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PARTEIEN/243: Bloody-Sunday-Tribunal legt Abschlußbericht vor (SB)


Bloody-Sunday-Tribunal legt Abschlußbericht vor

Cameron entschuldigt sich wegen Fehlverhaltens britischer Soldaten


Am 15. Juni legte die Untersuchungskommission unter der Leitung des Richters Lord Saville ihren 5000seitigen Abschlußbericht zum Bloody Sunday, einem der umstrittensten und spektakulärsten Ereignisse der nordirischen "Troubles" vor. An jenem "Blutsonntag", dem 30. Januar 1972, waren nicht nur 13 Teilnehmer einer Bürgerrechtsdemonstration in der nordirischen Stadt Derry im Kugelhagel britischer Fallschirmjäger, sondern auch die Hoffnungen auf eine baldige Beilegung des wenige Jahre zuvor ausgebrochenen Konflikts zwischen nationalistischen Katholiken und pro-britischen Protestanten in Nordirland gestorben. Es folgte ein Vierteljahrhundert des Krieges zwischen der katholisch-nationalistischen Irisch-Republikanischen Armee (IRA) und der Irish National Liberation Army (INLA) auf der einen Seite, den britischen Streitkräften, der protestantisch-dominierten Royal Ulster Constabulary (RUC) und den protestantischen, Großbritannien gegenüber treuen und deshalb als loyalistisch bezeichneten Milizen Ulster Defence Association (UDA) und Ulster Volunteer Force (UVF) auf der anderen, der rund 3500 Menschen das Leben kostete.

Im Rahmen des sogenannten Friedensprozesses, der 1998 mit der Unterzeichnung des Karfreitagsabkommens seinen vorläufigen Höhepunkt fand, hat am 30. Januar desselben Jahres die damals neue britische Regierung unter der Leitung des Sozialdemokraten Tony Blair gegen den Willen mächtiger Teile des britischen Sicherheitsapparats dem Drängen der Familienangehörigen der Opfer nachgegeben und ein zweites Bloody-Sunday-Tribunal einberufen. Die Entscheidung Londons hing nicht zuletzt mit der Tatsache zusammen, daß das Ergebnis der ersten Untersuchung unter der Leitung von Lord Widgery aus dem Jahr 1972, die Soldaten wären von den Demonstranten unter anderem mit Schüssen und Nagelbomben angegriffen worden und hätten im Grunde genommen in Notwehr das Feuer eröffnet, längst als diskreditiert galt. Widgery hatte elf Wochen gebraucht, um zu diesem die britische Armee entlastenden Ergebnis zu kommen.

Die Vertuschungen Widgerys gingen auf die Anweisungen der damaligen konservativen britischen Regierung Edward Heaths zurück, die damit zwar kurzfristig einen taktischen Sieg im Propagandakrieg gegen die IRA gewinnen konnte, haben jedoch langfristig dem Ansehen des britischen Rechtsstaats schwer geschadet. Darum bestand das Hauptziel der neuen Untersuchungskommission aus der Sicht Londons von Anfang an darin, den durch die Ereignisse vom Bloody Sunday bei den Katholiken Nordirlands verlorengegangenen Glauben an das britische Justizwesen wiederherzustellen. Auf die Weise sowie in Verbindung mit der Beteiligung nationalistischer Parteien an der neuen Provinzregierung sollte die katholische Bevölkerung Nordirlands mit dem britischen Staat versöhnt, die Union zwischen Großbritannien und Nordirland gerettet und das Streben nach der Wiedervereinigung Irlands gedämpft werden.

Diesen Aspekt gilt es zu berücksichtigen, wenn zum Beispiel zum xtenmal die Tatsache erwähnt wird, daß es sich bei dem Saville-Tribunal um die mit einer Dauer von zwölf Jahren langwierigste und mit Kosten von 191 Millionen Pfund, umgerechnet 230 Millionen Euro, teuerste Untersuchungskommission in der britischen Justizgeschichte handelt. Von den rund 2500 Personen, die eine Aussage zu Protokoll gaben, machten 922 dies entweder freiwillig oder aufgrund einer Vorladung mündlich bei den öffentlichen Anhörungen, darunter 505 Zivilisten, neun Experten und forensische Wissenschaftler, 49 Journalisten, 245 noch aktive oder in den Ruhestand gegangene Soldaten und Offiziere, 35 ehemalige Paramilitärs, 39 Politiker und höhere Staatsbeamte, 33 RUC-Mitglieder und sieben Priester. Für die Aufarbeitung des Berges an Material brauchten Saville und die anderen Kommissionsmitglieder sechs Jahre.

Es sind hauptsächlich Stimmen aus britischen Militärkreisen, reaktionären Teilen der britischen Presse und dem unionistischen Lager in Nordirland, die sich über den ihres Erachtens ressourcentechnischen Überaufwand beschweren, den man in Verbindung mit dem zweiten Bloody-Sunday-Tribunal betrieben hat. Wie Séamus Mac Cionnaithe, Redakteur der in Belfast erscheinenden Zeitung Irish News, am 14. Juni in einem Interview mit dem irischen Sender Raidió na Gaeltachta jedoch geltend gemacht hat, gehen die enormen Kosten der Untersuchung unter anderem darauf zurück, daß die an dem Massaker beteiligten Soldaten bis zuletzt mit juristischen Mitteln und in mehreren Prozessen vergeblich versucht haben, um einen Auftritt vor dem Tribunal herumzukommen. Sie sind dafür verantwortlich, daß die öffentlichen Anhörungen mit vier Jahren Verspätung erst 2002 beginnen konnten und zwischenzeitlich wochenlang von der Guildhall in Derry nach London verlegt werden mußten, damit man den Fallschirmjägern eine Rückkehr an den Ort ihres früheren mörderischen Treibens ersparen konnte. Zur Rechtfertigung der extrem teuren Verlegung des Saville-Tribunals von Derry in die britische Hauptstadt sowie dafür, daß die Soldaten hinter einer Leinwand ihre Aussage machen durften und dadurch ihre Anonymität bewahrten, führte man Sicherheitsbedenken an.

Am Morgen des 15. Juni wurde in der Guildhall von Derry, streng abgeschirmt von der Außenwelt, als ersten den Angehörigen der Getöteten und den Überlebeben des Amoklaufs der britischen Fallschirmjäger der Saville-Bericht vorgelegt. Am Nachmittag wurde der Bericht offiziell in Dublin und London simultan veröffentlicht, bei welchem Anlaß der neue britische Premierminister David Cameron eine bedeutende Stellungnahme im Londoner Unterhaus abgab. Seine wichtigsten Worte zu diesem traurigen Kapitel in der britisch-irischen Geschichte waren eindeutig: "Es gibt keine Zweifel. Es gibt nichts zweideutiges. Es gibt keine Unklarheiten. Was am Bloody Sunday geschah, war sowohl ungerechtfertigt als auch nicht zu rechtfertigen. Es war falsch." Bei der Gelegenheit brachte Cameron auch jene Entschuldigung zustande, zu der sich Heath, sein Vorgänger als Premierminister und Vorsitzender der konservativen Partei Großbritanniens, vor 38 Jahren offenbar nicht genötigt gesehen hatte: "Letzten Endes ist die Regierung für das Verhalten der Streitkräfte verantwortlich. Und deshalb tut es mir im Namen der Regierung und in der Tat im Namen unseres Landes aufrichtig leid."

In dem Bericht war festgehalten worden, daß keiner der fast 30 Demonstranten, die durch das Gewehrfeuer getötet oder verletzt wurden - eine 14. Person war nach wenigen Monaten im Krankenhaus ihren Schußverletzungen erlegen - eine Bedrohung für die Soldaten dargestellt hatte. Die meisten von ihnen wurden entweder erschossen oder angeschossen, als sie den Mitgliedern des 1. Bataillons des britischen Fallschirmjägerregiments zu entkommen versuchten oder Verletzten helfen wollten. Was die Rolle der IRA betrifft, so stellt der Bericht fest, daß sie an dem Tag eine Auseinandersetzung mit der Armee vermeiden wollte und deshalb die meisten ihrer Waffen aus Derry weggeschafft hatte. Eventuell hätten einzelne IRA-Mitglieder wie der damalige Kommandeur und heutige Stellvertretende Premierminister Nordirlands, Martin McGuinness, den einen oder anderen Schuß abgegeben, aber erst nachdem die britischen Fallschirmjäger in das katholische Viertel Bogside eingedrungen und dort amokzulaufen begonnen hatten.

Dem Saville-Bericht zufolge waren die Soldaten "aufgrund eines Befehls, der niemals hätte gegeben werden dürfen", in die Bogside, damals eine bekannte Hochburg von IRA-Sympathisanten, eingedrungen. Lord Saville kommt zu dem Schluß, daß die ersten Schüsse des Tages von den Soldaten abgegeben wurden, und zwar ohne jede Vorwarnung. Keiner der Toten oder Verletzten habe eine Schußwaffe gehabt, heißt es. Die vereinzelten Schüsse der IRA seien "keine Rechtfertigung dafür gewesen, auf Zivilisten zu schießen". Die Soldaten hätten "ihre Selbstbeherrschung verloren ... ihre Anweisungen und ihre Ausbildung vergessen", was zu einem "ernsthaften und weit verbreiteten Verlust an Feuerdisziplin" geführt habe.

Wie man weiß, waren die Fallschirmjäger damals extra nach Derry verlegt worden, um jugendlichen Steinewerfern, die sich seit Monaten an der Grenze zwischen der mehrheitlich von Katholiken bewohnten Bogside und der Innenstadt von Derry Straßenschlachten mit Polizei und Armee lieferten, eine Lektion zu erteilen. Es gibt auch eine Theorie, wonach darüber hinaus das britische Oberkommando die IRA in Derry in ein Feuergefecht verwickeln wollte, um sie ein für allemal zu erledigen. Eine Bestätigung hierfür liefert der Saville-Bericht nicht. Die Verantwortlichen bei Militär und Politik, sofern sie noch leben, sind insofern aus dem Schneider. Als Alleinschuldige stehen die einfachen Soldaten da, die offenbar ihre Befehle doch ein bißchen zu beherzt ausgeführt haben.

Im Saville-Bericht wird einigen der Soldaten, die am Bloody Sunday Demonstranten getötet oder verletzt haben, vorgeworfen, sie hätten vor dem Tribunal einen Meineid geleistet. Es gibt Spekulationen, wonach es unter dem Vorwurf der ungesetztlichen Tötung gegen den einen oder anderen ehemaligen Fallschirmjäger wegen seiner Handlungen am Blutsonntag von Derry zu einer Anklage kommen könnte. Doch es dürfte schwierig werden, die Schuld dieser Personen nachzuweisen. Gerade drei Tage, bevor Blair im Januar 1998 die Einberufung einer neuen Untersuchungskommission bekanntgab, wurden 14 der 29 am Bloody Sunday verwendeten Gewehre von der britischen Armee, die sie bis dahin 26 Jahre lang sorgfältig aufbewahrt hatte, vernichtet. Zehn weitere wurden an Privatfirmen verkauft. Zwei der fünf übriggebliebenen wurden drei Monate, nachdem Lord Saville ihre Sicherstellung als Beweismittel für das Tribunal angeordnet hatte, ebenfalls vernichtet. "Soldat 027", damals ein 19jährige Armeefunker, der mit seinen Aussagen sowohl vor der Einberufung des Tribunals als auch während der Anhörungen seine ehemaligen Kameraden vom Fallschirmjägerregiment schwer belastete, befindet sich im Zeugenschutzprogramm und in ständiger Lebensgefahr.

15. Juni 2010