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IRLAND/009: Politische Krise in Nordirland (Info Nordirland)


Info Nordirland - 14. September 2015

Politische Krise in Nordirland

von Uschi Grandel


"Eine Delegation der irischen Regierung wird sich mit Vertretern der britischen Regierung noch diese Woche treffen, um über die sonderbaren Umstände zu reden, in denen mehrere hochrangige Sinn Féin Mitglieder verhaftet wurden, was das nordirische Parlament Stormont in eine tiefe Krise stürzte. Es besteht der Verdacht, die Verhaftungen seien politisch motiviert."

Was wie eine Nachricht zur aktuellen Krise klingt, ist in Wirklichkeit eine Meldung vom 6. Oktober 2002. Man muss nur "Verhaftungen hochrangiger Sinn Féin Mitglieder" durch die damalige Polizei-Razzia in den Büros von Sinn Féin im Parlamentsgebäude Stormont ersetzen. Die Polizei sprach damals vom Verdacht eines durch Sinn Féin gedeckten IRA-Spionagerings, der sich in der Folge als Erfindung des britischen Geheimdienstes erwies. Aber da war die damalige labile Allparteienregierung bereits zusammengebrochen, der Schaden getan und der Friedensprozess in einer schweren Krise.
(siehe: http://www.info-nordirland.de/new_246_e.htm)

Die aktuellen Entwicklungen, die am vergangenen Donnerstag zum Rücktritt des nordirischen Regierungschefs Peter Robinson führten, bereiten ein deja-vu Gefühl. Wieder sind nicht überprüfbare Verdächtigungen durch die Polizei der Auslöser für eine schwere Krise des nordirischen Parlaments. "Aktive IRA-Mitglieder" seien unter den Verdächtigen eines Mordes in Belfast. Diese Äußerung des nordirischen Polizeichefs auf einer Pressekonferenz vor zwei Wochen war Auftakt einer beispiellosen Schmutzkampagne gegen die irisch republikanische Linkspartei Sinn Féin.

Über die Hintergründe informieren wir in zwei Artikeln (siehe unten):

Wahlkampf mit Phantom
(3.9.2015, Uschi Grandel, Erstveröffentlichung: junge Welt vom 2.9.2015)

Intrige statt Frieden
(13.9.2015, Uschi Grandel, Erstveröffentlichung: junge Welt vom 12.9.2015)

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Wahlkampf mit Phantom

Zwei Tote in Belfast lassen Polizei, Politik und Presse von der IRA schwadronieren

von Uschi Grandel, 3. September 2015


Féile an Phobail, das Fest des Volkes, das jedes Jahr Anfang August im irisch-republikanisch dominierten West-Belfast stattfindet, veranstaltet neben musikalischen und kulturellen Events eine große Sommerschule, in deren Rahmen über irische und internationale Politik diskutiert wird. Einer der diesjährigen Gastredner war Giannis Bournous vom politischen Sekretariat der griechischen Regierungspartei Syriza. Die irische Linkspartei Sinn Féin hatte ihn eingeladen, um über die Situation in Griechenland und den Widerstand gegen die Kürzungspolitik zu diskutieren.

Sinn Féin kämpft an zwei Fronten für ein Ende der Austeritäts- und Sozialkürzungspolitik. Erst am vergangenen Samstag hatte in der Republik Irland ein linkes Bündnis, in dem Sinn Féin als größte Oppositionspartei eine führende Rolle spielt, mehr als 80.000 Menschen gegen die Privatisierung der Wasserversorgung und zusätzliche Steuern auf die Straße gebracht. In Nordirland weigert sich Sinn Féin seit zwei Jahren, die von der britischen Regierung vorgegebenen Kürzungen im Sozialbereich umzusetzen. Sie fordert von den probritischen Parteien eine gemeinsame Gegenwehr gegen die Anweisungen aus London, die gerade im von hoher Arbeitslosigkeit betroffenen Nordirland verheerende Folgen hätte.

Nächstes Jahr finden sowohl in der Republik Irland als auch in Nordirland Wahlen statt und in beiden Teilen der Insel hat Sinn Féin gute Chancen, stärkste Partei zu werden. In der Republik Irland ist eine linke Regierungskoalition möglich. Bis vor kurzem fehlte den konservativen Parteien in Süd und Nord ein Thema, mit dem sie Sinn Féin den Sieg streitig machen könnten. Nun sorgen zwei Morde im kleinen irischen-republikanisch geprägten Viertel Short Strand in Belfast für Schlagzeilen, da die nordirische Polizei auf einer Pressekonferenz »ehemalige oder aktuelle Mitglieder der IRA« zum Kreis der Verdächtigen zählte. Die Kommentatoren der großen Zeitungen im Land spekulieren nun über eine im Geheimen weiterexistierende IRA und lassen die alte Diffamierungskampagne gegen Sinn Féin als politischer Arm der Untergrundarmee wieder aufleben.

Die Irish Republican Army (IRA) hatte am 28. Juli 2005 das Ende ihres bewaffneten Kampfes und wenig später die Vernichtung ihres Waffenarsenals unter Anwesenheit internationaler Beobachter bekanntgegeben und verschwand danach von der Bildfläche. Sinn-Féin-Präsident Gerry Adams nannte die Versuche, die beiden Morde in Belfast zu benutzen, um Sinn Féin politisch zu schwächen, »opportunistisch und zynisch«. Die IRA gebe es nicht mehr. Wer immer für die Morde verantwortlich sei, müsse zur Verantwortung gezogen werden. Er verurteilte »die Medienkampagne und die Spekulationen« und stellte klar, dass seine Partei »ihr Mandat, ihre Rechte und ihre Ansprüche« von den Wählern erhalten habe.

Aber die etablierten Parteien im Süden und die probritischen Parteien im Norden haben sich bereits auf Sinn Fé in eingeschossen. Am Samstag erklärte die probritische Ulster Unionist Party (UUP) den Austritt ihres Ministers aus der Belfaster Regierung und begründete diesen Schritt mit der Weigerung von Sinn Féin, die Existenz der IRA zuzugeben. Sie wurde vom irischen Außenminister Charlie Flanagan unterstützt, der an Sinn Féin appellierte, die IRA zum Verschwinden zu bewegen. In einem Interview mit dem irischen Radiosender RTÉ sagte die Vizepräsidentin von Sinn Féin, Mary Lou McDonald, sie »habe die Schnauze voll von der Schmutzkampagne« und kritisierte insbesondere die Spekulationen der irischen Regierungsparteien.

Erstveröffentlichung:
junge Welt, Ausgabe vom 02.09.2015, Seite 7:

https://www.jungewelt.de/2015/09-02/013.php

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Intrige statt Frieden

von Uschi Grandel, 13.9.2015


Die nordirische Polizei will die Regierungspartei Sinn Féin in die Nähe eines Mordes rücken. Ihre "Informationen" stammen aus britischen Geheimdienstquellen. Die nordirische Allparteien-Regierung steckt in einer tiefen Krise.

Die nach den Vorgaben des Friedensabkommens von 1998 gebildete Allparteien-Regierung in Nordirland steckt in einer tiefen Krise. Am Donnerstag trat der pro-britische Regierungschef Peter Robinson zusammen mit weiteren Ministern seiner Democratic Unionist Party (DUP) zurück. Lediglich Finanzministerin Arlene Foster blieb im Amt und übernahm kommissarisch die Regierungsgeschäfte. Robinson begründete den Schritt der Nachrichtenagentur Reuters zufolge mit der angeblich »noch immer währenden Existenz der IRA«. Der irisch-republikanischen Linkspartei Sinn Féin, die mit Martin McGuinness den stellvertretenden Regierungschef stellt, warf er vor, in einen Mord verwickelt zu sein. Hintergrund ist die Tötung eines ehemaligen Mitglieds der im Jahr 2005 aufgelösten irisch-republikanischen Untergrundarmee IRA und eines weiteren Mannes Mitte August in Belfast. Im Zusammenhang mit der Tat nahm die nordirische Polizei am Mittwoch den langjährigen irisch-republikanischen Aktivisten Bobby Storey fest. Mit dem prominenten Sinn-Féin-Sprecher steigt die Zahl der Verhaftungen auf 16.

Unter den Festgenommenen sind viele angesehene Aktivisten der Linkspartei, die allesamt bereits ohne jede Begründung für ihre Inhaftierung wieder entlassen worden sind. Auch Storey kam am Donnerstag wieder frei. Das nährt den Verdacht der politischen Instrumentalisierung des Mordes mit Hilfe der britischen Geheimdienste, auf deren Weisung die nordirische Polizei PSNI in allen Fällen aktiv wurde. Nachdem die PSNI auf einer Pressekonferenz die IRA mit dem Mord in Verbindung brachte, haben Gegner der Sinn Féin im Süden und im Norden der irischen Insel versucht, daraus politisches Kapital zu schlagen. In der Führungsetage der Linkspartei war der Ärger über die neuerliche Verhaftung groß. Parteipräsident Gerry Adams beschrieb Storey als »geschätztes Mitglied unserer nationalen Führung und eine Person von hoher Integrität, die schon sehr lange für die Partei und für die Menschen in Irland arbeitet«.

Storeys Verhaftung kommt zu einem kritischen Zeitpunkt im irischen Friedensprozess. In Nordirland gibt es seit 2007 eine Allparteienregierung, die das Land unter Führung der Democratic Unionist Party (DUP) und der Sinn Féin stabilisiert hat. Im Frühjahr führte die Auseinandersetzung um die Umsetzung der von Großbritannien geforderten Sozialkürzungen zum offenen Streit in der Koalition. Am vergangenen Dienstag begann eine neue intensive Verhandlungsrunde zur Lösung der Krise. Die kleinere pro-britische Ulster Unionist Party nutzte die Gunst der Stunde und boykottierte die Verhandlungen mit der Forderung, vor weiteren Gesprächen das Thema der IRA auf die Tagesordnung zu setzen. Das brachte auch die regierende DUP, die mit Peter Robinson den nordirischen Regierungschef stellt, unter Druck. Robinson erklärte zunächst am Mittwoch, angesichts der neuen Verhaftungen müsse das Regionalparlament ausgesetzt oder suspendiert werden, ehe er am Donnerstag zurücktrat.

In der irisch-republikanischen Bewegung wächst derweil die Wut über die Festnahmen. Viele sind der Meinung, die eigentliche Agenda sei die Destabilisierung der Regierung, um die Sinn Féin auch im Süden der Insel zu schwächen, wo die Partei mit ihrem klar gegen die Kürzungspolitik der Europäischen Union gerichteten Programm stark an Zustimmung gewonnen hat. Im Frühjahr 2016 stehen in Irland Parlamentswahlen an. Der Schriftsteller und politische Kommentator Danny Morrison sagte am Mittwoch abend, Bobby Storey habe »sich nichts vorzuwerfen«. Für irisch-republikanische Aktivisten sei »glasklar«, was hier vor sich gehe. Nachdem zwei Menschen ermordet wurden, würden Leute festgenommen, aus deren Verhaftung sich politisch das meiste Kapital schlagen lasse. Der stellvertretende Regierungschef Nordirlands, Martin McGuinness (Sinn Féin), erklärte noch am Mittwoch, alles andere als eine baldige Freilassung von Bobby Storey würde ihn sehr verwundern. Die Situation sei jedoch sehr ernst und verlange von der politischen Führung aller Parteien verantwortliches Handeln. Bei den pro-britischen Kräften stieß er mit dieser Warnung offensichtlich auf taube Ohren.

Erstveröffentlichung:
junge Welt, Ausgabe vom 12.9.2015, Seite 7
https://www.jungewelt.de/2015/09-12/034.php

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Quelle:
Info Nordirland / Baskenland
c/o Dr. Uschi Grandel
Holzhaussiedlung 15, 84069 Schierling
Telefon: 0049.(0)9451.949859
E-Mail: info@info-nordirland.de
Internet: www.info-nordirland.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 19. September 2015

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