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FRANKREICH/007: Macron - eine neue Vision für Europa? (spw)


spw - Ausgabe 2/2018 - Heft 225
Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft

Macron: eine neue Vision für Europa?

von Catherine Mathieu und Henri Sterdyniak


Der Amtsantritt von Emmanuel Macron, seine Vorhaben, die französische Wirtschaft zu erneuern und der Europäischen Union neuen Schwung zu verleihen, und insbesondere seine Rede an der Sorbonne am 26. September 2017 stießen auf großes Interesse in Europa. "Die Zeit in der Frankreich Vorschläge einbringt, ist wieder da," ließ er verlauten. Seine Pläne beruhen jedoch auf Widersprüchen, die es aufzuzeigen gilt. Einerseits war Macron Minister in einer linken Regierung, im Grunde genommen ist er aber Vertreter der Finanzoligarchie, die in Frankreich sowohl Staat als auch Großunternehmen verwaltet. Sein Projekt, das mit dem der Arbeitgeberverbände übereinstimmt, besteht darin, die französischen Besonderheiten, wie ein hohes Niveau der öffentlichen Investitionen und sozialen Ausgaben, ein Umverteilungs- und Anreizsteuersystem, eine umfangreiche öffentliche Daseinsvorsorge und ein Arbeitsrecht mit hohen Schutzrechten, abzubauen. Frankreich soll sich an den neoliberalen Standards orientieren, die durch die Globalisierung, aber auch durch die Europäische Union in ihrer jetzigen Form als Norm gesetzt wurden. So waren Macrons erste beiden Reformen die Senkung der Steuern auf Einkommen und Vermögen und ein Arbeitsgesetz, das den Unternehmern mehr Freiheit gibt, die Arbeitsbedingungen einseitig festzulegen, umzustrukturieren und zu entlassen. Diese Infragestellung des französischen Modells basiert auf einem modernistischen Diskurs, der Frankreich zu einer Nation junger, innovativer Unternehmer machen will und dazu tendiert, Einkommensunterschiede als Folge von Ungleichheiten in Bezug auf Talent und Anstrengung zu akzeptieren.

Laut Macron gilt Frankreich heute als der "schlechte Schüler" der Eurozone. Es soll daher seine "europäischen Verpflichtungen" gewissenhaft einhalten, sein öffentliches Defizit abbauen und Strukturreformen durchführen, um seinen Partnern, insbesondere Deutschland, zu zeigen, dass es vertrauenswürdig ist. Allerdings kann niemand Frankreich ernsthaft vorwerfen, dass es eine schädliche Politik betrieben hätte: Frankreich hat keinen übermäßigen Außenhandelsüberschuss erzielt; es hat weder eine allzu starke Verbesserung seiner Wettbewerbsfähigkeit noch eine starke Verschlechterung erlebt; seine Staatsverschuldung hat keine spekulativen Angriffe ausgelöst. In einer zweiten Phase soll dieses wiedergewonnene Vertrauen zwischen Frankreich und Deutschland es ermöglichen, die Führung einer "Gruppe der europäischen Erneuerung" zu übernehmen, die die Länder der Eurozone zusammenbringt, welche eine rasche Konvergenz in haushalts-, steuer- und sozialpolitischen Fragen anstreben.

In seiner Rede an der Sorbonne schlägt Macron ein "souveränes, vereintes, demokratisches Europa" vor, das in der Lage ist, sich den globalen Herausforderungen zu stellen und die europäischen Werte der Demokratie und Gleichheit gegenüber den Vereinigten Staaten und China zu verteidigen. Es handelt sich um eine vielversprechende Rede, aber diese Werte müssen in Projekte umgesetzt werden, die von den Mitgliedstaaten einstimmig unterstützt werden. Dafür muss der demokratische Widerspruch der europäischen Integration (auf der einen Seite stehen die nationalen Regierungen, die im durch Wahlen legitimiert sind auf der anderen Seite stehen die technokratischen europäischen Organe) aufgelöst werden.

So schlägt Macron vor, einen Haushalt für die Eurozone mit drei Funktionen zu schaffen (zukunftsträchtige Investitionen, finanzielle Soforthilfe und Reaktion auf Wirtschaftskrisen). Voraussetzung für die Teilhabe an diesem Haushalt wäre die Einhaltung der gemeinsamen steuerlichen und sozialen Regeln (um Dumping in der Eurozone zu vermeiden). Ein Wirtschafts- und Finanzminister der Eurozone wäre für den gemeinsamen Haushalt zuständig, der unter der Kontrolle eines Parlaments der Eurozone stünde, welches die Abgeordneten der Mitgliedstaaten zusammenführt. Dieser Haushalt würde durch Digitalsteuern, Umweltsteuern und einen Teil der Unternehmenssteuern finanziert.

Wird Frankreich aber in der Lage sein, die Einführung eines substanziellen europäischen Haushalts mit einem Stabilisierungsansatz zu erreichen, nachdem es sich zuvor bereit erklärt hat, unter die Fuchtel der europäischen Sachzwänge zu fallen? Die Gefahr besteht, dass die Länder im Gegenzug für einen europäischen Haushalt jede Autonomie in der Haushaltspolitik aufgeben müssen. Der für die Stabilisierungspolitik zuständige europäische Minister hätte ein Kontrollrecht über die nationalen Haushalte, die er korrigieren könnte, wenn er der Ansicht wäre, dass diese nicht mit den Verträgen im Einklang stehen. Die europäischen Institutionen haben die Wirksamkeit der fiskalischen Stimulierung jedoch stets bestritten und ihre Notwendigkeit unterschätzt (die Eurozone lag ihnen zufolge 2017 nur um 0,4 Prozent unter dem potentiellen Produktionsvolumen) und im Gegenteil behauptet, dass die Mitgliedsländer durch fiskalische Konsolidierung (d.h. Kürzungen der öffentlichen Ausgaben) und Strukturreformen wieder Vollbeschäftigung erlangen könnten. Wird dieser Minister in der Lage sein, Ländern mit starken Leistungsbilanzüberschüssen eine lohn- oder sozialpolitische Stimulierungspolitik aufzuzwingen? Macron sagt nicht eindeutig, ob die unzureichenden Regeln des Maastrichter Vertrags und der Fiskalpakt in Frage gestellt werden müssen. Die Einrichtung eines Parlaments der Eurozone soll Europa demokratisieren, aber ist es wünschenswert, das Funktionieren der EU durch die Schaffung spezifischer Institutionen der Eurozone weiter zu erschweren, zumal nicht alle Länder der Eurozone in der "Gruppe der Erneuerung" vertreten wären? Macron macht nicht deutlich, welche Vorrechte dieses Parlament haben würde: Könnte es Änderungen in den von den nationalen Parlamenten verabschiedeten Haushalten durchsetzen, oder gar Strukturreformen vorschreiben?

Gleichzeitig greift Macron eher traditionelle Vorschläge Frankreichs auf. Die Schaffung einer gemeinsamen Bemessungsgrundlage für die Körperschaftsteuer mit einer festgelegten Bandbreite an Steuersätzen ist für die Bekämpfung von Steuerhinterziehung und Steueroptimierung unerlässlich, wird aber auf Widerstand aus mehreren Mitgliedstaaten (Irland, Niederlande, Belgien) stoßen. Macron schlägt vor, dass die europäische Säule sozialer Rechte Mindestniveaus für Krankenversicherung, Arbeitslosenversicherung oder Mindestlöhne festlegen soll (unter Berücksichtigung der ungleichen Entwicklung der Mitgliedstaaten). In Anbetracht der derzeitigen Machtverhältnisse in Europa besteht die große Gefahr, dass die Steuerharmonisierung durch eine Senkung der Besteuerung der reichsten Personen, der Kapitaleinkünfte und der Unternehmen erreicht wird. Frankreich selbst gibt dafür das beste schlechte Beispiel mit der Abschaffung der Vermögenssteuer und der Senkung der Körperschaftsteuer. Macron fordert eine bessere Kontrolle der entsandten Arbeitnehmer, um Lohndumping zu bekämpfen, indem er den Grundsatz "für gleiche Arbeit am gleichen Ort, gleicher Lohn" hochhält. Dies ist ein umstrittenes Thema, da die mittel- und osteuropäischen Länder den Vorteil ihrer niedrigen Löhne nutzen wollen. Die Öffnung der Grenzen für Waren und Personen versetzt zwangsläufig Beschäftigte mit unterschiedlichen Lohnniveaus in Konkurrenz zueinander. Ein rumänischer Arbeitnehmer kann mit einem französischen Arbeitnehmer konkurrieren, indem er in Rumänien produziert, oder indem er nach Frankreich zur Arbeit kommt und dabei dem Status des entsandten Arbeitnehmers unterliegt, so dass das Beharren auf der Frage der Entsendung eine Verkürzung der Problematik ist.

Im Handelsbereich forderte Macron die Stärkung der Antidumping-Instrumente, die abschreckender und reaktionsschneller werden sollen; einen Buy European Act, der es ermöglicht, das öffentliche Beschaffungswesen den Unternehmen vorzubehalten, die mindestens die Hälfte ihrer Produktion in Europa angesiedelt haben; eine Kontrolle ausländischer Investitionen in Europa, um strategische Sektoren in Europa zu schützen; die Aufnahme verbindlicher Steuer-, Sozial- und Umweltklauseln in die EUHandelsabkommen; eine "europäische Handelsstaatsanwaltschaft", um die Einhaltung der eingegangenen Verpflichtungen zu gewährleisten; Ausschüsse, die NGOs in die Aushandlung von Handelsabkommen einbeziehen, deren Anwendung überwachen und Auswirkungen bewerten. Aber viele Mitgliedstaaten und die Kommission positionieren sich unkritisch für den Freihandel. Macron schlägt die Verallgemeinerung der Steuer auf Finanztransaktionen vor, aber in einer abgeschwächten Version, die nur den Erwerb von Aktien großer Unternehmen und nicht die spekulativen Transaktionen betrifft.

Macron schlägt vor, dass Europa durch einen angemessenen Kohlenstoffpreis, eine CO2-Importsteuer an den Grenzen Europas und ein Förderprogramm zur Unterstützung umweltfreundlicher Fahrzeuge führend bei der ökologischen Transformation wird. Angesichts der Bedeutung amerikanischer Unternehmen in der digitalen Wirtschaft schlägt er vor, eine "Europäische Agentur für bahnbrechende Innovationen" zu schaffen, die europäische Digitalchampions fördert. Darüber hinaus sollen digitale Unternehmen nach dem "geschaffenen Mehrwert" besteuert werden.

Macron fordert eine institutionelle Reform mit einer auf 15 Mitglieder begrenzten Kommission, ohne jedoch zu präzisieren, auf welcher Grundlage diese ausgewählt werden sollen, ob politisch (Mehrheitsparteien im Europäischen Parlament) oder im Rahmen des bestehenden technokratisch-neoliberalen Kompromisses?

Er geht davon aus, dass die Eurozone in zwei Teile gespalten wird, nämlich in Länder, die das Projekt der Erneuerung akzeptieren, insbesondere zur sozialen Konvergenz und zu Steuerfragen und Staaten, die dieses ablehnen. Schwer vorstellbar ist, wie Europa mit dann drei Kreisen, oder vier, wenn der Brexit um die EU herum einen Kreis von Staaten schaffen würde, die durch eine Zollunion gebunden sind, funktionieren soll? Darüber hinaus gibt es derzeit keine Übereinstimmung zwischen den Ländern Europas (selbst nicht zwischen den Ländern im Herzen Europas) über weitere Schritte hin zu einer vertieften Integration. Zuvor müssten deren Einzelheiten und Inhalte eindeutig geklärt werden. In der gegenwärtigen Situation wird kein Land akzeptieren, dass sein Haushalt, seine Steuerpolitik und die Reformen seines Sozialsystems von einer übergeordneten Behörde beschlossen werden. Einige schlagen daher ein Europa mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten vor, entweder durch die Ausweitung der "verstärkten Zusammenarbeit" auf neue Bereiche und Projekte oder durch die Einführung der Möglichkeit des Opting-out (die Mitgliedstaaten können das Parlament oder den Rat um das Recht bitten, ein europäisches Gesetz nicht anwenden zu müssen). Diese zusätzlichen Freiheiten sollen den Fortschritt in Europa erleichtern, indem sie die Verpflichtung zur Einstimmigkeit überwinden. Aber dies würde die Entscheidungsfindung noch komplizierter gestalten: Einige Richtlinien wären fakultativ, andere müssten jedoch zwingend vorgeschrieben werden; in vielen Bereichen (Klimawandel, Finanzregulierung, Steuerpolitik) ergibt eine Richtlinie nur Sinn, wenn sie in und für alle Länder gleichermaßen gilt.

Macron schlägt vor, dass Deutschland und Frankreich voranschreiten und ihre Märkte bis 2024 vollständig integrieren, was im Grunde genommen bedeutet, dass Frankreich sich an Deutschland orientiert. Dies kann für Macron ein Weg sein, schwierige Reformen (Privatisierungen, Deregulierungen, Senkung der Sozialbeiträge und damit des Sozialschutzes) durchzusetzen.

Macron vertritt zwei gegensätzliche Positionen. Einerseits will er das französische Modell radikal reformieren. Andererseits fordert er die europäischen Staaten auf, sich diesem durch Untergrenzen bei Steuersätzen, Sozialschutz, Mindestlöhne, durch protektionistische Maßnahmen und mehr Industriepolitik anzunähern. Was aber, wenn diese Vorschläge von mehreren Staaten abgelehnt werden? Er sagt nichts über die Organisation der Haushaltspolitik (Einhaltung bereits vorhandener Regeln, Steuerung durch die europäischen Behörden oder Koordinierung der nationalen Politiken unter Berücksichtigung der spezifischen makroökonomischen Gegebenheiten?) oder über die Regeln für Entscheidungen in einem neu begründeten Europa (Einstimmigkeit oder qualifizierte Mehrheit der Staaten, parlamentarische Mehrheit?).

Europa zeichnet sich ebenfalls durch eine doppelte Zweideutigkeit aus. Ein Ziel ist es, ein spezifisches Modell zu verteidigen, das sich durch ein hohes Niveau der öffentlichen Ausgaben, eine starke Umverteilung, wirksames Arbeitsrecht, Wirtschafts- und Finanzregulierung, ein starkes Bekenntnis zur Global Governance und insbesondere zur ökologischen Transformation auszeichnet. Gleichzeitig zielt die EU darauf ab, die Mitgliedstaaten zur Anpassung an die Globalisierung und die Finanzialisierung zu zwingen, und dadurch das europäische Sozialmodell, wie es heute in nationalstaatlichen Kompromissen verankert ist, in Frage zu stellen. Soll Europa die Besonderheiten der Mitgliedstaaten respektieren, gemäß dem Subsidiaritätsprinzip (das immer weniger mit einer einheitlichen Währung vereinbar ist), oder sollten wir uns auf ein "immer mehr Europa" zubewegen, indem wir die institutionellen Unterschiede zwischen den Ländern (was auf zahlreiche Probleme und mangelnde Akzeptanz stoßen wird) durch Druck von oben verringern? Macrons Äußerungen ermöglichen es nicht, aus diesen Unklarheiten herauszukommen. Er wird sich diesen Meinungsverschiedenheiten und Interessenkonflikten stellen müssen.

Das Finanzministertreffen vom 10. Oktober 2017, bei dem der scheidende deutsche Minister Wolfgang Schäuble ein Dokument mit dem Titel: "Die Weichen für eine stabile Union stellen" vorlegte bezeugt dies. Der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) soll in einen Europäischen Währungsfonds (EWF) umgewandelt werden, der die Mitgliedstaaten zur Einhaltung des Fiskalpaktes verpflichtet. Die Umstrukturierung der Staatsschulden würde jedem geförderten Land auferlegt, so dass die Insolvenz eines Mitgliedstaates möglich würde, die Staatsschulden der Länder der Eurozone zu riskanten Vermögenswerten würden, was bei der Beurteilung durch die Banken entsprechend berücksichtigt würde. Die an einen Mitgliedstaat gezahlten Strukturfondsmittel würden von der Umsetzung der von der Kommission verlangten Strukturreformen abhängen. In dem Vorschlag wird jede automatische Übertragung, jede Zusammenlegung von Schulden, jede europäische Arbeitslosenversicherung und jede gemeinsame Haushaltspolitik abgelehnt, die durch einen gemeinsamen Schuldtitel ermöglicht wird. Die makroökonomische Stabilisierung soll durch die Flexibilität der Märkte, die Bankenunion, die Kapitalmarktunion und die Freizügigkeit der Arbeitnehmer erreicht werden.

Seit 2015 schlagen die fünf Präsidenten und die Kommission wiederholt neue Schritte auf dem Weg zum Föderalismus vor: Vollendung der Bankenunion durch die Schaffung europäischer Fonds zur Lösung von Bankenkrisen und zur Einlagensicherung, Union der Kapitalmärkte, Wettbewerbsfähigkeitsräte, Konditionierung der Gewährung von Strukturfondsmitteln unter Beachtung der Haushaltsdisziplin und Durchführung von Strukturreformen. Ein Minister für Wirtschaft und Finanzen der Eurozone soll verantwortlich für die wirtschaftliche und haushaltspolitische Überwachung der Mitgliedstaaten, die Verwaltung eines europäischen Haushalts und des ESM (der zu einem EWF werden würde) und die Koordinierung der Ausgabe eines risikofreien europäischen Vermögenswertes sein. Die europäischen Gremien könnten die nationalen Politiken genauer überwachen, damit diese die Vorschriften einhalten, so unangemessen sie auch sein mögen. Anstatt zum ursprünglichen Versäumnis der Eurozone zurückzukehren (dem Fehlen eines Kreditgebers der letzten Instanz für Staaten und Banken), möchte die Kommission die Verbindung der Banken zu ihrem Heimatstaat aufbrechen, indem sie das Halten nationaler Anleihen, die als riskant angesehen werden, erschwert. So könnten sich die Staaten nur mit größeren Schwierigkeiten refinanzieren und wären damit noch mehr der Spekulation der Finanzmärkte ausgesetzt. Die Kommission hatte begonnen, eine partielle Vereinheitlichung der Arbeitslosenversicherungssysteme zu prüfen, die sicherlich zur Stabilisierung der Eurozone beitragen könnte, die aber sehr begrenzt wäre (um dauerhafte Transfers zwischen den Mitgliedstaaten zu vermeiden) und das Recht der Kommission einführen würde, die Arbeitnehmerrechte der Mitgliedstaaten zu überwachen. Die Kommission lehnt die Einrichtung spezifischer Institutionen des Euro-Währungsgebiets ab, hofft aber, dass alle Mitgliedstaaten dem Euro beitreten. Auf der Tagung des Europäischen Rates vom 15. Dezember 2017 stellte sich heraus, dass es keine Einstimmigkeit gibt, die Kontrolle der Haushaltsregeln zu verstärken, einen Haushalt für die Eurozone mit einer eigenen Verschuldungskapazität zu schaffen und einen Minister für Wirtschaft und Finanzen der Eurozone zu errichten.

Einige europäische Ökonomen greifen die Thesen der Kommission ohne kritisches Nachdenken auf. Vierzehn deutsche und französische Ökonomen haben am 17. Januar 2018 einen Text veröffentlicht, in dem es heißt, es handele sich um einen Vorschlag wie "Risikoteilung und Marktdisziplin in Einklang gebracht werden können", und der den "instabilen und krisenanfälligen Finanzsektor" der Eurozone anerkennt, aber dann vorschlägt, die Ursachen durch eine weitere Schwächung der Staaten und durch ein Mehr an Einfluss der Finanzmärkte und der europäischen Behörden, die für die Krise und für die darauffolgende Sparpolitik verantwortlich sind, zu verstärken. Unter dem Vorwand, den deutschen Standpunkt zu berücksichtigen, plädieren diese Ökonomen für die Verstärkung einer so genannten "Marktdisziplin", als ob es nicht die Märkte wären, die wegen ihrer Maßlosigkeit diszipliniert werden müssten, als ob die Märkte die Fähigkeit hätten, gute Wirtschaftspolitik zu definieren. Sie behaupten, dass das Wachstum der Staatsverschuldung seit der Krise durch die Disziplinlosigkeit der Mitgliedstaaten erklärt werden kann, wobei sie vergessen, dass diese in Japan und den Vereinigten Staaten noch weit ausgeprägter ist, und sie wesentlich durch die Krise des Finanzkapitalismus verursacht wurden.

Diese Ökonomen machen sechs Vorschläge, gefährlich oder schlecht durchdacht. Die ersten drei zielen darauf ab, den öffentlichen Stellen der Mitgliedstaaten die Aufnahme von Krediten zu erschweren: Bestrafung von Banken, die von ihren Heimatländern zu viel der dortigen Schuldtitel aufgenommen haben; Schaffung eines Mechanismus zur geordneten Umstrukturierung der Staatsverschuldung; Bereitstellung eines risikofreien, neuartigen Vermögenswertes als Alternative zur Staatsverschuldung. Die derzeitigen Regeln würden durch eine neue Regel ersetzt: Die öffentlichen Ausgaben sollten nicht schneller wachsen als tendenziell das BIP; sie sollten in Ländern mit einer zu hohen Schuldenquote sogar weniger schnell wachsen, mehr wird nicht gesagt, weder über die Methode zur Messung der Entwicklung des BIP noch über die als normal angesehene Schuldenquote, noch über die Freiräume, die der nationalen Politik zur Anpassung an die konjunkturelle Lage verbleiben. Die Eurogruppe sollte die Fiskalpolitik der betroffenen Länder beurteilen, aber nach welchen Kriterien? Schließlich soll ein Fonds eingerichtet werden, der den Ländern helfen soll, die schwersten Krisen zu bewältigen, aber nur denjenigen zugutekommt, die sich an die neue Regel und die Empfehlungen des Europäischen Semesters gehalten haben; und um dauerhafte Transfers zu vermeiden, wird dieser Fonds dann auch nur von diesen instabilen Ländern getragen.

Glücklicherweise nähert sich das Programm der großen Koalition in Deutschland den französischen Vorschlägen an. Darin wird vorgeschlagen, die deutsch-französische Zusammenarbeit und die Rolle des Europäischen Parlaments zu stärken, die Besteuerung der großen Internetkonzerne zu erweitern, die Besteuerung von Finanztransaktionen einzuführen, den europäischen Haushalt zu erhöhen, insbesondere durch einen Haushalt des Euroraums (für wirtschaftliche Stabilisierung, soziale Konvergenz, Strukturreformen), und den ESM in einen EWF umzuwandeln. Es wird jedoch weiterhin nichts über die Haushaltspolitiken und die Garantie der öffentlichen Verschuldung gesagt. Ganz im Gegenteil, am 6. März 2018 forderten die Finanzminister von acht nordeuropäischen Ländern (Niederlande, Irland, Finnland, Estland, Lettland, Litauen, Dänemark, Schweden), dass alle Gespräche auf Augenhöhe zwischen den 27 Ländern stattfinden sollten. Für sie stehen die Einhaltung der geltenden Haushaltsregeln und die Durchführung von Strukturreformen in den einzelnen Ländern dabei klar im Vordergrund. Die Vertiefung der WWU muss sich ihnen zufolge nur auf das "Notwendige" beschränken und darf sich nicht auf das "Wünschenswerte" erstrecken. Das weitere Vorgehen sollte sich auf das beschränken, was bereits Konsens ist: die Vollendung des Binnenmarkts, die Bankenunion (wobei eigentlich jeder Fortschritt auf dem Weg zu einer gemeinsamen Einlagensicherung oder einem gemeinsamen Fonds zur Lösung von Bankenausfällen eine Verringerung der systemischen Risiken voraussetzt), die Entwicklung der Kapitalmarktunion, die Umwandlung der ESM in einen EWF (wobei letzterer ein intergouvernementales Organ bleiben soll). Der EU-Haushalt soll ferner die finanziellen Zwänge berücksichtigen und Strukturreformen fördern.

So aber bleibt die Unklarheit in vielen Punkten bestehen. Einige Stimmen konzentrieren sich auf die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten, die Koordinierung der makroökonomischen Politik, die steuerliche und soziale Harmonisierung, andere auf die Einhaltung der Steuervorschriften und die Finanzmarktdisziplin. Ein Wirtschafts- und Finanzminister der Eurozone wird sowohl als Mittel zur Durchsetzung von Haushaltsdisziplin und Strukturreformen, als auch als Instrument zur Erleichterung und Koordinierung autonomer Wirtschaftspolitiken oder als Instrument zur Zentralisierung der Haushaltspolitiken angesehen. Das Risiko besteht darin, hier einem zweifelhaften, widersprüchlichen Kompromiss aufzusitzen.

Unserer Meinung nach müssen all die automatischen Regeln fallen gelassen und vergessen werden, um eine wirkliche Koordinierung der Wirtschaftspolitiken der Eurozone mit dem Ziel der Vollbeschäftigung und des Abbaus der Ungleichgewichte zwischen den Ländern zu erreichen. Das würde bedeuten, dass diejenigen Länder in die Pflicht genommen werden müssen, die übermäßige Leistungsbilanzüberschüsse und Wettbewerbsvorteile aufweisen, die sie durch übermäßige Einsparungen bei der Infrastruktur oder bei den Sozialausgaben erzielt haben. Europa sollte vorrangig die durch die Finanzialisierung hervorgerufene Instabilität bekämpfen, indem es die Tätigkeit der Banken auf die Finanzierung von Krediten für öffentliche Investitionen und Investitionen, die für die ökologische Transformation erforderlich sind, ausrichtet.

Die öffentlichen Schulden der Mitgliedstaaten müssen vor Finanzspekulationen geschützt werden und von der EZB und den Mitgliedstaaten gemeinsam garantiert werden, außer in Fällen eklatanten Ausscherens aus dem Koordinierungsprozess. Die Strukturfonds dürfen nicht dazu benutzt werden, neoliberale Reformen durchzusetzen. Die gemeinsame Währung setzt eine Koordinierung der Lohnentwicklung voraus, d.h. sie muss mittelfristig entsprechend der Arbeitsproduktivität und dem Inflationsziel steigen, kurzfristig muss eine Aufwärtskonvergenz organisiert werden. Europa muss dafür eine Steuerharmonisierung vornehmen, damit die Mitgliedstaaten ihre Steuereinnahmen schützen und die reichsten und größten multinationalen Unternehmen effektiv besteuern können. Zudem muss eine gewisse soziale Konvergenz mit dem erklärten Willen zum Schutz und zum Ausbau des Sozialmodells in all seinen Dimensionen (Politik für Vollbeschäftigung, soziale Sicherungssysteme, Arbeitsrecht, Umverteilung durch progressive Besteuerung, öffentliche Dienstleistungen) organisiert werden. Dies erfordert, dass der Schutz und der Ausbau des europäischen Sozialmodells zu einer Priorität wird und Vorrang gegenüber der Vollendung des Binnenmarkts oder der Förderung der vier Freiheiten (freier Waren-, Dienstleistungs-, Kapital- und Personenverkehr) hat. Dieser Wendepunkt muss sowohl von den Mitgliedstaaten, von der Kommission als auch von der europäischen Technokratie (insbesondere vom EuGH) unterstützt und in den Verträgen verankert werden. Um dies alles umzusetzen bedarf es eines politischen Willens, den Macron nur sehr bedingt verkörpert.


Catherine Mathieu und Henri Sterdyniak sind Forscher am Observatoire français des conjonctures économiques (OFCE) in Paris, sie sind Mitglieder des Netzwerks "Economistes atterés" (http://www.atterres.org). Die Übersetzung fertigte Martin Ahrens an.

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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 2/2018, Heft 225, Seite 57-62
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Mai 2018

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