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FORSCHUNG/323: Michal Lavidor - Im Bann der Wörter (research*eu)


research*eu Nr. 53 - September 2007
Magazin des Europäischen Forschungsraums

Porträt
Im Bann der Wörter

Von Elisabeth Jeffries


Michal Lavidor, Expertin in kognitiver Sprachpsychologie an der Universität Hull (UK) und der Universität Bar IIan (IL), hat ein Forschungsnetz ins Leben gerufen, das sich über sechs Mitgliedstaaten der EU erstreckt. Fasziniert von den Zusammenhängen zwischen Sprache und dem menschlichen Gehirn hat die israelische Wissenschaftlerin in Europa ihre eigene Disziplin gegründet. Erläuterungen.


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Das Lesen dieses Magazins erfordert bereits eine Fähigkeit, die als erlernt angesehen wird. Sie basiert auf einer ziemlich komplizierten Nutzung des menschlichen Gehirns. Am Leseprozess ist mehr als die Hälfte der Großhirnrinde beteiligt. Hierbei handelt es sich um eine Schicht der grauen Substanz, die für die Sprache und das abstrakte Denken verantwortlich ist. Erst heute beginnen wir zu verstehen, wie jeder von uns ein geschriebenes Wort aufnimmt und ihm einen bestimmten Sinn gibt. Zu Beginn des Jahres 2006 wurde die Arbeit von Michal Lavidor auf diesem Gebiet mit dem Marie-Curie-Preis gewürdigt. Diese Auszeichnung hat auch den Wert der im Rahmen jenes Netzwerks durchgeführten Forschung unterstrichen, das sie mit anderen europäischen Abteilungen der kognitiven Wissenschaft geknüpft hat, und dessen Forscher eine überraschende berufliche Mobilität an den Tag legen. Die Laufbahn dieser Israeli ist wirklich etwas Besonderes.


Wissenschaft in vorgerücktem Alter

Die aus Tel Aviv stammende junge Frau stammt aus einer Arbeiterfamilie und war nicht unbedingt für eine derartige Zukunft vorbestimmt. "Als ich jung war, habe ich nicht davon geträumt, Wissenschaftlerin zu werden, und schon gar nicht davon, eines Tages in den weiten und unbekannten Norden Englands überzusiedeln und dort zusammen mit kleinen Genies in Oxford zu arbeiten. Ich habe das Gefühl, dass mein heutiges Leben von der Zeit, als ich meinen Abschluss in Psychologie und Informatik an der Hebrew University in Jerusalem gemacht habe, meilenweit entfernt ist. Eine für die damalige Zeit ziemlich unübliche Ausbildung." Ende der 80er Jahre arbeitet Michal Lavidor nach ihrem Studium erst einmal in einer IT-Beratungsfirma in Israel. Sie hat die Aufgabe, Geldautomaten zugänglicher und benutzerfreundlicher zu gestalten. "Ich bin eigentlich erst viel später Wissenschaftlerin geworden und ich fühle mich privilegiert, nach diesem Lebensstil streben zu können", bemerkt sie. Ihre unerwartete Entscheidung für ein Hochschulstudium und dann auch noch für ein ungewöhnliches Fach beweist zweifellos ihren flexiblen und wagemutigen Charakter. "Mein Chef hatte mir nur deshalb geraten, meinen Magister zu machen, damit er meine Beratungstarife erhöhen konnte. Daher habe ich also mit dem Studium in experimenteller Psychologie begonnen - in Teilzeit. Ich war aber bald mit voller Begeisterung dabei. Jedoch nicht wegen der in Aussicht gestellten finanziellen Verbesserung, sondern wegen des beachtlichen Wissens, das mir dieses Fach vermittelte."


Prägende Entscheidungen

Danach beginnt Michal Lavidor mit ihrer Doktorarbeit. Ein Marie-Curie-Stipendium ermöglicht ihr im Jahr 2000 ein Studium an der Universität York (UK) und dann 2002 an der Universität Hull in Schottland. "Eine neue Welt öffnete sich mir." Sie macht Fortschritte. In ihrem Eifer kann sie Gelegenheiten ergreifen, bei denen sie "die Weichen selbst stellen kann", wie sie es ausdrückt. "Ganz wie Jacob Bronowski sagte, ich habe verstanden, dass das Wesen der Wissenschaft darin besteht, Fragen außerhalb des Themas zu stellen." Auf diese Weise ist es ihr gelungen, die ersten wissenschaftlichen Hypothesen über die visuelle Wahrnehmung zu widerlegen. Lange Zeit glaubte man, dass die Sehschärfe am höchsten ist, wenn sich das betrachtete Ziel - ein Wort, ein Bild oder eine Person - auf einem Fixierungspunkt, d. h. im Zentrum, befindet. Der Teil der Großhirnrinde, der dieses Zentrum darstellen soll, vergrößert sich und ermöglicht es dem Gehirn, das, was man in der Mitte sieht, zu zoomen. Folglich haben viele Forscher angenommen, dass die Sehschärfe dieser Zone von einer duplizierten Darstellung des Gegenstandes, der Person oder des Wortes herrührt. Dank der gleichzeitigen Benutzung der linken und rechten Seite des Gehirns überlagern sich die linke und die rechte Ansicht in der Mitte. Die Möglichkeit, dass das Gehirn diese Darstellungen in zwei Hälften aufspaltet, wurde folglich vernachlässigt. "Ich habe ganz intuitiv gespürt, dass diese duplizierte Darstellung nicht stimmt, denn sie ist nicht wirtschaftlich. Wenn Sie eine Denkmaschine mit zwei Prozessoren entwerfen, würden sie nicht beiden die Identifizierung der Wörter, also die gleiche Aufgabe, zuweisen. Durch Arbeitsteilung wäre der Vorgang effizienter. Die Menschen verhalten sich nicht so, als hätten sie eine doppelte Darstellung der Dinge." Mithilfe einer Reihe von Tests, deren Schlussfolgerungen heute akzeptiert sind, hat Michal Lavidor entdeckt, dass beim Geradeaus-Sehen die beiden Hälften des vom Gehirn dargestellten Gegenstandes zu einem Ganzen zusammengesetzt werden.

Diese Erkenntnis, auch als Theorie der Split Fovea (Aufteilung der Fovea) bekannt, hat unser Verständnis der visuellen Wahrnehmung und der Vorgänge beim Lesen geschriebener Worte grundlegend verändert. Der Ansatz könnte sich positiv auf die Behandlungsansätze bei Dyslexie und anderen Störungen der Hirnfunktionen beim Lesen auswirken. Welche Wirkung hat ein langes Wort auf unser Gehirn? Warum brauchen wir keine Vokale, um ein Wort zu verstehen? Wie verarbeiten wir undurchschaubare und komplizierte Metaphern in der Poesie? Zahlreiche Fragen werden von der Art und Weise, wie wir lesen, aufgeworfen. "Mein Hauptziel besteht aber nicht unbedingt darin, konkrete Lösungen zu finden. Als Erstes ist da immer der Wissensdurst, der manchmal auch zu Lösungen führt. Wenn ein Problem von einer theoretischen Entdeckung profitieren kann, warum nicht?"


Kreativität vernetzt

Die kognitiven Wissenschaften bilden den Gegenstand zahlreicher Forschungsarbeiten über das menschliche Gehirn. Hierbei versuchen die Wissenschaftler, unsere Logik, unsere Intuitionen, unseren Scharfsinn, unsere Vorlieben und Abneigungen und unser Gedächtnis zu analysieren. "Mein wichtigstes Ziel ist, zu beobachten, wie die Spezialisierung des Gehirns sich an eine kulturelle Erfindung, wie z. B. das Lesen, anpassen kann." Dank ihrer Passion und Freude am Dialog zwischen jungen Wissenschaftlern ist Michal Lavidor zu einer der Stützen des Themennetzes RTN-Lab (Language and Brain) geworden, das durch das 6. Rahmenprogramm gefördert wird und dem Forscher von zehn Universitäten aus sechs europäischen Ländern angehören. "Wir konzentrieren uns vor allem auf die sogenannten normalen und anormalen Entwicklungen der Sprachsysteme im Laufe des Lebens." Dieses Labor ist zusammengesetzt aus vier Forschungsteams, die sich auf verschiedene Aspekte der Dyslexie konzentrieren, und aus drei Teams, die die Entwicklung der Sprache im Laufe des Lebens untersuchen. Hierbei werden z. B. die Auswirkungen des Alterns sowie der Altersdemenz auf die Identifizierung der Wörter erforscht. "Wirklich zählt eigentlich nur, dass man die Gelegenheit zur Veränderung ergreifen kann und die Freiheit hat, intellektuelle Risiken einzugehen", folgert Michal Lavidor. Nachdem sie sich für ein nicht ganz gewöhnliches Forschungsthema entschieden und sich dafür eingesetzt hat, dass sie als Wissenschaftlerin ihre berufliche Karriere weiterführen und sich gleichzeitig um ihre Kinder kümmern kann (dabei wurde sie sechs Jahre lang von einem Hausmann unterstützt), hat noch weitere Projekte in Planung. Ihr Ziel ist die Gründung eines europäischen Exzellenzzentrums für kognitive Neurowissenschaften.


(i)
RTN-LAB - Language and Brain
Europäisches Marie-Curie-Forschungs- und -Ausbildungsnetzwerk
www.hull.ac.uk/rtn-lab/


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Quelle:
research*eu Nr. 53 - September 2007, Seite 24-25
Magazin des Europäischen Forschungsraums
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research*eu erscheint zehn Mal im Jahr und wird auch
auf Englisch, Französisch und Spanisch herausgegeben.


veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Januar 2008