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PARTEIEN/381: Brexit - mindestens doppelt schlimm ... (SB)


Brexit - mindestens doppelt schlimm ...


Eigentlich sollten die Briten an den diesjährigen Wahlen zum EU-Parlament gar nicht teilnehmen. Doch das Austrittsdatum nach dem Artikel 50 des Lissaboner Vertrags vom 29. März mußte bis auf den 31. Oktober verschoben werden, weil die britische Premierministerin Theresa May im Unterhaus zuvor mit dem Versuch, das von ihr über zwei Jahre mit Brüssel ausgehandelte Austrittsabkommen durch das Unterhaus in London zu bringen, dreimal gescheitert war. Und wegen dieses Umstands mußte das Vereinigte Königreich die Wahlen abhalten, die nun ihrerseits bereits im Vorfeld schwere Auswirkungen auf das politische Leben in Großbritannien zeitigen. Jüngsten Umfragen zufolge dürfte die Brexit Party von Nigel Farage mit 34 Prozent als Siegerin hervorgehen. Sie tritt gänzlich ohne Programm an, allein die Forderung nach Umsetzung des Austrittsvotums vom 23. Juni 2016 ohne Wenn und Aber steht im Vordergrund. An zweiter Stelle landeten die pro-europäischen Liberaldemokraten mit 17 Prozent, gefolgt von den Sozialdemokraten - im Unterhaus die größte Oppositionsfraktion - mit 15 Prozent und den Grünen mit 11. Die regierenden Konservativen kämen mit neun Prozent auf den sechsten Platz, was ihr schlechtestes Ergebnis bei einer landesweiten Wahl jemals wäre.

Dieses Untergangsszenario hat die Tory-Granden zum Handeln veranlaßt. Am Abend des 16. Mai hat das parteiinterne 1922 Committee May zu sich bestellt und sie offen zum Rücktritt aufgefordert. Der Premierministerin wurde bis Mitte Juni Zeit gegeben, ein viertes und letztes Mal ihr Withdrawal Agreement Bill (WAB) dem Unterhaus zur Abstimmung vorzulegen. Unabhängig vom Ausgang habe sie den Hut zu nehmen und den Platz für einen Nachfolger in Number 10 Downing Street freizumachen, so die Parteioberen. Für die oppositionellen Sozialdemokraten, deren eigene Führung seit sechs Wochen mit May und ihrem Kabinett um eine Kompromißlösung in Sachen Brexit gerungen hatte, die im Parlament eine überparteiliche Mehrheit findet, war Mays endgültiger Verlust an Autorität der Anlaß, eine Fortsetzung der Gespräche für zwecklos zu erklären. In einem Brief an die Premierministerin erklärte am selben 16. Mai Labour-Chef Jeremy Corbyn, die Zerstrittenheit der Konservativen in der Brexit-Frage mache jede Einigung mit der Regierung unmöglich. Mit May könne man nichts beschließen, was auf Dauer tragbar sei, so Corbyn.

Selbst bei einer Einigung mit den Sozialdemokraten wäre die WAB-Abstimmung eine extrem unsichere Sache. Corbyn, May und ihre Unterhändler sollen sich zuletzt auf eine Zollunion mit der EU einschließlich der Einhaltung europäischer Standards in den Bereichen Arbeitnehmerrechte und Umweltschutz geeinigt haben. Doch dieses europafreundliche Modell hätte die harten Brexiteers - mindestens 100 von 313 Tory-Abgeordneten - automatisch zum Nein veranlaßt. Gleichzeitig hätte die Weigerung von Corbyn und May, auch das Volk zwischen Annahme des Brexit-Abkommens oder Verbleib in der EU mitwählen zu lassen, etwa die Hälfte der Labour-Abgeordneten ebenfalls zu einem Votum gegen den Gesetzentwurf provoziert. Bedenkt man die große Skepsis der anderen kleineren Fraktionen wie der LibDems, der schottischen und walisischen Nationalisten sowie der protestantischen Democratic Unionist Party (DUP) aus Nordirland gegenüber Mays Brexit-Plan, wäre das WAB vermutlich gescheitert. Doch jetzt, wo keine Aussicht mehr auf einen überparteilichen Konsens besteht, erscheint das Ansinnen Mays, das Unterhaus doch noch zum vierten und letzten Mal über ihr Austrittsabkommen abstimmen zu lassen, wie die reine Donquichotterie.

Doch während May, die bereits ihren Platz in den Geschichtsbüchern als schlechteste Premierministerin Großbritanniens aller Zeiten sicher hat, sich vergeblich um einen Abgang mit einem Rest an Würde bemüht, ist bei den Konservativen der Kampf um die Nachfolgeschaft vollends ausgebrochen. Als haushoher Favorit gilt Ex-Außenminister Boris Johnson, der Liebling der harten Brexiteers, der in letzter Zeit offen für den ungeordneten Austritt eingetreten ist, sollte sich Brüssel den Forderungen Londons nicht beugen. Wie lange die Neubesetzung der Parteiführung bei den Tories dauert, ist unklar. Man hofft bis allerspätestens zum Parteitag im September einen neuen Vorsitzenden bzw. neue Vorsitzende präsentieren zu können. Inwieweit diese Person dann in der verbliebenen Zeit bis Halloween in Verhandlungen mit Brüssel tritt, ist ebenfalls unklar. Johnson zum Beispiel könnte einen erneuten Vorstoß für zwecklos erklären und darauf setzen, ab den 1. November den gesamten Handel Großbritanniens mit der EU nach den Regeln der WTO zu bewerkstelligen.

Ein solches Vorgehen hätte katastrophale Folgen für die EU, aber vor allem für die britische Wirtschaft. Ein Verkehrschaos beiderseits des Ärmelkanals wegen der zu erwartenden Zoll- und Personenkontrollen wäre nur eins der vielen Probleme, deren Beseitigung Monate, wenn nicht sogar Jahre dauern würde. Mit dem No-Deal-Brexit drohen die britischen EU-Gegner ohnehin seit 2016 in der Hoffnung, Brüssel würde klein beigeben. Nun stehen sie allmählich selbst vor der Entscheidung, ihre Drohungen wahrzumachen oder die EU-27 doch noch um Hilfe bei der Suche nach einem Ausweg aus dem ganzen Brexit-Schlamassel zu bitten. Ein mehr als deutliches Zeichen, wie abträglich der Brexit für die britische Volksökonomie ist, zeigt die Mitte Mai bekanntgegebene Entscheidung des japanischen Konzerns Honda, seine Fabrik im englischen Swindon bis 2021 komplett zu schließen und die dort tätigen 3500 Arbeitnehmer zu entlassen.

20. Mai 2019


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