriebenen Verfahren angesichts der extrem niedrigen Schutzquote in Griechenland kein Vertrauen mehr in das dortige Verfahren hatte, und in einen anderen Mitgliedstaat weiterwandern wollte. Griechenland und Belgien wurden zudem wegen unzureichender Asylverfahren verurteilt, Griechenland zusätzlich noch aufgrund der gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Aufnahmebedingungen.

Da die Prämisse vergleichbarer Mindeststandards für Flüchtlinge also bislang nicht europaweit gewährleistet werden kann, ist es für einen Flüchtling nicht unerheblich, in welchem Mitgliedstaat sein Asylverfahren durchgeführt wird.

Auch die eingeschränkte Möglichkeit der Familienzusammenführung in Dublin-Verfahren entspricht nicht den Bedürfnissen vieler Flüchtlinge und führt deshalb oft zu Weiterwanderungen innerhalb Europas. Regelmäßig wünschen Flüchtlinge, bei Angehörigen, Freunden oder etwa früheren Nachbarn innerhalb der EU leben zu können, da die sozialen Netzwerke in derlei krisenhaften Ausnahmesituationen das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit in der Fremde vermitteln. Soziale Netzwerke haben auch den Vorteil einer schnelleren Integration in die Verhältnisse des fremden Landes. Die Dublin II-Verordnung schützt grundsätzlich allerdings nur die Einheit der Kernfamilie, wenn diese bereits im Herkunftsland bestanden hat. Unbeachtet bleibt allerdings, dass das Bild der Kernfamilie dem »westlichen« Familienbild entsprechen mag, es in vielen anderen Gesellschaften jedoch einen erheblich weiter gefassten Familienbegriff gibt, weshalb viele Flüchtlinge eine solche Beschränkung nicht nachvollziehen können. Und selbst die Einheit der Kernfamilie wird bei der Zuständigkeitsbestimmung nach der Dublin II-Verordnung nur eingeschränkt geschützt; eine Zusammenführung ist nur dann vorgesehen, wenn der in der EU bereits lebende Angehörige sich noch im Asylverfahren vor einer ersten Sachentscheidung befindet oder als Flüchtling anerkannt wurde.[12] Ansonsten ist nur eine verfahrensrechtlich komplizierte Zusammenführung aus humanitären Gründen in besonderen Ausnahmefällen möglich.[13]

Auch nach Abschluss des Asylverfahrens gilt die einmal getroffene Zuständigkeitsbestimmung selbst für anerkannte Flüchtlinge und subsidiär Schutzberechtigte fort, da diese keine mit Unionsbürgern vergleichbare Freizügigkeit genießen.[14] Eine einmal nach der Dublin II-Verordnung bestimmte Zuständigkeit führt somit regelmäßig zur dauerhaften Festlegung darüber, in welchem Mitgliedstaat ein Flüchtling lebt, und mitunter zu einer dauerhaften Trennung von in anderen Mitgliedstaaten lebenden Familienangehörigen. Auch anerkannte Flüchtlinge[15] wandern daher weiter, mitunter auch wegen der sehr unterschiedlichen Sozialsysteme in den Mitgliedstaaten: Anerkannte Flüchtlinge erhalten zwar dieselben Sozialleistungen wie die Staatsangehörigen des Mitgliedstaats, in dem sie anerkannt wurden, dies genügt in manchen Mitgliedstaaten jedoch nicht zur Sicherung des Existenzminimums. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass Flüchtlingen regelmäßig die sozialen Netzwerke und Familienverbände fehlen, die in Mitgliedstaaten mit geringen Sozialhilfesätzen bei der Sicherung des Existenzminimums Unterstützung bieten.[16]

Aus Sicht der südlichen Mitgliedstaaten wird die Zuständigkeitsverteilung nach der Dublin II-Verordnung als einseitig belastend empfunden. Daher fordern sie von den anderen Mitgliedstaaten mehr Solidarität bei der Aufnahme von Flüchtlingen. Mit diesen Forderungen wird letztlich der Kern der Dublin II-Verordnung - nämlich das den Zuständigkeitskriterien im Wesentlichen zugrunde liegende Prinzip der Verantwortung - als unsolidarisch kritisiert.

Der European Council on Refugees and Exiles (ECRE) bezeichnet das Dublin-System insgesamt als gescheitert.[17] Das Dublin-System sei ineffizient und teuer; mehr als die Hälfte der Dublin-Überstellungen würden nicht realisiert; nach wie vor würden Flüchtlinge Asylanträge in mehreren Mitgliedstaaten stellen; das Dublin-Verfahren führe auch zu einer erheblichen Verzögerung der Asylverfahren.


4. Handlungsbedarf

Dringender Handlungsbedarf besteht spätestens seit der M.S.S.-Grundsatzentscheidung des EGMR vom 21.1.2011: Bei drohenden Verletzungen von Art. 3 EMRK dürfen Dublin-Überstellungen nicht erfolgen. Ein vorläufiger Rechtsschutz und eine gründliche Prüfung drohender Verletzungen von Art. 3 EMRK müssen daher in jedem Fall ermöglicht werden, um einen irreparablen Schaden zu vermeiden. Auf eine Fiktion vergleichbarer Schutzstandards innerhalb der EU darf nicht zuständigkeitshalber pauschal verwiesen werden.[18]

Dringend zu klären sind ferner der Umgang mit Mitgliedstaaten, in welchen die europarechtlichen Mindeststandards nicht gewährt werden, sowie die Voraussetzungen für einen solidarischen, entlastenden Umgang mit Mitgliedstaaten, die von erhöhten Zugangszahlen von Flüchtlingen betroffen sind und hierdurch mitunter in eine Notsituation geraten.


5. Lösungsansätze

Trotz der oben dargestellten Kritik konnte bislang auf europäischer Ebene keine nachhaltige politische Lösung gefunden werden. Die bislang praktizierte freiwillige relocation von Flüchtlingen aus Malta sowie zeitlich begrenzte freiwillige Überstellungsstopps nach Griechenland führten zunächst zu einer leichten Entspannung in den dortigen Ländern. Ausreichend sind diese Mittel jedoch nicht, wie sich kürzlich etwa am Beispiel Italiens zeigte, welches eine vergleichbare Solidarität vergeblich von den anderen Mitgliedstaaten einforderte. Italien fühlte sich angesichts erhöhter Flüchtlingszahlen aus Nordafrika unverhältnismäßig belastet. Als die anderen Mitgliedstaaten ihre Solidarität verweigerten, stellten die italienischen Behörden Flüchtlingen kurzerhand Aufenthaltstitel »zur Weiterreise« in andere Mitgliedstaaten aus. Hierbei handelte es sich zweifellos um einen lediglich demonstrativen Akt, denn nach der Dublin II-Verordnung bleibt Italien für die Asylverfahren weiterhin zuständig und die Flüchtlinge können nach Italien zurücküberstellt werden. Ein solcher Konflikt kann und darf jedoch nicht auf dem Rücken der Flüchtlinge ausgetragen werden, weshalb eine für alle Beteiligten als gerecht empfundene Lösung gefunden werden muss.


5.1 Systemimmanente Lösungsansätze

5.1.1 Änderungsvorschläge der EU-Kommission

Die EU-Kommission hatte dem Europäischen Parlament und dem Rat drei Jahre nach Inkrafttreten der Dublin II-VO über deren Anwendung Bericht zu erstatten und gegebenenfalls erforderliche Änderungsvorschläge zu unterbreiten. Hierfür legte sie zunächst am 6.6.2007 einen Evaluierungsbericht[19] und am 8.12.2008 daraus resultierende Vorschläge zur Änderung der Dublin II-Verordnung vor.[20] Das Europäische Parlament begrüßte diese Änderungsvorschläge unter Vornahme weniger Änderungen im Mai 2009.[21]

Vorgeschlagen wird insbesondere eine neue Regelung für die Möglichkeit einer generellen Aussetzung von Überstellungen in einen Mitgliedstaat durch die EU-Kommission, wenn dieser Mitgliedstaat mit einer Notsituation konfrontiert wird, die seine Aufnahmekapazitäten, sein Asylsystem oder seine Infrastruktur außergewöhnlich schwer belasten.[22] Die EU-Kommission stellt das Vorliegen einer solchen Notsituation von sich aus oder auf Antrag eines Mitgliedstaats innerhalb eines Monats fest. Der Rat kann daraufhin innerhalb eines Monats die Entscheidung überprüfen und ggf. mit qualifizierter Mehrheit abändern. Im Falle einer Aussetzung wären nach der Dublin II-Verordnung diejenigen Mitgliedstaaten zuständig, in welchen die Flüchtlinge sich gerade aufhalten. Eine solche Aussetzung solle für einen Zeitraum von bis zu sechs Monaten mit Option auf Verlängerung möglich sein. Im Ergebnis würde die Aussetzung einen zeitlich befristeten europaweiten Überstellungsstopp bedeuten. Dieses Verfahren hätte den Vorteil einer einheitlichen und solidarischen Regelung aller Mitgliedstaaten gegenüber dem in Not geratenen Staat. Vor allem würde die Neuregelung eine Verbesserung für die Flüchtlinge bedeuten. Deutschland überstellt beispielsweise derzeit keine Flüchtlinge mehr nach Griechenland, es sind jedoch Fälle bekannt, in denen eine Überstellung in Mitgliedstaaten, die neben Griechenland noch zuständig sein könnten, versucht wird.

Derartige generelle, zeitlich befristete Aussetzungsmöglichkeiten haben den Vorteil, dass Flüchtlinge nicht in Mitgliedstaaten überstellt werden, in denen EU-Mindeststandards nicht gewährleistet werden können. Die EU-Kommission hat insoweit eine flexible und punktuelle Reaktionsmöglichkeit.

Die Asylsysteme der belasteten Mitgliedstaaten sind während des Aussetzungszeitraums teilweise entlastet, da aus anderen Mitgliedstaaten keine Flüchtlinge mehr überstellt werden. Die sonstigen Zuständigkeitskriterien bleiben jedoch in Kraft, d.die belasteten Mitgliedstaaten sind weiterhin für die Flüchtlinge zuständig, die sich in diesen Staaten bei Beginn einer solchen Aussetzung bereits aufhalten bzw. in diese Staaten auch während des Überstellungsstopps einreisen. Die belasteten Mitgliedstaaten haben nach dem Änderungsvorschlag zudem die Möglichkeit, finanzielle Solidarhilfen der EU im Rahmen der EG-Sofortmaßnahmen zur Behebung der Notsituation zu erhalten.

Überlastete Staaten können sich infolge dieser Aussetzungsmöglichkeiten ihrer Verpflichtung entziehen, rechtzeitig für Abhilfe zu sorgen, und dadurch die aktuelle Solidaritätskrise verschärfen. UNHCR schlägt daher ergänzende Änderungen vor, um die überlasteten Staaten zu zwingen, im Falle einer Aussetzung effektive und rasche Schritte zur Beseitigung der Mängel zu unternehmen.[23] Problematisch ist ferner, dass Flüchtlinge oder Flüchtlingsorganisationen sowie UNHCR kein entsprechendes Antragsrecht auf die Aussetzung von Überstellungen haben. Insoweit bleibt der Flüchtling weiterhin Objekt des Dublin-Verfahrens. Schließlich ist unsicher, in welchem Ausmaß und in welchen Fallkonstellationen die EU-Kommission tatsächlich von der Möglichkeit Gebrauch machen würde, Überstellungen in einen Mitgliedstaat auszusetzen. Wann eine außergewöhnliche Belastung vorliegt, wird in dem vorgeschlagenen neuen Art. 31 nicht definiert. In den Vorbemerkungen erläutert die Kommission allerdings, dass von solchen Aussetzungsverfahren auch in Fällen Gebrauch gemacht werden kann, in denen Flüchtlingen kein angemessenes Schutzniveau, insbesondere hinsichtlich Aufnahmebedingungen und Zugang zum Asylverfahren, gewährleistet wird.

Bisher konnte noch keine Zustimmung für den Vorschlag einer solchen Aussetzungsmöglichkeit im Rat gefunden werden. Die ungarische Ratspräsidentschaft wollte im ersten Halbjahr 2011 einen Kompromiss zwischen dem Europäischen Parlament und dem Rat finden, die vorgeschlagene Aussetzungsmöglichkeit sollte auf außergewöhnliche, besonders eilbedürftige Notsituationen und auf eine Höchstdauer von sechs Monaten beschränkt werden. Eine Aussetzungsmöglichkeit wegen unzureichender Schutzstandards sollte nach diesem Kompromissvorschlag nicht mehr in Betracht kommen. Die Entscheidung für die Aussetzung sollte ferner nicht allein bei der Kommission liegen, der Rat würde eine Beteiligungsmöglichkeit bekommen. Dieser Kompromissvorschlag, welcher im Rat während der ungarischen Ratspräsidentschaft ebenfalls keine Zustimmung finden konnte, hätte die Aussetzungsmöglichkeiten nach dem Vorschlag der EU-Kommission erheblich zulasten des Flüchtlingsschutzes reduziert.

Die EU-Kommission hat darüber hinaus zahlreiche weitere Änderungsvorschläge zur Dublin II-Verordnung gemacht. Insbesondere soll der Anwendungsbericht der Verordnung auf subsidiär Geschützte ausgedehnt und das Recht auf Einheit der Familie gestärkt werden. Es wird vorgeschlagen, dass eine Zusammenführung unbegleiteter Minderjähriger und abhängiger Familienangehöriger[24] zwingend vorgeschrieben wird. Eine erhebliche Reduzierung von Sekundärwanderungen der Flüchtlinge zu ihren sozialen Netzwerken ist jedoch auch anhand der Änderungsvorschläge der EU-Kommission zur Ausweitung des Rechts auf Einheit der Familie nicht zu erwarten, da dem Familienbegriff weiterhin nur die Kernfamilie zugrunde liegt und die sog. communities von Flüchtlingen weiterhin unberücksichtigt bleiben. Dies betrifft außerdem darüber hinausgehende Bedürfnisse der Flüchtlinge, etwa in einem Land zu leben, dessen Sprache sie bereits sprechen.

Gerade für deutsche Dublin-Verfahren würden die Änderungsvorschläge der EU-Kommission aber hinsichtlich des effektiven Rechtsschutzes für Flüchtlinge einen erheblichen Fortschritt bedeuten. Vorgeschlagen wird eine verbesserte Information der Flüchtlinge über laufende Dublin-Verfahren, Überstellungsbeschlüsse und vor allem die rechtzeitige Information für die Beantragung des gerichtlichen Rechtsschutzes. Damit würden die in Deutschland kritisierte sog. Zustellungspraxis und die Problematik des faktisch und rechtlich kaum möglichen gerichtlichen Rechtsschutzes in Dublin-Verfahren gelöst.[25]

Am 13.12.2011 steht eine neue Diskussion der Dublin II-Verordnung beim Rat auf der Tagesordnung.


5.1.2 Aussetzung der Zuständigkeit wegen unerlaubter Einreise über eine EU-Außengrenze

Angesichts erheblich divergierender Schutzstandards in den einzelnen Mitgliedstaaten schlägt ECRE vor, dass Art. 10 Abs. 1 Dublin II-Verordnung bis auf weiteres nicht mehr angewandt werden sollte.[26]

Nach Art. 10 Abs. 1 Dublin II-Verordnung ist ein EU-Staat für die Durchführung eines Asylverfahrens zuständig, wenn der Flüchtling unerlaubt über diesen Staat in die EU eingereist ist. Von dieser Zuständigkeitsregelung sind die Mitgliedstaaten an den EU-Außengrenzen besonders betroffen. Insbesondere die Flüchtlinge, die über das Mittelmeer in Griechenland, Malta und Italien unter Lebensgefahr mit oft seeuntauglichen kleinen Booten ankommen, fallen regelmäßig unter Art. 10 Abs. 1 Dublin II-Verordnung. Begünstigt werden daneben jedoch Mitgliedstaaten an EU-Außengrenzen, die ohnehin nur sehr geringe Zugangszahlen von Flüchtlingen haben.[27] Deren Privilegierung durch eine Aussetzung von Art. 10 Abs. 1 Dublin II-Verordnung würde nicht dem Gedanken der Solidarität unter den Mitgliedstaaten entsprechen. Insoweit wären die Änderungsvorschläge der EU-Kommission hinsichtlich eines Aussetzungsmechanismus besser geeignet, flexibel und punktuell im Falle einer besonderen Belastung einzelner Mitgliedstaaten mit deren vorübergehender Entlastung zu reagieren.

Flüchtlinge wandern nicht nur unmittelbar nach ihrer Ankunft und vor ihrer ersten Asylantragstellung innerhalb Europas in einen anderen Mitgliedstaat weiter, sondern oft auch während des laufenden Asylverfahrens oder nach dessen Beendigung. Für diese Flüchtlingsgruppe würden auch bei einer Aussetzung von Art. 10 Abs. 1 Dublin II-Verordnung nach einer Asylantragstellung weiterhin die Mitgliedstaaten an den Außengrenzen gemäß Art. 13 Dublin II-Verordnung zuständig bleiben, sofern keine anderen vorrangigen Zuständigkeitskriterien greifen. Diese Flüchtlingsgruppe würde also dennoch in einem Dublin-Verfahren in die zuständigen Mitgliedstaaten an den Außengrenzen zurückgeschickt werden.


5.2 Alternativen zum Dublin-System

5.2.1 Vorübergehende Aussetzung oder Abschaffung der Dublin II-Verordnung

Es gibt auch die Forderung nach einer vorübergehenden Aussetzung oder endgültigen Abschaffung des Dublin-Systems.[28] Sollte die Dublin II-Verordnung insgesamt solange ausgesetzt werden, bis in allen Mitgliedstaaten das Asylrecht harmonisiert oder zumindest vergleichbare Mindeststandards entsprechend des geltenden EU-Rechts realisiert sind? Oder sollte sie insgesamt außer Kraft gesetzt werden? Käme eine vorübergehende Aussetzung oder Abschaffung mit flankierenden rechtlichen Änderungen in Betracht?

Eine Aussetzung oder auch Abschaffung der Dublin II-Verordnung würde dazu führen, dass in die Europäische Union einreisende Flüchtlinge grundsätzlich die Möglichkeit hätten, den EU-Staat selbst auszuwählen, in dem sie ihren Asylantrag stellen möchten. Ein Flüchtling könnte entsprechend seiner Bedürfnisse in denjenigen EU-Staat weiterreisen, dessen Sprache er spricht oder in dem bereits Angehörige, Freunde oder frühere Nachbarn leben. Dies würde ihm nach den Aufregungen der Flucht[29] in der Fremde eine gewisse Sicherheit und Unterstützung bei der Integration geben.[30]

Es wäre jedoch eine Fiktion zu glauben, dass Flüchtlinge innerhalb der EU ungehindert in den Staat ihrer Wahl weiterreisen könnten. Trotz der Abschaffung von Personenkontrollen an den Binnengrenzen werden in der Praxis »fremdländisch« Aussehende - insbesondere nach der Überquerung einer EU-Binnengrenze - häufiger kontrolliert, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß. Ersuchen Flüchtlinge bei einer solchen Kontrolle nicht sogleich Asyl, droht ihnen eine Inhaftierung und Abschiebung in den Herkunftsstaat oder auch eine Zurückschiebung in den EU-Staat, aus welchem die Einreise erfolgt ist. Ohne die Stellung eines Asylantrags haben sie kein Aufenthaltsrecht. Sie wären dann gezwungen, sofort Asyl zu beantragen, obwohl sie noch nicht im Zielstaat ihrer Flucht angekommen sind.

Eine Aussetzung oder Abschaffung der Dublin II-Verordnung würde aber auch dazu führen, dass gut informierte Flüchtlinge bzw. jene, die eine effektive Schlepperorganisation gefunden haben, in demjenigen EU-Staat ihren Asylantrag stellen, in dem für sie gute Anerkennungschancen und Aufnahmebedingungen bestehen.[31] Dies würde ihrem Bedürfnis nach Schutz entsprechen. Dieser als »pull-Faktor« bezeichnete Aspekt sollte in Form einer gerechten und objektiven Zuständigkeitsbestimmung durch das Dublin-System allerdings gerade vermieden werden. Würde die Dublin II-Verordnung ohne flankierende rechtliche Änderungen ausgesetzt oder abgeschafft, würden auch das Prinzip des »one-chance-only« und die Regelung zur Vermeidung von »refugees in orbit« obsolet. Dies wäre weder im Interesse der Mitgliedstaaten noch im Interesse der Flüchtlinge.

Wenn einem EU-Staat die Zugangszahl neuer Asylsuchender zu hoch erscheint, könnte er zur Absenkung dieser Zahl ferner die Standards herabsetzen, Kontrollen bei der Einreise an den Binnengrenzen intensivieren und Kontrollen bei der Ausreise reduzieren. Dies wäre zwar kein solidarisches Verhalten, es erscheint angesichts des aktuell zu beobachtenden Konfliktverhaltens einzelner EU-Staaten allerdings nicht ausgeschlossen.[32]

Im Ergebnis würde eine reine Aussetzung oder Abschaffung der Dublin II-Verordnung also weder für Flüchtlinge noch für die EU-Staaten zu einer fairen Aufnahme bzw. Verteilung von Flüchtlingen innerhalb der EU führen. Ob eine Abschaffung oder Aussetzung der Verordnung angesichts der aktuellen Problembereiche hingegen eine Verbesserung für die Flüchtlinge bedeuten würde, kann durchaus diskutiert werden. In jedem Fall würde dies jedoch nicht die Solidarität und Harmonie unter den EU-Staaten stärken und voraussichtlich zu einer erheblichen Verschärfung der aktuellen Asylkrise führen- zumindest solange Flüchtlinge in den EU-Staaten als Belastung und Kostenfaktor gesehen werden.


5.2.2 Verteilung der Flüchtlinge nach Quoten

Um dem Gedanken der Menschenwürde und der Solidarität bei der Verantwortungsteilung für Flüchtlinge in der EU Rechnung zu tragen, wird als Alternative zum Dublin-System die Verteilung von Flüchtlingen innerhalb der EU nach Quoten diskutiert.[33]

In Deutschland werden beispielsweise Flüchtlinge nach dem Königsteiner Schlüssel[34] auf die einzelnen Bundesländer verteilt. Ist ein solches Modell auf die EU-Ebene übertragbar?[35]

Zunächst ist anzumerken, dass die Verteilung von Asylsuchenden innerhalb Deutschlands auf die Bundesländer nach dem sog. EASY-Verfahren sowohl vonseiten der Flüchtlinge als auch vonseiten der zuständigen Behörden umstritten ist. Bedürfnisse der Flüchtlinge werden, mit Ausnahme der Einheit der sog. Kernfamilie, nicht berücksichtigt. Immerhin genießen Flüchtlinge nach der Anerkennung unabhängig von einer Sicherung des Lebensunterhalts Freizügigkeit innerhalb der Bundesrepublik, so dass nach der Rechtskraft einer Anerkennung viele Flüchtlinge sogleich zu ihren Bezugspersonen innerhalb Deutschlands umziehen.

Unverhältnismäßig teuer und daher impraktikabel wäre es, wenn tatsächlich jeder einzelne Flüchtling im Rahmen eines EU-Zuweisungsverfahrens in einen anderen EU-Staat »verschickt« würde. Sinnvoller wäre, wenn der EU-Staat des aktuellen Aufenthalts bis zur Erfüllung der Landesquote für das Asylverfahren zuständig bliebe. Dies dürfte auch den Bedürfnissen der Flüchtlinge entsprechen, da sie häufig Gründe für die Antragstellung in einem bestimmten EU-Staat haben, jedenfalls sofern sie den Asylantrag nicht aus Furcht vor Inhaftierung und Abschiebung bei einer Personenkontrolle vor der Ankunft in ihrem persönlichen Zielstaat stellen mussten. Sofern Flüchtlinge nicht in dem von ihnen gewünschten EU-Staat angekommen sind, könnten im Rahmen eines Zuweisungsverfahrens neben der Zusammenführung mit der Kernfamilie auch die Bedürfnisse von Flüchtlingen berücksichtigt werden.

Fraglich ist, ob die nach Erfüllung der Quote in einem EU-Staat ankommenden Flüchtlinge dann einem anderen EU-Staat zugewiesen werden sollten, dessen Quote noch nicht erfüllt ist. Dies wäre die Konsequenz einer solchen Verteilung nach Quoten innerhalb Europas. Sofern die maßgeblichen Kriterien zur Ermittlung von den EU-Staaten als objektiv und gerecht empfunden werden, würde ein solches Modell auch zu einer Lösung des derzeitigen Solidaritätskonflikts unter den EU-Staaten führen. Alle EU-Staaten wären somit zahlenmäßig gleich an der Verantwortungsteilung beteiligt.

Aus der Perspektive der Flüchtlinge sollten derartige unfreiwillige »Verschickungen« jedoch vermieden werden, da sie häufig mit Inhaftierungen und somit erheblichen Eingriffen in die Grundrechte einhergehen. Auch sollte Sekundärbewegungen entgegengesteuert werden, wenn Flüchtlinge in dem von ihnen gewählten EU-Staat verbleiben dürfen.

Eine vermittelnde Lösung wäre, im Rahmen des dargestellten Quotenmodells bei erfüllter Quote einen finanziellen Ausgleich der Überquote vorzusehen. Statt oder in Ergänzung zu einem solchen finanziellen Ausgleich wäre auch eine Aufnahme von Flüchtlingen im Rahmen einer relocation denkbar. Die Maßnahmen des finanziellen Ausgleichs nach Quoten und der relocation werden weiter unten noch dargestellt.


5.2.3 Verteilung der Kosten für Asylsuchende nach Quoten

Die finnische Ratspräsidentschaft brachte 2006 einen Vorschlag ein, wonach die EU einen wesentlichen Teil der Kosten tragen sollte. Insbesondere die Kosten der Aufnahme, des Aufenthalts, der Rückführung sowie Verwaltungskosten sollten dem Solidaritätsprinzip folgend übernommen werden. Der Vorschlag fand laut ECRE keine Zustimmung, da viele Details für die Umsetzung und Berechnung der tatsächlichen Kosten offen blieben.[36]

Vorstellbar wäre eine Pauschale für jeden Asylbewerber: Da die tatsächlichen Kosten in den einzelnen EU-Staaten angesichts unterschiedlicher Lebensstandards[37] jedoch erheblich divergieren, müsste für jeden EU-Staat eine gesonderte Pauschale ermittelt werden.

Ein solches Modell könnte als solidarische und gerechte Lösung von den EU-Staaten akzeptiert werden, sofern ein finanzieller Ausgleich ermittelt würde, der die tatsächlichen Kosten abdeckt. Würden Flüchtlinge darüber hinaus nicht nur als Kostenfaktor gelten und würde in Kombination mit dem Kostenausgleich von zwangsweisen Überstellungen der Flüchtlinge in andere EU-Staaten abgesehen, könnte dieses Instrument auch den Bedürfnissen der Flüchtlinge entsprechen. In der praktischen Umsetzung dürfte die Ermittlung einer Kostenpauschale für jeden EU-Bürger jedoch sehr problematisch sein.


5.2.4 Relocation

Derzeit läuft ein Pilotprojekt zur Umsiedlung von rund 250 Personen mit internationalem Schutzstatus aus Malta in zehn EU-Staaten.[38] Im Rahmen dieses Projekts ordnete auch das deutsche Bundesministerium des Innern (BMI) kürzlich die Aufnahme von 150 Personen an, die Malta seit Ende März 2011 über das Mittelmeer erreicht haben. Dies sei laut BMI ein »Zeichen der Solidarität mit dem aufgrund der aktuellen Lage in Libyen besonders belasteten Mitgliedstaat Malta«.[39]

Eine solche freiwillige Aufnahme hat den Vorteil, dass die aufnehmenden Staaten keine Einigung über Zeitpunkt, Anzahl und Kriterien für die Auswahl der aufzunehmenden Flüchtlinge erzielen müssen. Zudem ist auch keine Einigkeit über die Frage erforderlich, unter welchen Umständen eine besondere Belastung des EU-Staats vorliegt. Es führt jedoch zu einer uneinheitlichen Anwendung und somit zu keiner objektiven und gerechten Verfahrensweise der Mitgliedstaaten untereinander; bisher konnte es jedenfalls zu keiner ausreichenden Lösung der aktuellen Problembereiche des Dublin-Systems führen. So wird Malta im Rahmen des Pilotprojekts zwar etwas entlastet, die dort verbleibenden Flüchtlinge sind jedoch weiterhin den problematischen Standards eines überlasteten EU-Staats ausgeliefert. Berichten zufolge kam es auch bereits zu Problemen mit Flüchtlingen, die im Rahmen der relocation nach Polen geschickt werden sollten, obwohl sie dort nicht leben wollten. Auch hier sollten die Bedürfnisse der Flüchtlinge geachtet werden.[40]

Eine weitere Gefahr besteht darin, dass sich jene EU-Staaten, die durch das Instrument der relocation entlastet werden, ausschließlich auf die Unterstützung von außen verlassen und davon absehen, ihre Asylstandards und Aufnahmekapazitäten zu verbessern. Flankierend wäre daher die Anwendung von Zwangsmitteln sinnvoll, damit die überlasteten Staaten effektive und rasche Schritte zur Beseitigung der Mängel unternehmen.[41]


5.2.5 Freizügigkeit für Flüchtlinge innerhalb der EU

Keine eigenständige Lösung, aber eine flankierende Maßnahme zu den bereits dargestellten Lösungsmodellen wäre die Gewährung von Freizügigkeit für anerkannte Flüchtlinge innerhalb der EU.[42] Ähnlich etwa der Regelung innerhalb Deutschlands könnten Flüchtlinge nach einer Anerkennung zu ihren Familienangehörigen, zu ihren sozialen Netzwerken oder in denjenigen EUStaat umziehen, dessen Sprache sie beherrschen. Dies könnte einerseits ein Anreiz für die EU-Staaten sein, Asylverfahren zügiger durchzuführen, andererseits aber auch zu dem Hemmnis führen, anerkannte Flüchtlinge im eigenen Land zu integrieren.

Da aber selbst Unionsbürger innerhalb der EU keine uneingeschränkte Freizügigkeit genießen, ist fraglich, ob eine Besserstellung von anerkannten Flüchtlingen möglich wäre. Eine mit Unionsbürgern vergleichbare Freizügigkeit wäre jedoch schon eine wesentliche Verbesserung, z.B. mit Blick auf den Anwendungsbereich der Daueraufenthaltsrichtlinie[43]. Diese setzt für Drittstaatsangehörige mit Umzugswunsch in ein anderes EU-Land einen fünfjährigen rechtmäßigen Aufenthalt voraus, während Unionsbürger zur Arbeitssuche, zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit und als Familienangehörige jederzeit in andere EU-Staaten übersiedeln dürfen. Eine erneute Änderung der Daueraufenthaltsrichtlinie käme insofern ebenfalls in Betracht.

Die Gewährung von Freizügigkeit für anerkannte Flüchtlinge könnte einen Anreiz für die EU-Staaten schaffen, das Asylverfahren zügig durchzuführen. Dies wäre auch im Sinne der Flüchtlinge, sofern sie das Bedürfnis haben, in einem anderen EU-Staat zu leben.


5.2.6 Saldierung der Überstellungen

Flüchtlinge werden im Rahmen der Dublin II-Verordnung zwischen den einzelnen EU-Mitgliedstaaten hin- und hergeschickt. So sendet Deutschland Flüchtlinge in Dublin-Verfahren in andere zuständige Mitgliedstaaten, während aus anderen Mitgliedstaaten Flüchtlinge nach Deutschland überstellt werden. Freiwillige Ausreisen in den jeweils zuständigen Staat werden Flüchtlingen in der Regel nicht ermöglicht. Dublin-Überstellungen gehen - als so genannte »kontrollierte Überstellung« - grundsätzlich als Verwaltungsvollstreckung (d.h. einer Abschiebung bzw. Überstellung) mit staatlichen Zwangsmitteln einher (Haft, »Abholung« und »Begleitung« zum Flughafen), obwohl die Dublin II-Verordnung freiwillige Ausreisen der Flüchtlinge in den zuständigen Mitgliedstaat nicht ausschließt. Eine Alternative wäre hingegen eine Saldierung der Überstellungszahlen auf bilateraler Ebene oder auch systematisch auf EU-Ebene.

Die EU-Kommission hat eine solche »Annullierung« des Austauschs einer gleichen Zahl von Asylsuchenden auf bilateraler Ebene in ihrem Evaluierungsbericht 2007 erwogen, diesen Ansatz in den Änderungsvorschlägen zur Dublin II-Verordnung jedoch nicht weiterverfolgt. In dem Evaluierungsbericht stellte die EU-Kommission hierzu allerdings fest, dass eine solche Verrechnung bzw. Saldierung die Effizienz des Dublin-Systems steigern würde, da die Quote der überstellten Asylsuchenden im Vergleich zu den akzeptierten Überstellungen gering sei und die Effizienz des Systems ganz erheblich beeinträchtige. Eine Saldierung könnte den Arbeitsaufwand und die Überstellungskosten der Mitgliedstaaten demnach deutlich reduzieren. Außerdem könnten weitere Sekundärbewegungen nach den Überstellungen vermieden werden.

ECRE stimmt zwar mit der EU-Kommission überein, dass die Effizienz durch eine Saldierung tatsächlich gesteigert werden könnte, für den Flüchtlingsrat zeigt sich jedoch darin die Absurdität des nach seiner Ansicht gescheiterten Dublin-Systems. Wenn nämlich eine Effizienzsteigerung nur dadurch ermöglicht wird, dass die Mitgliedstaaten vereinbaren, gerade nicht entsprechend der festgestellten Zuständigkeit Überstellungen durchzuführen, wird das ganze System ad absurdum geführt.[44]

Begreift man das Dublin-System jedoch nicht vorrangig als »Überstellungsmaschinerie«, die bereits als gescheitert gilt, wenn nicht alle Flüchtlinge tatsächlich in den zuständigen Mitgliedstaat überstellt werden, sondern als eine vom Verbleib des einzelnen Flüchtlings unabhängige europäische Verteilungsregelung, wäre eine Saldierung durchaus systemimmanent. Abstrakt betrachtet käme es somit lediglich darauf an, ob in jedem Mitgliedstaat tatsächlich die Anzahl von Flüchtlingen verbleibt, für die dieser nach den Kriterien der Dublin II-Verordnung auch zuständig ist.

Ein solches Verfahren würde zur Vermeidung von Eingriffen in die Grundrechte bei den betroffenen Flüchtlingen führen und dürfte auch im Sinne der Flüchtlinge sein, denn sie werden in der Regel ihre Gründe für eine Weiterwanderung in den nach der Dublin II-Verordnung nicht-zuständigen Mitgliedstaat gehabt haben. Möglich wäre ein Zustimmungserfordernis der betroffenen Flüchtlinge bei einer Saldierung, um deren Bedürfnisse hinreichend zu berücksichtigen. Auch für die Mitgliedstaaten hätte dieses Verfahren Vorteile: Es könnten erhebliche Überstellungskosten eingespart werden (insbesondere Haft- und Reisekosten).

Eine Saldierung der Überstellungszahlen käme allerdings nur als flankierende Maßnahme zu den weiteren dargestellten Lösungsansätzen in Betracht, da sie für sich genommen zu keiner Änderung der Zuständigkeitsverteilung und somit zu keiner Lösung der aktuellen »Solidaritätskrise« unter den Mitgliedstaaten führen würde.


5.2.7 Menschenwürde und Verantwortungsprinzip

Der Grund, weshalb das Dublin-System sein wesentliches Ziel der Vermeidung von Sekundärwanderungen von Flüchtlingen nicht erreichen konnte, ist systemimmanent. Flüchtlinge werden nicht als Subjekte, sondern lediglich als Objekte eines technischen, zwischenstaatlichen Zuständigkeitsverfahrens betrachtet. Bezeichnend hierfür ist, dass etwa das deutsche Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) und auch die deutsche Verwaltungsrechtsprechung Flüchtlingen in Dublin-Verfahren zunächst gar keine subjektiven Rechte einräumen wollten.[45] In der Konsequenz werden die Bedürfnisse von Flüchtlingen in Dublin-Verfahren nicht berücksichtigt; mit Ausnahme des teilweisen Schutzes der Kernfamilie und Berücksichtigung des Kindeswohls. Insbesondere sind aber die Vorgaben des EGMR in der M.S.S.-Grundsatzentscheidung zu beachten, nach welchen auch in Dublin-Verfahren keine Überstellungen in Mitgliedstaaten erfolgen dürfen, wenn eine Verletzung von Art. 3 MRK droht. Um solche Verletzungen geltend machen zu können, müssen Flüchtlinge auch im Dublin-Verfahren als Subjekte anerkannt werden, die hinreichend informiert und angehört werden und ggf. effektive Rechtsschutzmöglichkeiten gegen Dublin-Überstellungen erhalten.

Das entscheidende Problem, das zu der aktuellen Solidaritätskrise unter den Mitgliedstaaten geführt hat, ist hingegen das der Dublin II-Verordnung zugrunde liegende Verantwortungsprinzip, nach welchem diejenigen Mitgliedstaaten zuständig sind, in deren Gebiet Flüchtlinge unerlaubt über eine EU-Außengrenze einreisen.[46] Es sind zwar kostenintensive Anstrengungen unternommen worden, unerlaubte Einreisen über die EU-Außengrenzen gemeinsam zu verhindern, eine vollständige Vermeidung derselben wäre insbesondere an den Grenzen zum Mittelmeer jedoch kaum realisierbar.

Ist es vor diesem Hintergrund »gerecht«, dass die Staaten, die die Einreise eines Flüchtlings an ihren Grenzen nicht verhindert haben, sozusagen selbst schuld daran und daher verantwortlich für das Asylverfahren sind? Oder wäre es nicht vielleicht gerechter, wenn die EU-Staaten gemeinsam die Verantwortung für ihre Außengrenzen übernähmen, wie dies mittels FRONTEX und der Planung von Mobilitätspartnerschaften[47] bereits geschieht? In der Konsequenz wäre es dann auch gerecht, ebenfalls die Verantwortung für den Flüchtlingsschutz innerhalb Europas zu teilen, indem die Vor- und Nachteile von den EU-Staaten nach objektiven und für die Mitgliedstaaten gerechten Kriterien übernommen werden.


6. Fazit

Der Flüchtlingsschutz sollte als gemeinsame, europäische Verantwortung begriffen werden, d.h. die einzelnen Mitgliedstaaten dürfen sich nicht weiterhin aufgrund von Zuständigkeiten dieser Verantwortung entziehen. Die Umsetzung europarechtlicher Vorgaben ist nicht zuletzt auch zur Verhinderung weiterer Solidaritätskrisen unter den Mitgliedstaaten zu beachten und gegebenenfalls mit Druck- und Zwangsmitteln durchzusetzen.

In der Diskussion ist ein Umdenken dahingehend erforderlich, dass Flüchtlinge nicht nur als Belastung und Kostenfaktor anzusehen sind, sondern als schutzbedürftige Menschen, die in Europa - nicht zuletzt aus demographischen Gründen - willkommen sein sollten. Zügige und faire Asylverfahren führen zu einer schnelleren Integration, weniger Erkrankungen, weniger durch Ausgrenzung bedingte Radikalisierungen und zu einer Bereicherung der europäischen Gesellschaften. Denn wer sich willkommen und akzeptiert fühlt, bringt sich auch gerne ein.

Bedrohungsszenarien von nicht aufhaltbaren »Flüchtlingsströmen« sollten daher in der Diskussion vermieden werden. Laut Eurostat betrug der Anteil von Drittstaatsangehörigen an der Gesamtbevölkerung der EU im Jahre 2010 lediglich vier Prozent.[48] Insoweit irritieren auch die aktuellen Überlegungen zur Einführung erneuter Möglichkeiten von vorübergehenden Kontrollen an den EU-Binnengrenzen in »wahrhaft kritischen Situationen«.[49] Derartige Maßnahmen erscheinen aktionistisch. Zu einer Lösung der aktuellen Probleme tragen sie nicht bei.


6.1 Zusammenfassende Schlussfolgerungen

Grundsätzlich ist eine Abkehr vom Verantwortungsprinzip erforderlich.

Mittelfristig ist zunächst eine Angleichung der Mindeststandards für Flüchtlinge in der EU anzustreben.

Langfristig sollte eine darüber hinausgehende Harmonisierung der Schutzstandards stattfinden, wenn innerhalb Europas weiterhin eine gemeinsame Verantwortung für den Flüchtlingsschutz verfolgt wird. Es ist für einen Flüchtling bislang nicht unerheblich, in welchem EU-Staat sein Asylverfahren durchgeführt wird.

Bis diese Ziele erreicht worden sind, könnten mithilfe der von der EU-Kommission vorgeschlagenen Aussetzungsmöglichkeit weitere Menschenrechtsverletzungen innerhalb Europas vermieden und einer weiteren Entsolidarisierung entgegengewirkt werden.

Die Änderungsvorschläge der EU-Kommission zur Dublin II-Verordnung stellen jedoch nur einen ersten vermittelnden Kompromiss zur Lösung der Praxisprobleme dar. Eine vollständige Vermeidung von Sekundärwanderungen innerhalb Europas kann nicht garantiert werden, da insbesondere nur die Einheit der sog. Kernfamilie geschützt wird und sonstige Bedürfnisse von Flüchtlingen weiterhin unberücksichtigt bleiben. Hier besteht dementsprechend noch Verbesserungsbedarf.

Das Instrument der Saldierung als ergänzende Maßnahme muss erneut diskutiert werden. Dabei sollte auch ein finanzieller Ausgleich für die Übererfüllung von Quoten überlegt werden.

Eine Ausweitung von relocation auf der Grundlage einer doppelten Freiwilligkeit wäre ein zusätzliches Mittel, flexibel auf besondere Belastungssituationen bestimmter Staaten zu reagieren. Flankierend sollten die überlasteten Staaten jedoch über Sanktionen zur effektiven und raschen Beseitigung der Mängel verpflichtet werden.

Eine weitere flankierende Maßnahme könnte darin bestehen, anerkannten Flüchtlingen Freizügigkeit innerhalb Europas zu gewähren. Denn Art.er Dublin II-Verordnung regelt, dass nur die Kriterien und Verfahren für die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats bei der Prüfung eines gestellten Asylantrags ermittelt werden, nicht aber der Aufnahmestaat auf Lebenszeit für Flüchtlinge festgelegt werden soll.


Über die Autorin

Klaudia Dolk arbeitet als Juristin beim Informationsverbund Asyl und Migration in Berlin. Die hier geäußerten Ansichten sind die der Verfasserin und werden nicht unbedingt vom Informationsverbund Asyl und Migration bzw. dessen Trägerorganisationen geteilt.


Anmerkungen

[1] Der Begriff Flüchtling wird in dieser Studie untechnisch verwendet; gemeint sind alle potenziell schutzbedürftigen Drittstaatsangehörige, d.h. nicht nur diejenigen, die bereits Asyl oder die Feststellung von Abschiebungsverboten beantragt haben.

[2] Auch in Deutschland entschloss sich das Bundesministerium des Innern (BMI) erst im Rahmen eines Grundsatzverfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht im Januar 2011 dazu, bis zum 12.1.2012 von Dublin-Überstellungen nach Griechenland abzusehen. Siehe Kurzmeldung des BMI vom 19.1.2011;
http://www.bmi.bund.de/SharedDocs/Kurzmeldungen/DE/2011/01/selbsteintrittsrecht.html (aufgerufen am 13.09.2011).

[3] BVerfG, Beschluss vom 25.1.2011 - 2 BvR 2015/09.

[4] So in den Schlussfolgerungen des EU-Gipfels vom 23./24.6.2011;
http://europa.eu/rapid/pressReleasesAction.do?reference=DOC/11/4&format=HTML&aged=0&language=DE&guiLanguage=en (aufgerufen am 15.09.2011).

[5] Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (ABl. L 50 vom 25.2.2003); die VO gilt in allen EU-Staaten sowie in Norwegen, Island, der Schweiz und Liechtenstein.

[6]Quelle: Eurostat; die Zahlen für das Jahr 2010 sind dort bislang nicht vollständig abrufbar, weshalb hier die Zahlen für das Jahr 2009 verwendet werden. Die bei Eurostat abrufbaren Zahlen weichen von den veröffentlichten Statistiken des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge ab, nach welchen Deutschland im Jahre 2009 3027 Flüchtlinge überstellt und 1517 aufgenommen hat.

[7] Zur Übersicht der Zuständigkeitskriterien siehe Dolk, Klaudia: Zuständigkeitsregelungen in der Dublin II-Verordnung, in: Asylmagazin 3/2009, 12 f.

[8] Erwägungsgrund 1 der Dublin II-Verordnung.

[9] Insbesondere die Qualifikationsrichtlinie (RL 2004/83/EG vom 29.4.2004), Verfahrensrichtlinie (RL 2005/85/EG vom 1.12.2005), Aufnahmerichtlinie (RL 2003/9/EG vom 27.1.2003).

[10] Siehe Fn. 4.

[11] Art.7 und 8 Dublin II-VO.

[12] Art. Dublin II-VO: eine Familienzusammenführung nach dieser Vorschrift hat wegen der restriktiven Ermessensanwendung in den Mitgliedstaaten wenig Praxisrelevanz, wie auch die hiermit korrespondierende Souveränitätsklausel des Art.3 Abs.2 Dublin II-VO. Siehe Anwendungspraxis in Deutschland: Dolk, Klaudia: Das Dublin-Verfahren in Deutschland, Beilage zum Asylmagazin 1-2/2008, 16 ff.

[13] Anerkannte Flüchtlinge und subsidiär Schutzberechtigte werden allerdings zukünftig in den Anwendungsbereich der Daueraufenthaltsrichtlinie fallen, d.h. unter bestimmten Voraussetzungen wird Ausländern aus Drittstaaten nach einem fünfjährigen rechtmäßigen Aufenthalt ein Umzug in einen anderen Mitgliedstaat ermöglicht (ÄnderungsRL zur DaueraufenthaltsRL vom 19.5.2011, ABl L 132/1).

[14] Mit dem Begriff »anerkannte Flüchtlinge« sind im Folgenden Flüchtlinge gemeint, die internationalen Schutz genießen.

[15] Die anerkannten Flüchtlinge werden allerdings nicht in die EU-Staaten, in denen sie anerkannt wurden, abgeschoben, da diese Personengruppe nicht (mehr) in den Anwendungsbereich der Dublin II-Verordnung fällt.

[16] ECRE, Sharing Responsibility for Refugee Protection in Europe: Dublin Reconsidered (31.3.2008);
http://www.ecre.org/component/content/article/57-policy-papers/134-sharing-responsibility-for-refugee-protection-in-europe-dublin-reconsidered.html (aufgerufen am 13.9.2011).

[17] Auch beim EuGH sind Vorlagefragen zu der Frage anhängig, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen von Dublin-Überstellungen abzusehen und der Selbsteintritt auszuüben ist, wenn in anderen Ländern die europarechtlichen Mindeststandards für Flüchtlinge nicht gewährleistet sind. Mit einer Entscheidung wird voraussichtlich Ende 2011 gerechnet.

[18] Evaluierungsbericht der EU-Kommission vom 6.6.2007.

[19] Vorschlag der Kommission für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Neufassung) vom 8.12.2008, KOM(2008) 820 endgültig; http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=COM:2008:0820:FIN:DE:PDF (aufgerufen am 23.9.2011)

[20] Das sodann im Juni 2009 neu gewählte Europäische Parlament bestätigte die Position vom Mai 2009 im November 2010 nochmals ausdrücklich.

[21] Vorgeschlagener neuer Art. 31.

[22] Das VG Ansbach setzte im Eilverfahren die geplante Dublin-Überstellung eines Flüchtlings nach Italien aus, weil Griechenland zuständig war. Beschluss vom 9.3.2011 - AN 11 E 11.30089.

[23] UNHCR-Analyse der vorgeschlagenen Neufassung für die Dublin II-Verordnung und die Eurodac-Verordnung, 18.3.2009, 16;
http://www.unhcr.de/recht/i2-europ-fluechtlingsrecht/22-asyl.html?L=0#c3149 (abgerufen am 23.9.2011).

[24] Gemeint sind Angehörige, die auf die Unterstützung des Asylantragstellers angewiesen sind oder ein Asylantragsteller, der auf die Unterstützung eines Familienangehörigen angewiesen ist.

[25] Siehe hierzu Dolk, Klaudia: Das Dublin-Verfahren in Deutschland, ebd.

[26] ECRE, Sharing Responsibility for Refugee Protection in Europe: Dublin Reconsidered, ebd., 18.

[27] Nach Eurostat wurden im Jahr 2010 etwa in Estland 35 Asylanträge gestellt, in Lettland 65, in Portugal 160, in Litauen 495, in Bulgarien 1025, in Spanien 2740, in Rumänien 885, in der Slowakei 540, in Polen dagegen 6540, in Italien 10.050, in Griechenland 10.275.

[28] So alternativ zur Aussetzung von Art. 10 Abs. 1 Dublin II-VO erneut ECRE, Sharing Responsibility for Refugee Protection in Europe: Dublin Reconsidered, ebd. 29 mwN.

[29] Unabhängig von einer Verfolgung im Herkunftsland ist für Flüchtlinge bereits die Flucht an sich oft mit großen Risiken verbunden, da eine legale Einreise in die EU für Asylsuchende nicht vorgesehen ist. Nicht nur die lebensgefährliche Überquerung des Mittelmeeres, sondern auch die Reise durch Länder wie etwa Weißrussland, führt mitunter zu traumatischen Erlebnissen. Hinzu kommt, dass Flüchtlinge sich regelmäßig für eine Flucht in die EU der Hilfe von Schlepperorganisationen bedienen müssen, die hierfür Wucherpreise verlangen und Flüchtlinge bisweilen in Gruppen mit Gewaltmärschen durch Wälder führen oder in Lkw ohne genügend Luft und Wasser pferchen.

[30] So werden beispielsweise in Deutschland keine Dolmetscher für Vorsprachen bei den Ausländerbehörden, Sozialämtern oder Ärzten gestellt.

[31] Zu den unterschiedlichen Schutzquoten, Verfahrens- und Aufnahmestandards siehe oben.

[32] So hat etwa Dänemark die Kontrollen an den Binnengrenzen im Juni 2011 trotz erheblicher Proteste anderer EU-Staaten und der EU-Kommission intensiviert. Da die Einführung von Personenkontrollen rechtlich nicht zulässig war, wurden die intensivierten Kontrollen als Zollkontrollen bezeichnet. Die EU-Kommission kündigte eine Überprüfung dieser Maßnahmen an.

[33] Diese Diskussion wird häufig unter dem Schlagwort »Lastenverteilung« von Flüchtlingen geführt, treffender und wertfreier ist in diesem Zusammenhang der Begriff der Verantwortungsteilung, der hier auch verwendet werden soll. Eine Verteilung von Flüchtlingen nach Quoten wird von vielen EU-Staaten abgelehnt, insbesondere von Österreich und Deutschland.

[34] In Deutschland werden Flüchtlinge bei der Meldung als Asylsuchende einem bestimmten Bundesland zugewiesen. Diese Zuweisung richtet sich nach aktuellen Kapazitäten, dem Herkunftsland des Flüchtlings (da in dem zugewiesenen Land eine Außenstelle des BAMF für das Herkunftsland zuständig sein sollte) und bestimmter Aufnahmequoten der Bundesländer, berechnet nach deren Steuereinnahmen und der Bevölkerungszahl.

[35] Diesen Vorschlag machte MdEP Nadja Hirsch (FDP) auf dem 11. Berliner Symposium zum Flüchtlingsschutz am 21.6.2011. In derselben Diskussionsrunde lehnte MdB Thomas Silberhorn (CSU) diesen Vorschlag mit Verweis auf die Eigenverantwortung der EU-Staaten ab.

[36] ECRE, Sharing Responsibility for Refugee Protection in Europe: Dublin Reconsidered, ebd., 31.

[37] Siehe hierzu die Statistiken von Eurostat.

[38] Das Pilotprojekt EUREMA betrifft lediglich Flüchtlinge aus Malta; es wurde über den ursprünglich vorgesehenen Zeitraum hinaus verlängert.

[39] ECRE schlägt die relocation auf der Grundlage einer doppelten Freiwilligkeit vor, d.h. neben der freiwilligen Aufnahme von Flüchtlingen durch andere EU-Staaten sollte auch das entsprechende Einverständnis des Betroffenen eingeholt werden. ECRE, Sharing Responsibility for Refugee Protection in Europe: Dublin Reconsidered, ebd., 24.

[40] Siehe hierzu beispielsweise die Vorschläge, die UNHCR zu den Änderungsvorschlägen der EU-Kommission gemacht hat in der UNHCR-Analyse vom 18.3.2009, ebd.

[41] Dies ist eine Forderung von ECRE, Sharing Responsibility for Refugee Protection in Europe: Dublin Reconsidered, März 2008.

[42] Siehe oben Fn. 14.

[43] Statistiken hierzu finden sich bei Eurostat.

[44] ECRE, Sharing Responsibility for Refugee Protection in Europe: Dublin Reconsidered, ebd., 11.

[45] Inzwischen werden zumindest hinsichtlich einiger Bestimmungen der Dublin II-Verordnung solche subjektiven Rechte anerkannt.

[46] Zu der Regelung, nach der derjenige Mitgliedstaat zuständig ist, über dessen Außengrenze der Flüchtling zuerst eingereist ist, haben die Mitgliedstaaten an den EU-Außengrenzen Bedenken wegen ungleicher Verteilung geäußert: UNHCR, The Dublin Regulation: A UNHCR Discussion Paper, April 2006, 1;
http://www.unhcr.org/cgi-bin/texis/vtx/refworld/rwmain?docid=4445fe344&page=search.
ECRE, Comments on the Proposal for a Council Regulation establishing the criteria and mechanisms for determining the Member State responsible for examining an asylum application lodged in one of the Member States by a third country national, 2001.

[47] Siehe hierzu die Schlussfolgerungen des EU-Gipfels vom 23./24.6.2011,
http://europa.eu/rapid/pressReleasesAction.do?reference=DOC/11/4&format=HTML&aged=0&language=DE&guiLanguage=en (aufgerufen am 15.09.2011).

[48] Pressemitteilung von Eurostat vom 14.7.2011,
http://epp.eurostat.ec.europa.eu/cache/ITY_PUBLIC/3-14072011-BP/DE/3- 14072011-BP-DE.PDF (aufgerufen am 15.09.2011).

[49] So in den Schlussfolgerungen des EU-Gipfels vom 23./24.6.2011, ebd.


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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Oktober 2011