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FRAGEN/001: "Neoliberalismus stellt fundamentale Menschenrechte in Frage" (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 19. Februar 2013

Portugal: 'Neoliberalismus stellt fundamentale Menschenrechte in Frage' - Gewerkschaftsführer Arménio Carlos im Interview


Bild: © Mario Queiroz/IPS

Arménio Carlos
Bild: © Mario Queiroz/IPS

Lissabon, 19. Februar (IPS) - Die einflussreiche Portugiesische Arbeitergewerkschaft CGTP wird bei der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) Beschwerde gegen die Regierung in Lissabon einreichen. Die CGTP wirft den Behörden vor, gegen Abkommen zum Schutz von Tarifverhandlungen und Versammlungsrecht zu verstoßen.

"Die Europäische Union sollte sich nicht zum Komplizen einer neoliberalen Wirtschaftspolitik machen, die Menschen wie Gegenstände behandelt, indem sie wichtige soziale Errungenschaften abschafft und damit fundamentale Menschenrechte in Frage stellt, erklärte der CGTP-Generalsekretär Aménico Carlos.

Menschen dürften nicht als Versuchskaninchen einer neoliberalen Wirtschaftspolitik geopfert werden, meinte der Gewerkschaftsführer in einem Exklusivinterview am Vorabend des Streiks vom 16. Februar, zu dem die CGTP in Portugal und den Überseegebieten Azoren und Madeira aufgerufen hatte. Es folgen Auszüge aus dem Interview.

IPS: Stehen wir vor dem Wandel eines Systems, das als Garant eines 'sozialen Europa' galt?

Arménio Carlos: Auf dem Spiel stehen arbeitsrechtliche Standards, wie sie von der ILO festgelegt wurden.

Man darf nicht mit Menschenleben herumexperimentieren und Menschen zu Versuchskaninchen neoliberaler Labors missbrauchen, die testen, wie weit man mit Portugal, Griechenland, Spanien oder Irland gehen kann.

Unsere Länder mit unseren wirtschaftlichen und finanziellen Problemen wurden als weniger wichtig betrachtet. Doch inzwischen hat sich gezeigt, dass das Problem nicht nur Portugiesen, Griechen und Iren betrifft. Selbst Deutschland, der 'Motor Europas', ist angeschlagen und in eine Situation geraten, in der die Wirtschaft stagniert. Das sollte die EU-Entscheidungsträger zum Nachdenken bringen.

IPS: Wie soll Portugal jemals seine Schulden in Höhe von 78 Milliarden Euro (110 Milliarden US-Dollar) gegenüber der Troika aus EU, Internationalem Währungsfonds (IWF) und Europäischer Zentralbank (EZB) bezahlen?

Carlos: Ohne Umschuldung wird Portugal nicht bezahlen können und zur Finanzkolonie verkommen.

Neu zu verhandeln heißt nicht, nicht zu zahlen, sondern die Bedingungen zu schaffen, um zahlen zu können. Doch unsere eigenen Gläubiger verbieten uns, wirtschaftspolitische Maßnahmen zu entwickeln, um unseren Verpflichtungen nachkommen zu können.

Zum Beispiel unterstützt die EZB den Finanzsektor mit Krediten zu Zinssätzen von 0,7 Prozent. Gleichzeitig vergeben die Banken Darlehen an den Staat oder an Unternehmen, die zu acht Prozent verzinst sind. Somit fördert die EZB derzeit Finanzspekulationen.

Die Arbeitslosigkeit nimmt in Portugal zu und wir haben bereits eine Million Arbeitslose. Das entspricht einem Anteil an der erwerbsfähigen Bevölkerung von 16,9 Prozent. Was die Erwerbslosigkeit anbetrifft, belegen wir innerhalb der EU den dritten Platz nach Griechenland und Spanien. Die Rezession wird in diesem Jahr anhalten. Es werden zehntausende Unternehmen schließen oder bankrott gehen.

IPS: Was bedeutet diese Entwicklung für die Armutszahlen?

Carlos: Armut und soziale Ausgrenzung werden zunehmen und wir werden in Portugal die Rückkehr des Hungers erleben. Schon jetzt gibt es tausende Mädchen und Jungen, die Hunger leiden. Das bedeutet, dass ihre Eltern bereits seit geraumer Zeit hungern, was sie der neoliberalen Wirtschaftspolitik zu verdanken haben, die uns Portugiesen ausbluten lässt.

Abgesehen von dem Leid für die Bevölkerung steht die Zukunft des Landes auf dem Spiel. Die (neoliberale) Politik löst die Probleme nicht, sondern verschärft sie.

IPS: Die Generalstreiks und Protestkundgebungen im vergangenen Jahr sind auf großen Zuspruch gestoßen. Mit ihren Forderungen hat die CGTP inzwischen die gewerkschaftliche Arena verlassen...

Carlos: Wir stehen vor einem Verlust der Kaufkraft, der Millionen Menschen gleich in zweierlei Hinsicht getroffen hat.

Zum einen wurde auf die Inflation nicht mit einer Anpassung der Löhne reagiert. Das bedeutet dass in den letzten beiden Jahren die Beschäftigten des Privatsektors mehr als zehn Prozent und die Beschäftigten im öffentlichen Dienst 25 bis 30 Prozent ihrer Kaufkraft verloren haben.

Zum zweiten wird die Umsetzung des Allgemeinen Staatshaushalts 2013 die Einkommen der Menschen aufgrund der vorgesehenen Steuererhöhungen weiter verringern. Die Einkommen der Familien verringern sich um sechs bis sieben Prozent, was wiederum zur Folge hat, dass sich die Kaufkraft der Arbeiter im freien Fall befindet.

Demgegenüber dürfen sich die großen Wirtschafts- und Finanzgruppen über enorme Zuwächse freuen. Eine Überprüfung, ob Korruption und Steuerflucht tatsächlich bekämpft werden, findet nicht statt. Es ist gut zu wissen, dass solche Verbrechen 25 Prozent des Bruttoinlandsprodukts auffressen.

An dieser Stelle müssten die Probleme angepackt werden. Doch das geschieht nicht, weil die Wirtschafts- und Finanzwelt praktisch unantastbar ist.

Die beiden Generalstreiks und Protestkundgebungen 2012 und die Demonstration (vom16. Februar) sind Zeugnisse einer schnell wachsenden Bewegung. Sie geben der Mehrheit der Portugiesen die Möglichkeit, ihrem Zorn und Unmut Luft zu machen und ein Ende der Politik der Troika zu fordern.

IPS: Wie ist es um die Arbeitsrechte bestellt?

Carlos: Die Arbeitsrechte sind aus dem Tritt geraten. Davon profitieren die Arbeitgeber. Überstunden werden schlechter bezahlt, Arbeitnehmer können zügig entlassen werden, die Abfindungen fallen geringer aus, der soziale Schutz bröckelt und es kommt zu einem unglaublichen Anschlag auf die Tarifverträge. Die Deregulierung der Arbeitsrechte begünstigt eindeutig die Unternehmen.

Im Augenblick wird darüber diskutiert, ob man die Abfindungen nicht kräftig zusammenstreichen soll. So sollen portugiesische Beschäftigte künftig nur noch zwölf Prozent der Entschädigungen eines irischen oder deutschen Arbeitnehmers und 25 bis 30 Prozent eines Spaniers erhalten. Wir befinden uns nicht nur in einer Rezessionsspirale, sondern erleben den Rückgang der Zivilisation.

IPS: Wo ist die Grenze?

Carlos: Für Regierungen mit einer neoliberalen Sichtweise gibt es keine Grenzen. Für sie sind Menschen Nummern und Gegenstände. Am Ende ist es eine Abrechnung mit der April-Revolution (oder 'Nelkenrevolution' von 1974), die eine Vielzahl von Rechten mit sich brachte, die der Arbeit und der Würde der Menschen einen Wert verlieh.

Die Regierung (von Ministerpräsident Pedro Passos Coelho) zeigt sich herzlos gegenüber vielen Vätern und Müttern, die ihre Arbeit verlieren, den Söhnen, denen das Recht auf Arbeit verweigert wird, den Familien, die keinen Versicherungsschutz mehr genießen, den Kindern, die sich zur Emigration gezwungen sehen, und den alten Menschen, die zu arm sind, um sich überlebenswichtige Medikamente kaufen zu können.

IPS: Was schlägt die CGTP vor?

Carlos: Unserer Meinung nach reicht es nicht aus, über Wachstum zu reden. Wir brauchen Investitionen, eine Steigerung der Produktion, eine fairere Einkommensverteilung und eine höhere Kaufkraft. Die Berücksichtigung dieser Faktoren ist nach unserer Meinung entscheidend, um auf das Grundproblem angemessen zu reagieren. (Ende/IPS/kb/2013)


Links:

http://www.cgtp.pt/
http://www.ipsnoticias.net/nota.asp?idnews=102368
http://www.ipsnews.net/2013/02/qa-neoliberalism-negates-human-rights/

© IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 19. Februar 2013
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Februar 2013