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PARTEIEN/267: Martin McGuinness bringt Dublins Politelite gegen sich auf (SB)


Martin McGuinness bringt Dublins Politelite gegen sich auf

In der irischen Hauptstadt herrscht Partitionist-Mentalität vor


In Irland ist die Kandidatur von Martin McGuinness um das Amt des Präsidenten der Republik das alles beherrschende politische Thema. Anfangs reagierte die Dubliner Politelite lediglich mit Konsternierung auf die überraschende Kur des ehemaligen Kommandeurs der Irisch-Republikanischen Armee (IRA) und heutigen Stellvertretenden Premierministers der nordirischen Provinzregierung zum offiziellen Präsidentschaftskandidaten von Sinn Féin. Man hielt die Aufstellung von McGuinness für einen gelungenen Schachzug der linksnationalistischen Partei, sich auf Kosten der jahrelang im Süden Irlands dominierenden Mitte-Rechts-Gruppierung Fianna Fáil zu profilieren, die wegen ihrer Verantwortung für die Wirtschaftskrise so stark an Popularität verloren hat, daß sie in die Bedeutungslosigkeit abzusinken droht.

Man nahm zunächst an, der Ex-"Terrorist" McGuinness würde bei der Wahl am 27. Oktober bestenfalls den dritten Platz hinter dem ehemaligen Kommunikationsminister Michael D. Higgins und dem ehemaligen Europaabgeordneten Gay Mitchell belegen, deren Parteien - die sozialdemokratische Labour Partei respektive die rechtskonservative Fine Gael - seit März eine Regierungskoalition bilden. Eine Blitzumfrage, welche Joe Duffy am 20. September in seiner beliebten Radio-Talkshow "Liveline" des staatlichen Rundfunksenders Raidío Teilifís Éireann (RTÉ) durchführte, hat jedoch ein regelrechtes politisches Erdbeben ausgelöst, denn sie sah McGuinness vor Higgins und Mitchell deutlich vorn. Unter der politischen Haupstadtelite in Dublin herrscht seither blankes Entsetzen, daß der ehemalige Fleischerlehrling aus Derry, den man jahrelang als IRA-"Terrorpaten" verteufelt hat, Staatsoberhaupt werden könnte.

Auch wenn die Liveline-Blitzumfrage nicht repräsentativ war - allerdings holt McGuinness seitdem mit jedem Tag auf der Internetseite des beliebten Buchmachers Paddypower.com den Wettquoten nach den derzeit führenden Präsidentschaftskandidaten Higgins immer mehr ein -, so demonstrierte sie vor allem eines, nämlich daß viele Wähler in Irland offenbar nicht bereit sind, sich nach den Pfui-Teufel-Rufen des politischen Establishments, die den Sinn-Féin-Vizepräsidenten als Staatsoberhaupt für vollkommen inakzeptabel halten, zu richten. Die Umfrage der Joe-Duffy-Show wurde nämlich durchgeführt, nachdem der ehemalige Justizminister Michael McDowell am Abend des 19. September in der Fernsehdiskussionssendung "Frontline" von RTÉ 1 McGuinness quasi als uneinsichtigen Serienmörder diffamiert und am darauffolgenden Tag Fintan O'Toole in seiner Kolumne in der Irish Times die Blutspur der IRA während der sogenannten "Troubles" nachgezeichnet und erklärt hatte, die Iren dürften keinen Mann zum Präsidenten wählen, dem "nach internationalen Strafrecht eine Verhaftung wegen Kriegsverbrechen" drohe.

Die seltene Einigkeit von McDowell, der einstigen Galionsfigur der inzwischen untergegangenen neoliberalen Partei der Progressive Democrats, der als Law-and-Order-Apostel bekannt ist, und O'Toole, der sich in letzter Zeit zum Stichwortgeber der gemäßigten Kapitalismuskritiker aufgeschwungen hat, legt ein deutliches Zeugnis ab über die Verlogenheit von Dublins Möchtegern-Demokratieverteidigern. Man kann Gift darauf nehmen, daß sie niemals auch nur auf die Idee kommen würden, Amerikas Barack Obama, Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy oder Großbritanniens Premierminister David Cameron für ihre Führungsrolle beim illegalen Sturz der Regierung Muammar Gaddhafis als Kriegsverbrecher anzuprangern oder ihnen den gewaltsamen Tod Tausender Libyer anzulasten.

McGuinness setzt sich bisher gegen die an seine Adresse gerichteten Vorwürfe recht erfolgreich zur Wehr. Wie schon bei seiner Aussage vor dem Bloody-Sunday-Tribunal hat er erneut zugegeben, früher ein Mitglied der IRA gewesen zu sein, sowie sein Bedauern über die vielen Menschen - britische Soldaten, nordirische Polizisten, IRA-Freiwillige und einfache Zivilisten -, die im Verlauf des Bürgerkrieges in Nordirland ums Leben kamen, zum Ausdruck gebracht. Er behauptet, der IRA seit 1974 nicht mehr anzugehören - was niemand ernsthaft glaubt - und sich seit 30 Jahren für eine Versöhnung zwischen protestantischen Unionisten und katholischen Nationalisten in Nordirland eingesetzt zu haben und als Präsident für die Überwindung der Teilung Irlands eintreten zu wollen. Tatsächlich ist das Argument der Sinn-Féin-Gegner, der Sieg McGuinness' wäre ein unverzeihliches Kampfsignal des Südens an die Protestanten im Norden, nicht nur schwach, sondern schwachsinnig. Wie allgemein bekannt, arbeitet McGuinness in der nordirischen Regierung seit 2007 mit den früheren Feinden in der Demokratischen Unionist Party (DUP) recht harmonisch zusammen. Die Art und Weise, wie er und der einstige protestantische Haßprediger Ian Paisley mit Humor das Kriegsbeil begraben und ihre skurrile Partnerschaft öffentlich gefeiert haben, brachte ihnen sogar den Spitznamen "The Chuckle Brothers" ("die Schmunzelbrüder") ein.

Im Norden der Insel reagiert man überaus verdutzt auf die Anti-McGuinness-Kampagne im Süden. In einem Gastbeitrag für die Irish Times am 22. September warf David Adams, ein ehemaliger Untergrundkämpfer der protestantischen Ulster Defence Association (UDA), der sich im sogenannten nordirischen Friedensprozeß verdient gemacht hat, den Meinungsmachern in Dublin Inkonsequenz und Heuchelei vor. Jahrelang hätten sie den Unionisten und Protestanten in Nordirland gepredigt, sie sollten die "Troubles" endlich Vergangenheit sein lassen und mit den Vertretern von Sinn Féin, dem politischen Arm der IRA, zusammenarbeiten, würden sich aber nun selbst aus falschem Schamgefühl weigern, den gleichen Schritt zu vollziehen.

Die Kritik von Adams trifft nicht nur zu, sondern deutet auf ein weit größeres Problem der herrschenden Elite im Süden. Jahrzehntelang hatten sie den Idealen zur Wiederherstellung der Einheit Irlands und Schaffung einer gerechten Gesellschaft, in der alle gleich behandelt werden, lediglich Lippenbekenntnisse gespendet. Als der Bürgerkrieg in Nordirland ausbrach, hatten sie Großbritannien von jeder Verantwortung freigesprochen, das Blutvergießen zu einer Stammesfehde geistig Zurückgebliebener verklärt und sich so mit der Teilung Irlands innerlich arrangiert (Dies nennt man auf der grünen Insel die "partitionist mentality"). In fünf Jahren stehen aber die Feierlichkeiten zum Gedenken an den Osteraufstand von 1916 und die damalige Ausrufung der Irischen Republik an. Da möchten bestimmte Kräfte keinen Sinn-Féin-Politiker an der Staatsspitze sehen, der anscheinend immer noch an die Vision von James Connolly, Pádraig Pearse, Thomas Clarke, Joseph Mary Plunkett, Eamonn Ceannt, Sean Mac Diarmada und Thomas McDonagh glaubt. Deswegen werden derzeit Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um eine Nominierung von David Norris zu ermöglichen. Denn wie der konservative Kommentator John Waters am 23. September hysterischerweise in der Irish Times schrieb, "nur" der populäre Joyce-Gelehrte und Menschenrechtsaktivist könnte "McGuinness daran hindern, Präsident zu werden".

Bis Mittag am 28. September muß Norris die schriftliche Zusage entweder von 20 Mitgliedern des Oireachtas - Unterhaus (Dáil) und Senat in Dublin - oder von vier Gemeinderäten vorlegen. Bisher haben sich neun Dáil-Abgeordnete und acht Senatoren bereiterklärt, Norris' Nominierung zum Präsidentskandidaten zu unterstützen. Er braucht noch drei Stimmen, aber noch ist unklar, ob er dieses Ziel erreichen wird. Doch unabhängig davon, ob Irlands bekanntester Homosexueller auf den Wahlzettel kommt oder nicht, die Angriffe auf McGuinness als Person und Sinn Féin als Partei werden sich bis zum 27. Oktober fortsetzen, wenn nicht sogar an Heftigkeit zunehmen.

24. September 2011