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ITALIEN/140: Staatsakt für Erdbebenopfer (Gerhard Feldbauer)


Staatsakt für Erdbebenopfer

Italien trauert. Bewohner der zerstörten Orte hoffen, dass Hilfsgelder auch bei ihnen ankommen

von Gerhard Feldbauer, 27. August 2016


Nach dem verheerenden Beben in der Nacht zum Mittwoch ehrt Italien die Opfer mit einem Staatsbegräbnis. Anlässlich der Bestattung von 40 Opfern der Apennin-Dörfer Arquata del Tronto und Pescara del Tronto wurde für Samstag Staatstrauer ausgerufen. Zur Trauerfeier in der Stadt Ascoli Piceno werden nach Angaben der Nachrichtenagentur ANSA die Spitzen des Staates erwartet, darunter Präsident Sergio Mattarella und Regierungschef Matteo Renzi. Die Zahl der Todesopfer stieg inzwischen auf 284. Die Bergungsarbeiten wurden durch zahlreiche Nachbeben erschwert, von denen seit Mittwoch über 900 gezählt wurden. Obwohl seit der Rettung eines achtjährigen Mädchens am Mittwochabend kein Überlebender mehr geborgen werden konnte, setzten die rund 4.000 Einsatzkräfte und Helfer ihre Suche in den Trümmern der schwer zerstörten Dörfer in den Regionen Latium, Marken und Umbrien fort.

Während die Polizei gegen Plünderer der zerstörten Häuser vorging, besuchte Renzi die heimgesuchte Region. Auf einer Krisensitzung der Regierung hatte er am Donnerstag erklärt, den Wiederaufbau in der Erdbebenregion sofort in Angriff zu nehmen und eine erste Hilfstranche in Höhe von 50 Millionen Euro freigegeben. Die Hilfe für die Opfer und der Wiederaufbau der zerstörten Dörfer seien, wie er laut ANSA sagte, "die Priorität der Regierung". Das Land zeige in schweren Zeiten sein wahres Gesicht: "Keine Familie, keine Stadt, kein Weiler werden alleine gelassen". Die Hilfsgelder, die er für den Wiederaufbau der zerstörten Orte bereitstellte, dürften jedoch nur ein Tropfen auf den heißen Stein sein.

Eine Welle der Solidarität erfahren die Opfer auf dem gegenwärtigen von der linken Unita veranstalteten Pressefest der Partito Democratico (PD), wo auch Spenden gesammelt werden. Die parteiinterne Auseinandersetzung in der PD über die Abstimmung im Referendum über die Verfassungsreform zur Abschaffung des Senats als zweiter Kammer, die auch dort Gegenstand der Debatten war, ist angesichts des als nationale Katastrophe gesehenen Erdbebens in den Hintergrund getreten. Die Aufrufe der Anhänger des PD- und Regierungschefs zur Einheit der Partei gewinnen an Boden.

Italien gehört nach den Statistiken zu den am meisten von Erdbeben heimgesuchten Ländern der Erde. Was die Mailänder Wochenzeitschrift Espresso in ihrer jüngsten Ausgabe "ein russisches Roulette" nennt, führen Experten darauf zurück, dass unter dem Apennin-Gebirge die afrikanische und die eurasische Platte aufeinanderstoßen. Die römische La Repubblica erinnerte am Freitag daran, dass das jetzige Terremoto zu den 10 schlimmsten in den letzten 50 Jahren gehört und führt unter anderem an: Das im Belizetal auf Sizilien, wo im Januar 1968 sieben Gemeinden dem Erdboden gleich gemacht, neun weitere schwer zerstört, über 400 Menschen den Tod fanden, Tausende verletzt und mehr als 70.000 obdachlos wurden; im Mai 1976 in Friuli/Venezia, fanden 695 Menschen den Tod; im November 1980 gab es in Basilicata 2914 Tote, 8448 Verletzte und mehr als 300.000 Obdachlose; und das letzte schwere Beben im April 2009 in Aquila nordwestlich von Rom am Fuße des Grans Sasso mit 309 Toten, 1600 Verletzten und 80.000 Obdachlosen. Die jetzigen Opferzahlen nähern sich bereits denen von L'Aquila an, berichtete ANSA.

Obwohl die Regierung der Democrazia Cristiana damals den Opfern des Belizetales 650. Mrd. Lire (umgerechnet etwa zwei Mrd. DM) bereitgestellt hatte, lebten zehn Jahre später 50.000 von ihnen noch immer in Baracken, die sie als Notunterkünfte bezogen hatten, ohne sanitäre Einrichtungen, ohne fließendes Wasser und oft auch ohne Strom. Unter der Misere leiden, so wird jetzt bekannt, oft noch die Kinder und Enkelkinder der damaligen Opfer. Die Hälfte der Hilfsgelder versickerte, wie Zeitungen berichteten, in den örtlichen Verwaltungen oder floss von dort in die Taschen der Mafia. Solche Fälle wurden immer wieder auch nach den folgenden Erdbeben bekannt. Auch den Opfern von Aquila erging es unter der Regierung des faschistoiden Premiers Berlusconi, der der Komplizenschaft mit der Mafia beschuldigt wurde, ähnlich. Von 1000 Kleinbetrieben fanden nur 300 in Behelfsquartieren Aufnahme, während die übrigen ihrem Schicksal überlassen wurden. Über die Verwendung von angeblich bereit gestellten 1,7 Milliarden Euro Aufbauhilfe wurde nie etwas bekannt. Aquila wurden in den Medien jahrelang "eine tote, sterbende Stadt" genannt. Auch heute erinnern noch ganze Stadtteile daran.

Wie es in der Vergangenheit den Opfern erging, erfüllt die jetzt Betroffenen mit Sorge. Sie hoffen, dass es ihnen unter der jetzigen Regierung des sozialdemokratischen Premier Renzi von der Partito Democratico (PD) nicht ebenso ergehen werde.

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Quelle:
© 2016 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 28. August 2016

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