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PARTEIEN/388: Brexit - Austritt ohne Abkommen, ein gewolltes Risiko? ... (SB)


Brexit - Austritt ohne Abkommen, ein gewolltes Risiko? ...


Zehn Wochen nach Boris Johnsons Einzug in die Number 10 Downing Street weiß niemand, vermutlich nicht einmal Großbritanniens neuer Premierminister selbst, wie er sich aus dem Brexit-Schlamassel zu befreien vermag, in den er sich aufgrund seines überbordenden Opportunismus hineinmanövriert hat. Die Verhandlungen mit der Europäischen Union über das Austrittsabkommen für das Vereinigte Königreich verlaufen Medienberichten zufolge ungemein schwierig, obwohl der eigentliche Austritt schon am 31. Oktober in Kraft treten soll. Wenngleich am 17. Oktober die Regierungschefs aller 28 EU-Mitgliedsstaaten in Brüssel zusammentreffen werden, dürfte der Austrittsvertrag bis dahin noch lange nicht zustimmungsreif sein. Deswegen ist bereits von einem unplanmäßigen Krisengipfel am 29. Oktober die Rede.

Statt mit Brüssel eine tragfähige Einigung auszuarbeiten, hat Johnson August und September damit verplempert, einen Streit mit Legislative und Judikative im eigenen Land anzuzetteln, den er nur verlieren konnte. Weil er über keine Mehrheit im Unterhaus verfügt, schickte Johnson die Abgeordneten in eine Zwangspause, damit die Opposition seine Drohung, den ungeordneten Brexit zu vollziehen, nicht vom Tisch nehmen konnte. Daraufhin haben 21 Abgeordnete der regierenden Konservativen Johnson die Gefolgschaft aufgekündigt, wofür sie mit der Verbannung aus der Fraktion bestraft wurden. Kurz danach hat der Oberste Gerichtshof Johnsons Begründung für die Zwangsunterbrechung der parlamentarischen Arbeit für fadenscheinig und damit illegal erklärt. Als das Parlament wieder tagte, hat das Unterhaus mit den Stimmen der oppositionellen Sozialdemokraten, Liberaldemokraten, Grünen, Tory-Rebellen sowie schottischen und walisischen Nationalisten ein Gesetz verabschiedet, das die Regierung anweist, im Falle einer fehlenden Einigung mit der EU bis Ende Oktober Brüssel um eine weitere Verschiebung des Austrittsdatums zu bitten.

Bis heute weigert sich Johnson offen zu erklären, daß er sich an jenes Gesetz gebunden fühlt und es im Notfall auch auszuführen gedenkt. Das Gegenteil ist der Fall. Bei Unterhausdebatten haben Johnson und die Tory-Ultras das Withdrawal (Number 2) Act zum "Kapitulationsgesetz" erklärt und seine Unterstützer zu "Verrätern" am britischen Volk gestempelt. Am ersten Oktoberwochenende soll Johnsons Chefberater Dominic Cummings, Chefarchitekt der erfolgreichen Brexit-Kampagne der EU-Gegner im Jahre 2016, dem rechtsgerichteten Boulevardblatt Mail on Sunday durchgestochen haben, daß die Verfasser des besagten Gesetzes dafür Gelder aus Frankreich und Deutschland erhalten hätten. Wegen der Verbreitung dieser infamen Geschichte hat der ehemalige konservative Justizminister Dominic Grieve den von seiner eigenen Genialität stets eingenommenen Cummings einen "schamlosen Lügner" genannt.

Immer wieder behauptet Johnson, die Drohung mit dem ungeordneten Austritt aus der EU - ein Szenario, das nach Meinung aller Experten verheerende wirtschaftliche Folgen aller Beteiligten, für Großbritannien, die Republik Irland und Nordirland am meisten, hätte - diene lediglich dazu, Brüssel und die EU-27 zu Zugeständnissen zu zwingen. Da darf man Zweifel an der Ernsthaftigkeit dieser Behauptung haben. In den letzten Tagen haben sowohl Philip Hammond, bis vor kurzem Schatzmeister der Regierung von Theresa May, als auch Johnsons Schwester Rachel, die Journalistin und Fernsehmoderatorin ist, dem Premierminister öffentlich unterstellt, er wolle den No-Deal-Brexit provozieren bzw. herbeiführen, weil diejenigen Hedgefonds-Manager in der Londoner City, die im Sommer seinen Aufstieg zum Tory-Chef finanzierten, 4,6 Milliarden Pfund auf einen Absturz der britischen Währung an den internationalen Börsen zum 1. November gewettet hätten.

Man mag von einer solchen "Verschwörungstheorie" halten, was man will. Fest steht jedenfalls, daß sich Johnson als heldenhafter Brexit-Verfechter positioniert in der Hoffnung, aus den baldigen Unterhauswahlen als Sieger hervorzugehen. Da sich die größte Oppositionspartei, Labour, selbst in der Brexit-Frage zu keiner einheitlichen Position hat durchringen können, hofft Johnson mit einer Kampagne unter dem Motto "die wahren Patrioten gegen die EU-Apologeten" und einem Wahlbündnis mit der Brexit-Partei von Nigel Farage eine deutliche Mehrheit der Sitze im Unterhaus zu erobern. Zu diesem Kalkül gehört natürlich die Notwendigkeit, London als die kompromißbereite Seite in den Verhandlungen mit Brüssel zu präsentieren. Dies jedoch fällt Johnson sichtlich schwer.

Sein erstes Verhandlungsangebot sah als Lösung für das leidige Problem der möglichen Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland das Hinzufügen einer weiteren Grenze - in der Irischen See - zwischen Großbritannien und der Grünen Insel. Obwohl Brüssel und Dublin sofort die Idee verworfen haben, hatte sie einen positiven Nebeneffekt. Erstmals hat sich Nordirlands protestantisch-fundamentalistische Democratic Unionist Party (DUP), auf deren Unterstützung von zehn Abgeordneten im Unterhaus Johnson noch angewiesen ist, bereiterklärt, die Einführung bestimmter Kontrollen im Schiffs- und Flugverkehr zwischen Ulster und Großbritannien zu akzeptieren. Ende letzter Woche traf sich Johnson im nordenglischen Wirral mit dem irischen Premierminister Leo Varadkar. Auch wenn der Inhalt des Gesprächs geheim blieb, sollen beide Männer einen Durchbruch erzielt haben, der auf eine Seegrenze zwischen Irland als Ganzes und Großbritannien hinausläuft und damit die Installierung einer harten Grenze auf der grünen Insel vermeidet.

In Nordirland wittern die Unionisten bereits den Verrat und machen Stimmung dagegen. Ihnen ist auch nicht entgangen, daß praktisch zeitgleich mit dem Treffen Johnson-Varadkar in der Nähe von Liverpool im Daily Telegraph, dem traditionellen Sprachrohr der konservativen Partei, ein Leitartikel erschienen ist, in dem Nordirland als lästige Bürde dargestellt wurde, die dem britischen Steuerzahler seit 1921 weit mehr als alle Einzahlungen in den EU-Haushalt gekostet hat und von der sich Großbritannien endlich befreien soll, um die vermeintlichen Vorteile des Brexit im vollen Zügen genießen zu können. Am Wochenende haben sich sogar Vertreter der loyalistischen Paramilitärs zu Wort gemeldet und für den Fall einer "Sonderregelung" für Nordirland am Ende aller Brexit-Verhandlungen mit einer Kampagne des zivilen Ungehorsams - sozusagen als Mindestreaktion - gedroht. Johnson und die Brexiteers setzen seit längerem gezielt auf den Populismus und vergiften damit die politische Atmosphäre im Vereinigten Königreich. In Nordirland könnte ihr verantwortungsloses Verhalten zu einem erneuten Ausbruch der Troubles führen.

14. Oktober 2019


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