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ITALIEN/350: Conte gewinnt Abstimmung über ESM-Reform des EU-Recovery-Fund (Gerhard Feldbauer)


Noch einmal der Krise entkommen

Italiens Premier Conte gewinnt Abstimmung über ESM-Reform des EU-Recovery-Fund
Einigung in Brüssel begrüßt

von Gerhard Feldbauer, 11. Dezember 2020


Nachdem Italiens Premier Giuseppe Conte am Mittwoch (9. Dezember) mit viel Mühe in Rom von beiden Kammern des Parlaments grünes Licht für die Annahme der "Reform" des EU-Rettungsschirms ESM erhalten hatte, konnte er am Freitag dann auf dem EU-Gipfel in Brüssel ein weiteres Mal aufatmen. Die Staats- und Regierungschefs der Union billigten nach hitzigen Debatten das umstrittene Projekt, das bis zuletzt am Veto von Ungarn, Polen und Slowenien zu scheitern drohte.

Die staatliche Nachrichtenagentur "ANSA" zitierte am Freitag (11. Dezember) die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen: "Europa geht weiter." Der nächste EU-Haushalt und die Next Generation EU werde "1,8 Billionen, um unsere Erholung voranzutreiben und eine widerstandsfähigere, grünere und digitalere EU aufzubauen", enthalten.

Nach der von den EU-Finanzministern Ende November erreichten Einigung sollen die Mittel einerseits vorsorgliche Kreditlinien für Staaten in Wirtschafts- und Finanzkrisen erleichtern, zum anderen sollen die EU-Institutionen eine Rückversicherung für die Bankenabwicklung übernehmen. Dieser gemeinsame "Backstop" soll zwei Jahre früher starten als ursprünglich gedacht: 2022 statt 2024. Conte übermittelte einen "Herzlichen Glückwunsch an die deutsche Ratspräsidentschaft". Dies bedeute, dass "enorme Ressourcen für Italien freigesetzt werden können: 209 Milliarden".

Entgegen einer erwarteten Niederlage, nach der sein Rücktritt gefordert worden war, hat der parteilose Premier Giuseppe Conte an der Spitze einer Mitte-Links-Regierung am Mittwoch in der Abgeordnetenkammer bei der Abstimmung über die Annahme der "Reform des europäischen Rettungsschirms ESM" des EU-Recovery-Fund (in Italien Meccanismo europeo di stabilità - MES genannt) mit 314 Für- und 239 Gegenstimmen und danach im Senat mit 156 Für- und 129 Gegenstimmen eine Mehrheit erhalten.

Der von den Mitgliedern der "Gemeinschaft" gegründete MES, der in Krisenzeiten helfen sollte, die "Stabilität der Gemeinschaftswährung" abzusichern, war in Italien lange abgelehnt worden, weil die Gelder an strenge Kürzungsmaßnahmen gebunden wurden und in die Souveränitätsrechte eingriffen, wofür Griechenland als warnendes Beispiel gesehen wurde. Da Rom die Gelder aber braucht, wurde der Antrag auf eine Zustimmung zu der "Reform" jetzt von den Parteien der Mitte-Links-Koalition - der sozialdemokratische Partito Democratico (PD), die Fünf Sterne (M5S), Lebendiges Italien (IV) und Freie und Gleiche (LeU) - eingebracht. Vor dem Votum hatte Conte an die Parlamentarier appelliert, Rom solle vor dem am Donnerstag in Brüssel beginnenden EU-Gipfel, der dem ESM zustimmen müsse, "ein Signal der Geschlossenheit" geben. Gegenüber der römischen Tageszeitung "La Repubblica" hatte er optimistisch verbreitet, seine Regierung werde an der "Reform" nicht zerbrechen. Die Zustimmung hatte er dann laut "ANSA" vom Donnerstag (10. Dezember) als Grundlage dafür gewertet, in der EU weiter für "eine Reform des MES kämpfen zu können". Zuvor hatte er bekundet, das "Erscheinungsbild" der Europäischen Union ändere sich derzeit und sich überzeugt gezeigt, dass "das neue Europa den engen Ansatz der Sparpolitik überwinden wird".

Zu den Forderungen der Kommission, den Ausstoß von Treibhausgasen bis 2030 um mindestens 55 Prozent im Vergleich zu 1990 zu senken, hatte er vorab versichert, "der Kampf gegen den Klimawandel" werde "Priorität erhalten". Die Umsetzung des MES will er in die Wirtschaft verlagern und "einer Struktur von sechs Managern anvertrauen", die "mit Ersatzbefugnissen handeln" können.

Die Parteien der faschistischen Allianz aus der Lega Salvinis, den Brüdern Italiens (FdI) von Giorgia Meloni und Berlusconis Forza Italia (FI) hatten das MES abgelehnt und damit einen weiteren Versuch gestartet, Conte zu stürzen, waren sich aber über das Vorgehen nicht einig. Berlusconi scheute die offene Konfrontation, da seine FI auf europäischer Ebene immer noch zur EVP gehört, deren Führung maßgeblich zur Entwicklung des jetzt auf der Brüsseler Tagesordnung stehenden Projektes beitrug. Der Ex-Premier liebäugelte, von seinem alten Kollaborateur IV-Chef Renzi ermuntert, eher damit, in eine Regierung unter einem neuen Premier (die Rede war von eben jenem Renzi), einzutreten. Salvini beschuldigte Berlusconi daraufhin, "sich mit dem Feind angelegt zu haben", worauf drei Abgeordnete der FI zur Lega überwechselten, was FdI-Chefin Giorgia Meloni als "Werk der Regierung" bezeichnete, die auf "Divide et impera" setze, worauf man nicht hereinfallen solle. Jedenfalls hat die faschistische Rechte den Zwist erstmal beigelegt und gemeinsam gegen MES gestimmt.

Aber auch in der Regierungskoalition hatten sich zunächst Kräfte, zuletzt die IV, geschlossen dagegen und in M5S eine zur Lega neigende Dissidenten-Fronde von 52 (von 207) Abgeordneten und 16 (von 197) Senatoren dagegen ausgesprochen. Matteo Renzi hatte erklärt, seine IV könnte dagegen stimmen und bei einer Niederlage müsste Conte zurücktreten.

Sowohl in M5S als auch der IV erfolgte eine Kehrtwende. Die IV stimmte geschlossen für Conte und in der Sternepartei waren es nur sieben Abgeordnete, die mit Nein votierten, im Senat nahmen neun nicht an der Abstimmung teil, zwei lehnten ab.

Durch ihre Regierung mit der faschistischen Lega sind die Sterne, die bei der Parlamentswahl im März 2018 auf gut 32 Prozent Stimmen kamen, bei Regionalwahlen 2019 und im Frühjahr dieses Jahres bis auf sieben Prozent abgesackt. Im April steht die Wahl des Bürgermeisters von Rom, zu der Amtsinhaberin Virginia Raggi von M5S zur Wiederwahl antreten will, bevor. Die Furcht, auch in der Hauptstadt eine Niederlage zu erleiden, wird als entscheidend für den jetzigen Schwenk bei der MES-Abstimmung gesehen.

Wie "ANSA" zu entnehmen ist, schwebt das Damoklesschwert dennoch weiter über Conte. Die Regierungskrise sei einmal durch die "Orthodoxen" der Fünf Sterne, andererseits durch Italia Viva verschärft worden, und dieses Risiko bestehe weiter. Mit der Forderung Renzis, "wir werden im Kontrollraum anwesend sein", verlange er mehr Kontrolle der Regierung durch das Parlament.

Dass die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes, darunter im Bildungs- und Gesundheitswesen, gestern einem Aufruf der Fachverbände der drei großen Gewerkschaften CGIL, CISL und UIL folgten und ganztägig streikten, um den Abschluss eines neuen Tarifvertrages (der alte ist 2018 ausgelaufen), bessere Arbeitsbedingungen und Lohnerhöhungen zu fordern, ist in der Parlamentsdebatte mit keinem Wort erwähnt worden. Der Ausstand verdeutlicht ein weiteres Mal, wie wenig die Lage in der Arbeitswelt in der Regierungspolitik eine Rolle spielt, heißt es in dem Aufruf der CGIL dazu.

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Quelle:
© 2020 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Dezember 2020

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