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PARTEIEN/266: Ex-IRA-Chef McGuinness will Präsident Irlands werden (SB)


Ex-IRA-Chef McGuinness will Präsident Irlands werden

Sinn Féin schickt ein politisches Schwergewicht in die Schlacht


Die Entscheidung von Martin McGuinness, sich als offiziellen Kandidaten der linksnationalistischen Partei Sinn Féin ("Wir Selbst") um die irische Präsidentschaft aufstellen zu lassen, hat die politische Landschaft auf der grünen Insel regelrecht "transformiert", wie es in der heutigen Ausgabe der Irish Times deren politischer Korrespondent Stephen Collins so treffend formulierte. Nach dem Ausscheiden des ursprünglichen Favoriten, des parteiunabhängigen Joyce-Gelehrten und bekennenden Homosexuellen, Senator David Norris, im August wegen der Affäre um seinen früheren israelischen Lebenspartner Ezra Yitzhak Nawi, der in den neunziger Jahren einen palästinensischen Jugendlichen vergewaltigt haben soll, dachte man, das Ganze laufe auf ein langweiliges Gezerre zwischen Gay Mitchell und Michael D. Higgins, der Kandidaten der beiden Regierungsparteien Fine Gael - nationalkonservativ - und Labour - sozialdemokratisch -, hinaus. Die Kandidatur von McGuinness hat alle bisherigen Prognosen zunichte gemacht. Tatsächlich könnte das ehemalige Führungsmitglied der einst verbotenen Irisch-Republikanischen Armee (IRA), die dreißig Jahre lang einen blutigen Krieg gegen die Streitkräfte Großbritanniens in Nordirland führte, die Wahl gewinnen. Das Szenario eines Sinn-Féin-Vertreters als Nachfolger der bisherigen Präsidentin Mary McAleese hätten die meisten politischen Beobachter bis vor kurzem als vollkommen irrwitzig erklärt.

Die Entscheidung von Sinn Féin, die in Nordirland inzwischen zweitstärkste Kraft ist, jedoch im Süden in den Umfragen bei zehn bis fünfzehn Prozent rangiert, sich mit einem eigenen Kandidaten an der Präsidentenwahl zu beteiligen, hängt nicht zuletzt mit dem desolaten Zustand von Fianna Fáil zusammen. Die traditionell stärkste Partei im Süden Irlands, die von 1998 mit verschiedenen Koalitionspartnern bis Februar dieses Jahres regiert hat, aber bei der letzten Parlamentswahl wegen ihrer Rolle bei der Entstehung einer gigantischen Immobilienblase mit anschließender Wirtschaftskrise fürchterlich abgestraft wurde, befindet sich in einer Todesspirale, aus der es kein Entkommen zu geben scheint. Fianna Fáil hat bei den Wahlen zwei Drittel ihrer Abgeordnetensitze im Dáil, dem Unterhaus des irischen Parlaments, verloren. Im Juni ist ihr letzter Abgeordneter in der Hauptstadt Dublin, Ex-Finanzminister Brian Lenihan, mit nur 52 Jahren an Krebs verstorben.

Wegen anhaltender katastrophaler Umfrageergebnisse war unklar, ob sich die "Soldaten des Schicksals" überhaupt mit einem eigenen Kandidaten an der Wahl beteiligen würden. Im Juli meldete der ehrgeizige 47jährige Fianna-Fáil-Europaabgeordnete Brian Crowley aus Cork Interesse an einer Kandidatur an, stieß damit bei der Parteiführung aber auf Ablehnung. Damals hieß es aus dem Umfeld von FF-Chef, Ex-Außenminister Mícheál Martin, die Partei könne das Risiko einer erneuten Wahlschlappe nicht riskieren, der Wiederaufbau an der Basis habe Vorrang. Nach dem Ausscheiden von Norris unternahm Martin einen gewagten Vorstoß, der für ihn und Fianna Fáil nach hinten losging. Man fragte bei Gay Byrne, dem seit Jahrzehnten beliebtesten Radio- und Fernsehmoderator Irlands nach, ob dieser von Fianna Fáil als "unabhängiger" Kandidat für das Rennen nominiert werden wolle. Erste Blitzumfragen nach Bekanntwerden des Testballons waren positiv. Byrne galt aus dem Nichts heraus gleich als aussichtsreichster Bewerber. Fianna Fáil könnte vielleicht mit ihm verhindern, daß Fine Gael oder Labour das Staatsoberhaupt stellen, und eventuell in seinem Schlepptau aus dem aktuellen Formtief herauskommen. Doch der Rummel wurde dem 77jährigen Renter zuviel. Nach mehreren Tagen machte Byrne dem Spuk ein Ende und erklärte, er würde nicht kandidieren. Etwa gleichzeitig tat Crowley, der sich von der eigenen Parteiführung schäbig behandelt fühlte, das Gleiche.

Seitdem reißt die Diskussion innerhalb Fianna Fáils um den präsidialen Wahlkampf nicht mehr ab. Der Grund dafür sind die Regeln, denen zufolge man, um für die Präsidentschaft Irlands kandidieren zu können, entweder von 20 der insgesamt 226 Unterhausabgeordneten und Senatoren oder von vier der 144 Stadt- und Gemeinderäten nominiert werden muß. Wenn Fianna Fáil selbst keinen Kandidaten aufstellte, würde die Führung eine Empfehlung aussprechen bzw. den Vertretern der Partei auf nationaler und/oder kommunaler Ebene erlauben, irgendwelche anderen Kandidaten mitzunominieren oder zu unterstützen? Seit Tagen tobt innerhalb der 33köpfigen Fianna-Fáil-Fraktion im Oireachtas - 19 im Dáil und 14 im Senat - ein heftiger Streit um diese Frage. Während FF-Senator Labhrás O'Murchú als "unabhängiger" Kandidat an der Wahl teilnehmen will, soll Ex-Umweltminister Éamon O'Cuív wegen seiner Unzufriedenheit mit dem Enthaltungskurs Martins sogar mit dem Rücktritt als Stellvertretender Parteivorsitzender gedroht haben. Dabei ist O'Cuív Enkel des Partei- und Staatsgründers Eamon De Valera.

Die Zerstrittenheit von Martin, O'Cuív und Konsorten bietet Sinn Féin, die bei der Parlamentswahl die Zahl ihrer Dáil-Sitze hat verdreifachen können, die einmalige Gelegenheit, Fianna Fáil den Status als "republikanische" Partei Irlands, das heißt als diejenige politische Gruppierung, die am konsequentesten für die Wiedervereinigung der Insel eintritt, abzunehmen. Deswegen haben sie mit McGuinness ihren profiliertesten Vertreter für die Präsidentschaft nominiert. Der ehemalige Untergrundkämpfer spielte eine maßgebliche Rolle beim nordirischen "Friedensprozeß", führte mit der Regierung Tony Blairs jene Verhandlungen, die 1998 mit dem Karfreitagsabkommen den krönenden Höhepunkt fanden, und steht seit 2007 an der Seite zuerst von Ian Paisley und seit 2008 von David Trimble einer interkonfessionellen katholisch-protestantischen Koalitionsregierung zwischen Sinn Féin und der Democratic Unionist Party (DUP) vor. In dieser Funktion hat sich der ehemalige Fleischerlehrling zum beliebtesten Politiker Nordirlands gemausert, dessen Zustimmungsraten sogar bei den Protestanten recht hoch liegen.

Ob die Wähler im Süden bereit sind, McGuinness seine Wandlung vom einst gefürchteten "Topterroristen" zum weitblickenden Staatsmann abzukaufen, steht noch nicht fest. Um sie zu beruhigen, hat der ehemalige Oberkommandierende der IRA, der als Staatsoberhaupt nominell den Oberbefehl über die regulären irischen Streitkräfte hätte, in der Stadt Derry in der ersten Stellungnahme nach seiner Nominierung erklärt, er stehe 100 Prozent hinter der Polizei und würde selbstverständlich im Fall der Fälle der Königin von England die Hand geben (Sinn Féin hat den historischen Besuch von Elizabeth II. im Süden Irlands im Frühsommer bekanntlich boykottiert).

Man kann davon ausgehen, daß McGuinness viele Wähler in den grenznahen Grafschaften Donegal, Leitrim, Cavan, Monaghan und Louth auf seine Seite ziehen wird. Ausschlaggebend wird jedoch sein, wem die Wähler der oberen und unteren Mittelschicht in der Millionenstadt Dublin ihre Stimmen mehrheitlich geben werden. Sinn Féin hat in letzter Zeit in der Hauptstadt, besonders in den Arbeitervierteln, große Bodengewinne auf Kosten Fianna Fáils erzielt. Doch nicht umsonst hat Fine Gael mit Gay Mitchell einen bodenständigen Dubliner zu ihrem Kandidaten gekürt. Doch der ehemalige Europaabgeordnete Mitchell und der ehemalige Telekommunikationsminister Michael D. Higgins von Labour haben im Wahlkampf gegenüber McGuinness einen entscheidenden Nachteil. Während Sinn Féin die milliardenschweren Zwangsmaßnahmen der Europäischen Union (EU) und des Internationalen Währungsfonds (IWF) zur Rettung der insolventen irischen Banken ablehnt, werden die Kandidaten von Fine Gael und Labour das drakonische Kürzungsprogramm ihrer Parteikollegen verteidigen müssen.

Noch sind es noch mehr als fünf Wochen bis zur Präsidentenwahl am 27. Oktober. Bis dahin kann eine Menge passieren, zumal die Liste der Kandidaten noch nicht endgültig feststeht. Überraschenderweise hat am 16. September David Norris bei einem Auftritt in der beliebten Fernsehsendung "The Late Late Show" von Raidío Teilifís Éireann (RTÉ) erklärt, er wolle sich doch noch zur Wahl stellen. Man weiß nicht, ob Norris genügend Politiker bzw. Kommunalräte für eine Nominierung finden wird. Selbst wenn er es schaffen sollte, dürfte seine Popularität im Zuge der Affäre um seinen früheren Lebenspartner Nawi zusammen mit der abgebrochenen und wiederaufgenommenen Kandidatur stark nachgelassen haben. Derzeit gehen alle Beobachter davon aus, daß es ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Higgins, der aus Galway an der Westküste kommt und zuletzt in den Umfragen deutlich in Führung lag, McGuinness und Mitchell geben wird. Erheblich erschwert wird die Prognose allerdings durch die Beteiligung mehrerer parteiunabhängiger Kandidaten: Mary Davis, Sean Gallagher und eventuell Rosemary Scallon, die 1970 unter ihrem Künstlernamen Dana mit "All Kinds of Everything (Remind Me of You)" den Grand Prix de l'Eurovision gewann.

19. September 2011