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ITALIEN/236: Für Carlo Paolini, seine Frau und Millionen Arme gibt es keinen Ferragosto (Gerhard Feldbauer)


Für Carlo Paoloni und seine Frau im bella Napoli gibt es keinen Ferragosto

Und so ergeht es Millionen der Armen in Italien

von Gerhard Feldbauer, 13. August 2018


Der Ferragosto am 15. August ist für die Italiener einer der wichtigsten Feiertage. Mit Temperaturen vor allem im Süden von über 40 Grad gilt er als der heißeste Tag des Jahres. Die meisten Italiener nehmen ihren gesamten Jahresurlaub rund um diesen Tag und wer es sich leisten kann, fährt vor allem ans Meer. An den kilometerlangen Stränden der Adria reihen sich dann die Sonnenliegen dicht aneinander.

Der Ferragosto geht auf den ersten römischen Kaiser Augustus zurück, der nach seinen Siegen über Marcus Antonius und Kleopatra in Ägypten 29 vor Christi vom 13. bis 15. August Triumphfeiern, "Feriae Augusti", anordnete. Davon ist der 15. August verblieben, der mit der Einführung des Christentums auch zum Feiertag der Mariä Himmelfahrt wurde. Er ist auch heute noch der Mittelpunkt einer wie staatlich verordneten Ferienzeit. Fast das gesamte wirtschaftliche Leben kommt zum Stillstand, die Geschäfte schließen, in den Behörden wird Urlaub angeordnet und die Werksferien der großen Unternehmen werden in diese Zeit verlegt. Die italienischen Schüler haben nur einmal im Jahr Ferien, dafür aber richtig lange: Von Ende Juni bis Anfang September.

Ich habe Carlo Paoloni aus Ercolano bei Neapel gefragt, wie er den Ferragosto verbringen wird. Bis vor kurzem arbeitete er in einer Druckerei, die in Konkurs ging. Eine neue reguläre Arbeit hat der 61jährige nicht gefunden. Er schlägt sich mit einem Gelegenheitsjob für 25 bis 30 Euro täglich durch und kommt derzeit auf etwa 360 Euro im Monat. Seine Frau verdient als "Putze" im Stundenlohn sechs Euro, da kommen nochmal 250 Euro dazu. Gesundheitlich steht es für beide nicht zum Besten, selbst für Medikamente fehlt jetzt schon das Geld. An eine Kur, die ihnen der Arzt dringend empfiehlt, ist nicht zu denken. Als erstes sind sie aus dem Zentrum Neapels ins Randgebiet nach Ercolano etwa acht Kilometer südlich in eine billigere kleine Zwei-Zimmerwohnung umgezogen.

Mit Nebenkosten zahlen sie 250 bis 300 Euro. Sie haben Glück, Bekannte haben sie ihnen so "billig" besorgt, denn sonst bezahlt man wenigstens die Hälfe mehr. Zum täglichen Leben, für Lebensmittel, für Strom, Fernsehen, eine Busfahrt und was man sonst noch braucht, bleiben ihnen rund 300 Euro im Monat. An einen Kino-Besuch oder gar ins Theater zu gehen ist nicht zu denken. Sie haben eine Tochter und einen Sohn, die einigermaßen zu Recht kommen. Wenn der Sohn ihnen nicht etwas helfen würde, wüssten sie manchmal nicht, wie es weiter gehen sollte. Und mit Sorge sehen sie in die Zukunft. Denn auch Paolo hat oft schwarz gearbeitet, die Rente wird niedrig ausfallen.

Ferragosto, "Ci siamo struccati", das haben wir uns also abgeschminkt, sagt Paolo. Der war schon früher, und das auch nicht jedes Jahr, auf drei bis vier Tage, maximal eine Woche in einer einfachen Pension oder einer kleinen Ferienwohnung begrenzt. Manchmal haben sie sich eine mit Freunden geteilt. Jetzt ist das unerschwinglich geworden, denn Ersparnisse besitzen sie nicht.

Er berichtet von einer bekannten Familie mit zwei Kindern, die dieses Jahr für eine Woche am Meer in einer mittleren Pension mit Verpflegung, nicht eingeschlossen die Fahrtkosten im Auto, für die Benutzung der Strandanlagen mit Sonnenschirmen, Liegestühlen, der Kinderspielplätze und ein bis zwei touristische Ausflüge 3.742 Euro bezahlte. Das ist etwa das Dreifache des Monatslohnes eines Arbeiters. Dabei haben sie frühzeitig gebucht, denn im August steigen die Preise oft auf das Zwei- bis Dreifache an. Eine Ferienwohnung mit zwei Räumen kostete ohne alles etwa 600 Euro pro Woche.

Sie hoffen, am Ferragosto vielleicht am Lido einen Platz zu finden. Laut Gesetz muss an einigen Stellen der Zugang kostenlos gewährt werden. Aber daran hält sich niemand und es wird überall Eintritt kassiert.

So wie Carlo Paoloni geht es Millionen der Ärmsten im bella Italia und vielen noch schlimmer, wie er sagt. Nach einem Bericht des Statistischen Amtes ISTAT lebten Ende 2016 von 60,6 Millionen Einwohnern rund 15 Millionen in bitterster Armut. Besonders schlimm ist die Lage der Rentner: 7,6 Millionen (45 Prozent) müssen mit weniger als 1.000 Euro im Monat, 2,4 Millionen (14,4 Prozent) sogar mit weniger als 500 Euro über die Runden kommen. Die Jobs Act genannte Arbeitsmarktreform der Regierung des Partito Democratico (PD) unter Premier Matteo Renzi, die sich sozialdemokratisch ausgab, hat den Kündigungsschutz beseitigt, das Arbeitslosenheer auf 10,9 Prozent anwachsen lassen, darunter bei Jugendlichen von 15 bis 24 Jahren auf derzeit 31,7 Prozent, bei jungen Erwachsenen von 25 bis 34 Jahren auf 16 Prozent. Die 2017 auf 25 Prozent erhöhte Mehrwertsteuer hat die Inflationsrate weiter in die Höhe getrieben.

Das traurigste Kapitel in diesem Elend ist die Lage der Kinder und Jugendlichen. Laut ISTAT lebten 1,3 Millionen von ihnen (12,5 Prozent der Gesamtzahl) 2016 in absoluter Armut. Mehr als die Hälfte lesen keine Bücher, fast jeder Dritte kennt das Internet nicht und mehr als 40 Prozent können keinen Sport betreiben, weil sie den Eintritt in die Vereine oder auch die oft teure Kleidung, so für Fußballer, nicht bezahlen können. Es gibt für sie, so ISTAT, keine Bildungsmöglichkeiten und - räume für sportliche, künstlerische und kulturelle Aktivitäten.

Gar nicht zu reden von den Hunderttausenden Migranten, denen, von dem dafür fehlenden Geld abgesehen, jetzt im Rahmen der von der Regierung der Lega/M5S angestachelten rassistischen Hetze schon so der Zugang zu diesen Aktivitäten verweigert wird. Und einen Ferragosto gibt es natürlich für sie auch nicht.

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Quelle:
© 2018 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 15. August 2018

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