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ITALIEN/090: Migration - Sizilien als Außenposten Europas in Flüchtlingskrise alleingelassen (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 15. Mai 2015

Migration: Sizilien als Außenposten Europas - In Flüchtlingskrise alleingelassen

von Silvia Giannelli


Bild: © Silvia Giannelli/IPS

Die beiden Somalier Mohammed (l.) und Ahmed (r.), die nach einer Mittelmeerüberquerung in Sizilien ankamen
Bild: © Silvia Giannelli/IPS

AUGUSTA/SYRAKUS, ITALIEN (IPS) - Es ist noch nicht lange her, dass mehr als 700 Menschen im Mittelmeer ertrunken sind, die in Booten von Nordafrika aus die italienischen Küsten erreichen wollten. Inzwischen ist die Insel Sizilien im äußersten Süden Italiens, eines der Hauptanlaufziele für Flüchtlinge, wieder aus dem Scheinwerferlicht der Medien verschwunden. Bis zur nächsten Tragödie - denn die Migrationswelle setzt sich weiter fort.

Am 3. Mai kamen wieder etwa 300 Menschen im Hafen Augusta in der sizilianischen Provinz Syracus an Land. Unter ihnen waren der 19-jährige Ahmed und der 22-jährige Mohammed. Beide stammen aus Somalia und lernten sich in Libyen kennen, wo sie monatelang arbeiteten, um das Geld zu verdienen, das Menschenhändler von ihnen für die Überfahrt verlangten.

Die jungen Männer, die zurzeit in einem Aufnahmezentrum in Syracus untergebracht sind, wollen Italien bald verlassen. Ahmed will sich nach Belgien durchschlagen, wo bereits einige Verwandte leben. Mohammeds Ziel ist Deutschland.


Albtraumhafte Überfahrt

Die Überquerung des Mittelmeers sei fürchterlich gewesen, berichten die zwei Somalier. Doch nun blicken sie hoffnungsvoll in die Zukunft. "Als ich noch in Libyen war, jagte mir das Mittelmeer Angst ein. Von hier aus sieht es jedoch sehr schön aus", sagt Ahmed, der in Europa Medizin studieren möchte.

Für Mohammed war die Bootsfahrt das Härteste, das er jemals erlebt hat. "Aber jetzt bin ich hier, ich bin okay und alles wird besser werden", hofft er. Vor der Abfahrt aus Libyen hatte Ahmed von der Tragödie vom 19. April mit den mehr als 700 Toten gehört. Er ließ sich dadurch aber nicht abschrecken. "In Somalia ist es gefährlicher als auf den Booten", erklärt er.

Ein Carabinieri, der vor dem Zentrum steht, rechnet damit, dass in nächster Zeit ein neuer Flüchtlingsstrom Augusta erreichen wird. "Wir bereiten uns auf die nächste Flut von Menschen vor", sagt er.

Seit Anfang des Jahres haben es bereits mehr als 25.000 Migranten bis nach Italien geschafft. Dabei hat die eigentliche 'Migrationssaison' noch gar nicht richtig begonnen. Europa ist sich jedoch nicht darüber einig, wie auf das Hilfsersuchen der Länder im Süden der EU reagiert werden sollte.

Derzeit ist auf dem Mittelmeer die 'Operation Triton' der europäischen Agentur 'Frontex' im Gang. Im Auftrag der EU soll sie die europäischen Grenzen in Italien sichern. 'Triton' folgte am 1. November auf 'Mare Nostrum', eine breiter angelegte Operation der italienischen Marine und Küstenwache zur Seenotrettung von Flüchtlingen.

Auf einem außerordentlichen EU-Gipfel am 23. April, der sich mit der Flüchtlingskrise im Mittelmeer befasste, kamen Europas Staats- und Regierungschefs überein, die finanziellen Ressourcen für die Frontex-Mission zu verdreifachen und die Boote von Schlepperbanden zu zerstören. Inzwischen erwarten die Europäer die Zustimmung des UN-Sicherheitsrates für eine Resolution, militärisch gegen die Menschenhändler im Mittelmeer vorgehen zu können. Diskutiert wird auch die Möglichkeit, Schlepperboote vor dem Auslaufen in Richtung Europa untauglich zu machen.


Zwischen Ablehnung und Mitgefühl

Augusta, eine Kleinstadt mit etwa 40.000 Einwohnern, ist einer der wichtigsten Stützpunkte der italienischen Marine auf der Insel und diente als Hauptquartier der im Oktober 2014 abgelaufenen Operation 'Mare Nostrum'. Von April bis Oktober war dort ein Nothilfezentrum für unbegleitete Minderjährige eingerichtet gewesen. Etwa 2.000 Einwohner von Augusta protestierten dagegen und unterzeichneten eine Petition, in der sie die Verlegung des Zentrums und Seeblockaden vor den Häfen in Libyen forderten, von wo aus die Flüchtlingsboote in See stechen.

"In der Petition wird vorgeschlagen, die Kommunen, die nicht zahlungsfähig sind und durch hohe Arbeitslosigkeit belastet werden, von der Aufnahme von Flüchtlingen zu befreien. Das trifft auch auf Augusta zu", sagt Pietro Forestiere von der rechtsgerichteten Partei 'Fratelli d'Italia - Alleanza Nazionale'. "Von einer Stadt, die ihren Bürgern nur noch mit Mühe Dienstleistungen garantieren kann, kann man nicht verlangen, dass sie auch noch Migranten aufnimmt."

Im Oktober wurde das Nothilfezentrum in Augusta geschlossen. Ähnliche Beispiele lassen sich in der gesamten Region finden, die italienweit die höchste Armutsrate und zweithöchste Arbeitslosenrate verzeichnet. Und doch sind in Augusta inmitten der Forderungen nach einem harten Durchgreifen gegen Migranten auch Sympathiebekundungen zu hören, vor allem dann, wenn es um die Flüchtlinge geht.

"Wie wir sind sie aus Fleisch und Blut. Wir können sie nicht einfach ertrinken lassen", sagt Alfonso, der auf dem Markt Fisch verkauft. "Sie fliehen vor Kriegen und Armut. Wenn wir nicht verhindern können, dass sie hierher kommen, müssen wir ihnen helfen, sobald sie die Küste erreicht haben."

Die meisten Menschen in Sizilien scheinen sich nicht vor der Ankunft weiterer Flüchtlinge zu fürchten. Sie fühlen sich jedoch in der auch für sie schwierigen Lage im Stich gelassen. "Dies ist ein Hafen. Wir sind daran gewöhnt, viele Ausländer zu sehen", sagt ein Mann, der auf dem Markt einkauft. "In unserem Alltag spüren wir nicht viel von den Flüchtlingen. Trotzdem muss etwas getan werden, weniger für uns, als für sie. Allein schaffen wir das nicht. Es ist ein europäisches, wenn nicht sogar ein globales Problem, und Europa muss handeln." (Ende/IPS/ck/15.05.2015)


Link:

http://www.ipsnews.net/2015/05/migrants-between-scylla-and-charybdis-2/

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IPS-Tagesdienst vom 15. Mai 2015
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Mai 2015

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