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ITALIEN/168: Europäischer Gerichtshof verurteilt Italien wegen Verletzung der Menschenrechte (Gerhard Feldbauer)


Europäischer Gerichtshof verurteilt Italien wegen Verletzung der Menschenrechte

2016 wurden 120 Frauen umgebracht

von Gerhard Feldbauer, 8. März 2017


Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat am 2. März Italien wegen Unterlassung des Schutzes seiner Bürger verurteilt. Es ging um die 52jährige rumänische Immigrantin Elisaveta Talpis, Mutter zweier erwachsener Kinder in Remanzacco in der Provinz Udine. Sie wurde über Jahre von ihrem Ehemann misshandelt, ohne dass etwas zu ihrem Schutz unternommen wurde. 2013 hatte der gewalttätige Alkoholiker seinen 19-jährigen Sohn, der seiner Mutter zu Hilfe kommen wollte, mit einem Messer getötet und die Frau lebensgefährlich verletzt. Danach war er zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt worden. Elisaveta Talpis reichte 2014 in Straßburg Beschwerde gegen die zuständigen italienischen Justiz- und Polizeibehörden ein, weil diese ihre wiederholten Anzeigen wegen schwerer körperlicher Misshandlungen - während der sie auch zum Geschlechtsverkehr mit Freunden des Mannes gezwungen wurde - und ihre dringende Bitte um Schutzmaßnahmen nicht ernst genommen hatten. Der Corriere della Sera berichtete, dass die Polizisten wiederholt nur die Angriffe des Mannes, der seine Frau mit einem Messer schwer verletzte, protokollierten und dann wieder gingen. Auch dass die Ärzte eines Krankenhauses ein Schädeltrauma und zahlreiche Verletzungen der Frau diagnostizierten, war für die Polizei kein Grund, einzuschreiten.

Italien wurde wegen Verstoßes gegen den Artikel 2 (Recht auf Leben), Artikel 3 (Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung) und Artikel 14 (Verbot von Diskriminierung) der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte zur Zahlung von 30.000 Euro Schmerzensgeld und der Übernahme von 10.000 Euro Anwaltskosten. Das Magzine delle Donne verdeutlich in seiner jüngsten Ausgabe ausdrücklich, dass die Untätigkeit der Behörden zu einer Situation der Straflosigkeit und letztlich zum Tod des Sohnes geführt habe. Die danach verschärften Gesetze würden noch immer "keinen genügenden Schutz" bieten, schreibt das Frauenmagazin, das anlässlich des Internationalen Frauentages Sexismus, Rassismus und die Benachteiligung der Frau entschieden verurteilt und ihre universelle Gleichberechtigung fordert.

Der Vorfall ist, wie die Nachrichtenagentur ANSA schrieb, ein Beispiel unter unzähligen, die sich fast täglich ereignen und als "femminicidio", abgeleitet von Uxoricidio (Gattenmord), bezeichnet werden. 2016 wurden 120 Frauen von ihren Ehemännern, früheren Freunden oder Geliebten umgebracht, was gegenüber dem Vorjahr ein Ansteigen um zehn Prozent auf 82 ausmachte. Die Dunkelziffern werden viel höher geschätzt. Jede vierte Frau in Italien sei schon einmal Opfer von sexueller Gewalt geworden. Zu den Ursachen dieser noch heute tief verwurzelten archaischen machohaften Verhaltensweisen gehört, dass für sogenannte Ehrenverbrechen, dem unzählige Frauen zum Opfer fielen, in Italien bis 1981 mildernde Umstände gewährt und meist geringfügige Strafen verhängt wurden. Sexuelle Gewalt galt bis 1996 nicht als eine Straftat, sondern lediglich als Verstoß gegen die Öffentliche Ordnung.

Zum sozialen Hintergrund gehört, dass die Frau in der Gesellschaft des Kapitals diskriminiert wird, es für sie keine Gleichberechtigung gibt, Frauen weniger verdienen als ihre männlichen Kollegen und in Krisen als erste ihren Job verlieren . Mit Kleinkindern haben sie kaum Chancen, einen Arbeitsplatz zu finden. Nur sieben Prozent aller Kinder unter drei Jahren bekommen einen Krippenplatz. Eine gesetzliche Elternzeit für Väter gibt es nicht. Die soziale Ausgrenzung hat in vielen Familien zur Folge, dass die Frau sich auch da unterzuordnen hat. Das Amt für Statistik ISTAT stellte fest, dass fast jede zweite Frau ohne eigenes Einkommen keinen Zugriff auf das gemeinsame Konto hat. Daraus ergibt sich, wer die Entscheidungen trifft. Dass trägt dazu bei, dass Frauen in der Ehe Demütigungen aus Angst, dann verstoßen zu werden, ertragen.

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Quelle:
© 2017 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 9. März 2017

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