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PARTEIEN/242: Gordon Brown kündigt Rücktritt als Labour-Chef an (SB)


Gordon Brown kündigt Rücktritt als Labour-Chef an

Clegg verhandelt über Labour-Lib-Dem-Koalition - Tories toben


In Großbritannien gehen die Beratungen über die Bildung einer neuen Regierung in den fünften Tag. Angefangen haben sie bereits am Nachmittag des 7. Mai nach Bekanntwerden des amtlichen Endergebnisses der Unterhauswahlen vom Vortag. Gemäß einer früheren Zusicherung sind die drittplazierten Liberaldemokraten unter Nick Clegg der Einladung der von David Cameron geführten, bisher oppositionellen Konservativen, die zwar mit 306 Sitzen stärkste Fraktion wurden, jedoch knapp die absolute Mehrheit verfehlt hatten, zu Gesprächen über die Bildung einer gemeinsamen Koalition bzw. die Duldung einer Minderheitsregierung gefolgt. Nach mehreren Tagen, an denen die Stellungnahmen der Unterhändler auf eine baldige Einigung hindeuteten, kam es am 10. Mai zu einer sensationellen Wende, als Premierminister Gordon Brown auf einer Pressekonferenz seinen Rücktritt als Labour-Chef für den Herbst ankündigte und damit den Weg für Koalitionsverhandlungen zwischen seiner Partei und den Lib Dems über die Bildung einer "progressiven" Regierung freimachte, die am selben Abend prompt begannen.

Presseberichten zufolge hatte Clegg noch während der Gespräche mit den Tories geheime Vorverhandlungen mit Labour geführt, deren Ergebnis der Rücktritt Browns ist. Von der überraschenden Wende fühlten sich die Konservativen düpiert. Während sie innerlich tobten, appellierten sie an Clegg, sich doch noch für sie zu entscheiden, um Großbritannien eine "stabile Regierung" zu geben. Um die Liberaldemokraten herumzubekommen, bot Cameron ihnen am selben Abend eine Regierungspartnerschaft auf Augenhöhe sowie die Erfüllung ihrer wichtigsten Forderung, die Durchführung einer Volksbefragung während der kommenden Legislaturperiode über die Einführung eines neuen Wahlrechts, das zur Folge hätte, daß die Sitze im Parlament gemäß den landesweiten Stimmenanteilen der Parteien gerechter verteilt wären, an.

Im britischen Unterhaus gibt es 650 Sitze. Theoretisch bedeutet daß, das man 326 Sitze für eine Mehrheit braucht. Doch in der wirklichen Welt sieht es anders aus. Die nordirische Partei Sinn Féin, der politische Arm der Irisch-Republikanischen Armee (IRA), die für die Wiedervereinigung Irlands eintritt und bei der Unterhauswahl fünf Sitze gewonnen hat, weigert sich aus prinzipiellen Gründen - Anerkennung der britischen Krone et cetera - ihre Sitze einzunehmen. Also sind für eine Regierungsmehrheit lediglich 323 Stimmen erforderlich. Des weiteren ist während des jüngsten Wahlkampfes in einem Wahlkreis ein Kandidat gestorben, also muß dort irgendwann in den kommenden Monaten eine Nachwahl - by-election - durchgeführt werden. Da der Sitz seit Jahrzehnten in Tory-Händen liegt, geht man davon aus, daß deren Kandidat auch diesmal gewinnen wird. Dann hätten die Konservativen 307 Sitze statt derzeit 306. Nichtsdestotrotz ist es letztere Zahl, die beim aktuellen Machtpoker im Londoner Parlamentsviertel Westminster Relevanz hat. Ihr stehen die 258 Sitze der zweitplazierten, sozialdemokratischen Labour-Partei gegenüber, während die Liberaldemokraten über 57 verfügen.

Praktisch bedeutet das, daß die Tories ohne die Liberaldemokraten nicht regieren können. Ihre Möchtegern-Partner von der protestantisch-probritischen Ulster Unionist Party (UUP) haben bei der Wahl keinen einzigen Sitz erringen können. Es besteht theoretisch die Chance, daß sie mit der UUP-Konkurrenz, der Democratic Unionist Party (DUP), die über 8 Sitze verfügt, irgendeinen Deal machen könnten, aber das brächte sie nur auf 314. Danach wird es für die Tories eng. Als konservativ bis reaktionäre Partei, deren Kerngebiet im wohlhabenden Südostengland liegt und die als Interessensvertreterin vor allem des alteingesessenen Landadels und der Londoner Hochfinanz gilt, sind ihre Chancen, die Scottish Nationalist Party (SNP) - 3 Sitze - auf ihre Seite zu ziehen, gering bis gar nicht existent. Dasselbe gilt für die walisischen Nationalisten von der Plaid Cymru, die auch über 3 Sitze im Londoner Unterhaus verfügen und die in der Provinzregierung in Cardiff zusammen mit Labour koalieren. Aufgrund der ideologischen Unterschiede läßt sich schwer erkennen, wie sich die Konservativen die Unterstützung von der katholisch-nationalistischen Social Democratic Labour Party (SDLP) Nordirlands - 3 Sitze -, der ehemaligen UUP-Vertreterin und heutigen unabhängigen Abgeordneten Lady Silvia Hermon, der ersten Unterhausabgeordneten der konfessionsunabhängigen, nordirischen Alliance Party, Naomi Long, oder von Caroline Lucas, der ersten Grünen im Unterhaus, sichern könnten.

Zusammen hätten Labour und die Lib Dems 315 Stimmen und damit mehr als die Konservativen. Da beide Parteien in den ärmeren Teilen des Vereinigten Königreichs, im deindustrialisierten Nordengland sowie in Schottland und Wales weitaus stärker als die Tories vertreten sind, dürfte es ihnen leichter fallen, eine Abmachung mit SNP, Plaid Cymru, SDLP, Hermon, Long und Lucas, die zusammen über 12 Stimmen verfügen, über die Duldung einer Minderheitsregierung zu treffen. Darüber hinaus soll es in den letzten Tagen sogar Gespräche zwischen ranghohen Vertretern von Labour mit denen der nordirischen DUP in der Frage gegeben haben, ob diese unter Umständen nicht bereit wäre, bei Abstimmungen im Unterhaus die Rolle der Mehrheitsbeschafferin einer sozialdemokratisch-liberaldemokratischen Minderheitsregierung zu spielen.

Die Vorstellung, daß es Labour gelingen könnte, ausgerechnet die "Orange Card" - die Stimmen von Ulsters Protestanten - gegen die Tories, die aus parteipolitischem Kalkül selbst in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg zu jenem perfiden Trick gegriffen und so ganz nebenbei jahrzehntelanges Unheil in den irisch-britischen Beziehungen angerichtet haben, auszuspielen, ist vermutlich zu schön, als daß sie Wirklichkeit werden könnte. Obwohl die liberaldemokratische Basis seit Tagen gegen den drohenden Ausverkauf an die verhaßten Konservativen mit kleineren Demonstrationen und Unmutäußerungen in der Presse sowie in Funk und Fernsehen wetterte, dauerte es nicht lange, bis ihre bei der Rücktrittserklärung Browns aufgeflackerten Träume von einer Allianz mit Labour zu zerplatzen begannen.

Gleich am selben Abend sorgte die Nachricht, Clegg habe den Tories den Laufpaß gegeben und gehe auf die Labour-Avancen ein, auf den internationalen Märkten für einen Kursverlust des britischen Pfunds; am nächsten Morgen gaben die Kurse an der Londoner Börse stark nach. In Investorenkreisen traut man es den Konservativen mit ihrer starken Law-and-Order-Tradition und ihren guten Beziehungen zu Justiz, Polizei und Militär eher zu, gegen den Willen weiter Teile der Bevölkerung Großbritanniens die zur Rettung der Staatsfinanzen angeblich notwendigen, drastischen Haushaltskürzungen vorzunehmen. Im Radio und Fernsehen sowie in der rechtsgerichteten Presse ereiferten sich führende Tories und ihnen nahestehende Kommentatoren über die vermeintliche Perfidität der Liberaldemokraten und über die "Koalition der Verlierer", die Clegg und Brown gerade ausheckten. Man stellte die Legitimität einer solchen Regierungskoalition ungeachtet der Tatsache in Frage, daß die Konservativen bei der Wahl am 6. Mai lediglich 36,1 Prozent der abgegebenen Stimmen, Labour (29) und Lib Dems (23) zusammen 52 erhalten hatten.

Torpediert wurden die Bemühungen von Brown, ein Bündnis mit den Liberaldemokraten zu schmieden, nicht zuletzt und auch nicht ganz zufällig vom konservativen Flügel der eigenen Partei. David Blunkett und John Reid, einst Minister am Kabinettstisch Tony Blairs, machten öffentlich Stimmung gegen einen Deal mit den Liberaldemokraten. Ganz, als komme er von einem anderen Stern und habe keine Ahnung von der britischen Parteienpolitik, warf Blunkett Clegg vor, sich mit seinem Schwenk Richtung Labour zu "prostituieren". Auch wenn die Briten, denen in den letzten Jahren durch den Irakkrieg und den Diätenskankal im Parlament ein Gutteil ihres Glaubens an die politische Klasse abhanden gekommen ist, selten Absurderes als die dummdreisten Moralpredigten Blunketts zu hören bekommen haben, hatte doch das Sperrfeuer der sozialdemokratischen Gegner einer politischen Ehe mit den Lib Dems deren Vorsitzendem Clegg eines demonstriert, nämlich daß für ihn Labour, innerhalb deren Führungsriege der Kampf um die Nachfolgeschaft Browns längst ausgebrochen ist, ein zu unsicherer Partner wäre, als daß eine Koalition mit ihr die volle Legislaturperiode überdauern könnte.

Als dann gegen Mittag die Nachricht die Runde machte, Analysten der Bank BNP Paribas in der Londoner City warnten, die Bildung einer Labour-Lib-Dem-Koalition könnte sich negativ auf Großbritanniens Bonität auswirken und das Land in eine Schuldenkrise à la Griechenland stürzen, dauerte es nicht lange, bis es hieß, die Gespräche zwischen Sozialdemokraten und Liberaldemokraten seien "vorübergehend ausgesetzt". "Die Märkte" hatten gesprochen, und wie es aussieht, werden sie bekommen, was sie verlangen. Bereits am Nachmittag des 11. Mai kursierten die ersten unbestätigten Berichte, die Tories und die Liberaldemokraten hätten sich geeinigt, der Rücktritt Browns als Premierminister und Camerons Einzug in Number 10 Downing Street sollten am selben Abend erfolgen...

11. Mai 2010