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PARTEIEN/379: Brexit - das Ringen um Einfluß und Zukunft ... (SB)


Brexit - das Ringen um Einfluß und Zukunft ...


Im Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland nimmt das politische Chaos um den geplanten Austritt aus der EU nicht ab, sondern zu. Allein mittels reiner Hartnäckigkeit hält sich Premierministerin Theresa May im Amt, denn die Unterstützung der Wähler, der konservativen Hinterbänkler im Unterhaus, der nordirischen Democratic Unionist Party (DUP), die dort seit 2017 den Tories zur Mehrheit verhilft, sogar des eigenen Kabinetts hat sie längst verloren. Nur weil May bereits im vergangenen Dezember ein Mißtrauensvotum der konservativen Parlamentsfraktion überstanden hat und nach den Statuten der Tories eine zweite Abstimmung erst nach weiteren zwölf Monaten abgehalten werden darf, bleibt sie im Number 10 Downing Street und bekleidet das Amt der britischen Premierministerin.

Wie tief die Autorität Mays inzwischen gesunken ist, zeigt die Huawei-Affäre um Ex-Verteidigungsminister Gavin Williamson. Wie viele Verbündete der USA steht die Regierung in London unter massivem Druck seitens Washingtons, den chinesischen Technologiekonzern nicht am Aufbau des einheimischen 5G-Mobilfunknetzwerks zu beteiligen - aus "Sicherheitgründen", versteht sich. Vor einiger Zeit hat GCHQ, das britische Pendant zur amerikanischen NSA, die fraglichen Huawei-Produkte unter die Lupe genommen und nach eingehender Überprüfung die Bedenken der Amerikaner hinsichtlich irgendwelcher "Hintertüren" für unbegründet erklärt. Am 23. April traf sich das britische Sicherheitskabinett hinter verschlossenen Türen, um die Entscheidung über die Auftragsvergabe zu fällen. Am Ende der Beratungen waren fünf Minister für eine Beteiligung von Huawei und fünf dagegen. Die entscheidende Stimme fiel May zu. Mit dem Votum für Huawei löste die Premierministerin die Patt-Situation auf. Wegen der außenpolitischen Brisanz der Angelegenheit sollte das Ergebnis der Beratungen erst in einigen Wochen bekanntgegeben werden.

Statt dessen erschien gleich am darauffolgenden Tag beim Daily Telegraph, Hauspostille der britischen Generalität, ein detaillierter Bericht über Verlauf und Ausgang der Diskussion. Wegen des ungeheuerlichen Vertrauensbruchs hat May sofort eine interne Untersuchung angeordnet. Als mögliche Quelle des beispiellosen Lecks aus dem Herzen des britischen Regierungsapparats galten zunächst die fünf Gegner der Huawei-Beteiligung - Außenminister Jeremy Hunt, Innenminister Sajid Javid, Verteidigungsminister Gavin Williamson, Entwicklungsministerin Penny Mordaunt und Handelsminister Liam Fox - allesamt Brexit-Befürworter. Nach rund einer Woche stand die Identität des Informanten fest. Nach Überprüfung des Telefon- und E-Mail-Verkehrs aller Mitglieder des Sicherheitskabinetts stand fest, Williamson hatte unmittelbar nach der Sitzung elf Minuten lang mit dem Telegraph-Journalisten Steven Swinford, dem Autor des Enthüllungsartikels, fernmündlich gesprochen.

Am 1. Mai sah sich May gezwungen, Williamson, der sich weigerte, freiwillig zurückzutreten, zu feuern. Zur Begründung hieß es in dem Brief der Premierministerin an den 42jährigen ehrgeizigen Shooting Star der Tories, die Beweise gegen ihn seien "zwingend", sie habe das Vertrauen in ihn verloren. Der ganze Vorgang hat seitdem nur noch weiter an Einmaligkeit gewonnen, denn Williamson spielt sich als Opfer einer Palastintrige auf, beteuert seine Unschuld "beim Leben meiner Kinder" und verlangt nach einer kriminologischen Untersuchung des Vorfalls durch die Polizei mit der Behauptung, nur dadurch könne seine Ehre wiederhergestellt werden. Die beispiellose Dreistigkeit von Williamson erklärt sich dadurch, daß er nicht nur ein führender Brexiteer, sondern auch ein profilierter Verfechter eines neuen globalen Imperialismus Großbritanniens an der Seite der USA ist. Als Verteidigungsminister hat Williamson in den letzten eineinhalb Jahren gezielt und offen die Führung Rußlands schwer beleidigt und die Volksrepublik China mit Krieg bedroht. Damit dürfte er bei der neokonservativen Kamarilla der Regierung von US-Präsident Donald Trump um Außenminister Mike Pompeo und den Nationalen Sicherheitsberater John Bolton Punkte gemacht haben und meint deshalb, sich seine verräterische Konfrontationshaltung gegenüber der glücklosen May politisch leisten zu können.

Überschattet vom Streit um die verlorene Vertraulichkeit des Sicherheitskabinetts fanden am 2. Mai in England und Nordirland Kommunalwahlen statt. Wie nicht anders zu erwarten haben die Konservativen ein Wahldebakel erlebt. Sie haben von zuvor 5521 Sitzen 1330 sowie die mehrheitliche Kontrolle über 44 Kommunen verloren. Größte Profiteure des schlechten Abschneidens der Tories waren die oppositionellen Liberaldemokraten, welche die Zahl ihrer Sitze von 704 auf 1351 fast verdoppeln konnten. Die Sozialdemokraten, welche im Unterhaus nach den Tories die zweitstärkste Fraktion stellen - 232 zu 330 Abgeordnete - und ähnlich ihrem großen Rivalen in der Brexit-Frage völlig zerstritten sind, haben dagegen Federn lassen müssen. Statt erwarteter Sitzgewinne ist die Zahl ihrer Kommunalmandate von 2278 auf 2021 leicht gesunken.

Vor diesem Hintergrund ging May am 7. Mai geschwächt in die Verhandlungen mit der Labour-Führung über einen Ausweg aus der Brexit-Krise. Anfang April hatten die anderen 27 EU-Staaten das Austrittsdatum für das Vereinigte Königreich auf den 31. Oktober verschoben, um London mehr Zeit für eine akzeptable Lösung zu geben. In den Wochen davor war May im Parlament mit jenem Austrittsabkommen, das sie in den letzten zweieinhalb Jahren mit Brüssel ausgehandelt hatte, dreimal gescheitert. Doch auch keiner der zahlreichen Alternativvorschläge fand bei dem langwierigen Debattenmarathon eine Mehrheit. Folglich diskutieren nun May, Labour-Chef Jeremy Corbyn und ihre engsten Berater über einen Plan, dem Unterhaus in den nächsten Wochen das Austrittsabkommen, ergänzt um neue Paragraphen zur Beibehaltung bisheriger EU-Standards in Sachen Arbeitnehmerrechte und Umweltschutz, erneut vorzulegen. Des weiteren sieht die Vereinbarung den Verbleib des Vereinigten Königreichs in der Zollunion mit der EU bis mindestens 2022 vor, wenn in Großbritannien wieder Parlamentswahlen fällig sind.

Der Plan, wie gut gemeint auch immer, ist aus vielen Gründen sehr riskant. Durch besagte Ergänzungen soll eine Mehrheit der Labour-Abgeordneten dazu bewogen werden, für das Austrittsabkommen zu stimmen. Doch mehr als hundert von ihnen haben bereits erklärt, nur dann für den Deal Mays mit der EU votieren zu wollen, wenn das Vertragswerk auch dem Volk zur Abstimmung vorgelegt wird. Viele Abgeordnete der Liberaldemokraten, der Scottish Nationalist Party (SNP) sowie der britischen Grünen haben sich der Forderung nach einem People's Vote, quasi einem erneuten EU-Austrittsreferendum, angeschlossen. Des weiteren muß die Labour-Führung befürchten, die Katze im Sack zu kaufen. Bei den Konservativen werden die Messer gewetzt. Mays Tage als Partei- und Premierministerin sind gezählt. Von daher gibt es keine Garantie, daß sich ihr Nachfolger bzw. ihre Nachfolgerin an die Abmachung halten wird. John McDonnell, Finanzsprecher der Sozialdemokraten und Labour-Vizechef, hat bereits auf die Möglichkeit hingewiesen, daß nach der voraussichtlich baldigen Ablösung Mays durch einen oder eine der harten Brexiteers bisherige Zusagen in Sachen EU-Austritt für ungültig erklärt werden könnten.

Ein solches Szenario droht nicht nur der Labour-Führung, sondern auch der EU und deren Brexit-Unterhändler in Brüssel. Wegen der Fristverlängerung für den Austritt sieht sich das Vereinigte Königreich gezwungen, am 23. Mai an den Wahlen zum EU-Parlament teilzunehmen. Daß der Urnengang stattfindet, gab am 7. Mai Mays Stellvertreter David Lidington offiziell bekannt. Aktuellen Umfragen zufolge dürfte die neue EU-feindliche Brexit-Partei von Nigel Farage - einst bei UKIP - mit 30 Prozent der Stimmen den ersten Platz erringen. Labour käme mit 21 Prozent auf den zweiten Platz, die Tories landeten weit abgeschlagen mit 13 Prozent auf dem dritten vor den Libdems mit zehn Prozent und den Grünen mit neun. Angesichts solcher Unbeliebtheit sind die Chancen Mays, genügend Abgeordnete der eigenen Partei für einen Kompromiß mit den Sozialdemokraten zusammenzubekommen, damit das Austrittsabkommen im Unterhaus verabschiedet werden kann, gering bis nicht existent. Von daher sind es nur noch wenige Tage oder Wochen, bis May von der eigenen Partei fallengelassen wird. Man darf gespannt sein, wie dann einer der vielen Besserwisser aus dem Lager der Brexiteers wie Gavin Williamson oder Boris Johnson mit der komplizierten Situation fertig wird.

7. Mai 2019


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