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INNEN/480: Schengen als Schönwetter-Solidarität? Andreas Pudlat zu EU-Grenzkontrollen (idw)


Stiftung Universität Hildesheim - 07.06.2012

Schengen als Schönwetter-Solidarität? Experte der Uni Hildesheim über EU-Grenzkontrollen

Experte: "Über die Rahmenbedingungen für einen Raum der Freiheit mit Sicherheit entscheiden" / Am heutigen Donnerstag beraten die EU-Innenminister in Luxemburg über die Wiedereinführung von Grenzkontrollen im Schengen-Raum. Das Schengener Abkommen garantiert die Reisefreiheit in Europa. Dürfen Staaten des Schengen-Raums entscheiden, ob sie ihre Landesgrenze schließen, wenn sie ihre innere Sicherheit bedroht sehen? Der Kriminologe und Historiker Andreas Pudlat von der Stiftung Universität Hildesheim befasst sich seit 2006 intensiv mit dem Schengen-Prozess. Ein Kommentar.



Als 1985 in Schengen von fünf Nationalstaaten der Abbau systematischer stationärer Grenzkontrollen beschlossen wurde, geschah dies "in dem Bewußtsein, daß die immer engere Union zwischen den Völkern der Mitgliedstaaten der europäischen Gemeinschaften ihren Ausdruck im freien Überschreiten der Binnengrenzen durch alle Angehörigen der Mitgliedstaaten [?] finden muss" (Präambel). Die Staaten verstanden sich als Vorreiter für andere EG-Staaten, wollten die "Solidarität zwischen ihren Völkern" bekräftigen. Bald drei Jahrzehnte später sehen wir ihren beeindruckenden Erfolg: die immense Zahl der Anwenderstaaten - nicht nur EU-Mitglieder -, die dadurch intensivierte polizeiliche Zusammenarbeit und auch die Überführung von "Schengen" in EU-Recht.

Wenn dieser Tage darüber beraten wird, wem die Entscheidungshoheit über die befristete Wiedereinführung von Grenzkontrollen obliegen soll, dann geht es um die Lösung objektiver Probleme (Migrationsdruck, Kriminalitätsaufkommen) und die Vorbereitung auf potenzielle Gefährdungslagen. Das allein ist kein anti-europäischer Rückfall in Nationalismus, auch wenn die Motive einzelner Beteiligter zuweilen zweifelhaft sind. Das Gewaltmonopol wie auch die Kriminal- und Migrationspolitik liegen trotz EU-Recht und aller europäischer Implikationen immer noch in der Zuständigkeit der Nationalstaaten. Dass diese zu ihrem Repertoire an Reaktionsmöglichkeiten auch die befristete Wiedereinführung von Grenzkontrollen zählen wollen, ist nachvollziehbar, richtig und darf nicht auf Ereignisse mit positivem Identifikationspotenzial, wie Sportveranstaltungen, beschränkt werden.

Es muss aber kritisch gefragt werden, ob die in der Schengen-Präambel betonte Solidarität dann zur Schönwetter-Solidarität verkommt, wenn bei objektiven Problemen europäische Partner formaljuristisch an der eigenständigen Erfüllung ihrer Grenzsicherungspflichten gemessen, sonst aber im Stich gelassen werden. Besteht der einzige Lösungsansatz in vorübergehenden Grenzkontrollen, dann ist das ganz im Sinne aktueller Trends in Kriminal- und Migrationspolitik: effizient und repressiv, fernab vernünftiger Prävention. Das Ratstreffen der EU-Justiz- und Innenminister kann das nicht verhindern. Es kann nur grundsätzlich - ganz im Geiste von Schengen - über die Rahmenbedingungen für einen Raum der Freiheit mit Sicherheit entscheiden.

ZUR PERSON:
Andreas Pudlat, Dr. phil. M.A., Studium der Kriminologie und Polizeiwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum sowie der Neueren und Neuesten Geschichte, Pädagogik, Sozial- und Wirtschaftsgeographie an der TU Chemnitz. 2010 Promotion, seit 2006 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte der Stiftung Universität Hildesheim. Sein Buch "Schengen. Zur Manifestation von Grenze und Grenzschutz in Europa" erscheint voraussichtlich Mitte des Jahres im Hildesheimer Olms-Verlag.

Weitere Informationen unter:
http://www.uni-hildesheim.de/index.php?id=geschichte
- Institut für Geschichte, Stiftung Universität Hildesheim

http://www.schengen-grenzen.de/
- Stiftung Universität Hildesheim, Projekt: Reflexion und Visualisierung des Schengener Abkommens

http://www.auswaertiges-amt.de/DE/EinreiseUndAufenthalt/Schengen_node.html
- Auswärtiges Amt: Entstehungsgeschichte des Schengener Abkommens

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/de/institution102

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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Stiftung Universität Hildesheim, Isa Lange, 07.06.2012
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Juni 2012