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FORSCHUNG/325: Die Grenzen der Kriminalität (research*eu)


research*eu Nr. 53 - September 2007
Magazin des Europäischen Forschungsraums

Politikwissenschaften
Die Grenzen der Kriminalität

Von Christine Rugemer


An eine "Welt ohne Korruption" glaubt niemand. Aber wird Korruption überall in derselben Weise empfunden? Kann man ihr vorbeugen und sie auf allen Ebenen mit denselben Waffen bekämpfen? Humanwissenschaftler aus sieben Ländern haben sich im Projekt 'Crime and Culture'(1) zusammengeschlossen und versuchen die besonderen Merkmale dieses gefährlichen Phänomens zu erkunden. Anschließend sollen Präventivmaßnahmen vorgeschlagen werden, die an die jeweiligen soziokulturellen Besonderheiten in Verbindung mit Korruption angepasst sind.


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Alles ist verkäuflich. Jeder ist käuflich. In manchen Fällen macht die Korruption vor nichts mehr halt: nicht vor politischen Ebenen, nicht vor den Rädern der Verwaltung, den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Trägern oder vor kleinen Gruppen und Individuen. Die Ungerechtigkeiten, Ungleichheiten, Vergeudung und Frustrationen, die sie nach sich zieht, können der gesellschaftlichen Entwicklung und ihrer demokratischen Verwaltung als riesiger Stein im Wege liegen.

Für die beiden neuen Mitgliedstaaten der Union, Bulgarien und Rumänien, hängt diese Thematik mit unbestrittenen Problemen zusammen, selbst wenn alle anderen Mitgliedstaaten auf die eine oder andere Weise mehr oder weniger davon betroffen sind. Der Zusammenbruch der besonders autoritären kommunistischen Regimes hat nicht nur einen radikalen Umschwung zur Marktwirtschaft nach sich gezogen, sondern auch den Neuaufbau des politischen Systems und der staatlichen Strukturen. Diese Umwälzungen haben den Weg für Korruption an allen Fronten frei gemacht - sowohl im kollektiven Bereich als auch im Leben des Einzelnen. Bulgarien und Rumänien gehören (zusammen mit Deutschland, dem Vereinigten Königreich, Griechenland, Kroatien und der Türkei) zu den sieben Ländern, die von den Partnern des Projekts 'Crime and Culture' vergleichend analysiert werden. Das Projekt wurde bereits im Januar 2006 gestartet. "Bei den Befragungen zu den Ursachen der Korruption in unserem Land und weshalb sie so weit verbreitet ist, geben die meisten die verschiedenen wirtschaftlichen Gründe an, vor allem die blitzartige Bereicherung derjenigen, die an der Macht sind, im Vergleich zu den niedrigen Beamtengehältern", erklären die bulgarischen Forscher. "Andere Faktoren, die die Korruption erleichtern, sind rechtliche Lücken, ein ineffizientes Rechtssystem, mangelnde administrative Kontrolle und schließlich auch die moralische Krise, die für diese Übergangszeit kennzeichnend ist."


Entwaffnete Experten

Ein solches Abgleiten, das den grundlegenden demokratischen Prinzipien der Europäischen Union widerspricht, stellt ein echtes Hindernis für eine gelungene Integration dieser Länder dar. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um neue Mitglieder oder um Kandidaten handelt. Seit Ende der 90er Jahre hat die Europäische Union Unterstützung für die Ausarbeitung von Reformen in die Wege geleitet, die Institutionen, Verwaltungen, Gerichte und Ordnungsorgane betreffen und sich auf den gesamten öffentlichen Sektor, das Bankensystem und den Unternehmensbereich erstrecken. "Allgemein gesehen bestehen die Bemühungen zur Korruptionsvorbeugung, die auf Unionsebene und der Ebene der betroffenen Staaten umgesetzt werden, darin, neue administrative und institutionelle Maßnahmenpakete zu erarbeiten, die von Experten von oben nach unten konzipiert werden", bemerkt der Soziologe Dirk Tänzler von der Universität Konstanz (DE), Koordinator von 'Crime and Culture'. Die Experten geben sich alle Mühe. Aber weder die Voraussetzungen noch die Umsetzung ihrer Empfehlungen berücksichtigen den soziokulturellen Kontext, in dem das alltägliche Korruptionsverhalten wurzelt. "Genau an dieser Stelle erkennt man die strukturelle Ursache der sehr zwiespältigen Resultate dieser politischen Maßnahmen", führt Dirk Tänzler weiter aus. "Sie erreichen weder die Basis, auf der dieses Korruptionsverhalten blüht und gedeiht, noch die gesellschaftliche Legitimation, derer sie sich erfreut und die auf einer kulturell bedingten Art und Weise des Wahrnehmens und des Denkens beruht."


Die "solidarische" Moral

Die Spezialisten, die sich Präventions- und Druckmittel ausdenken, um gegen diese Form der sogenannten Weiße-Kragen-Kriminalität vorzugehen, stützen sich in der Realität auf Kriterien einer europazentristischen Ethik, die auf dem historischen und kulturellen Kontext des Westens aufbaut. Die "rationalistische Moral des Geschäftsgebarens" ist aber nicht universell. Viele Gesellschaften funktionieren nicht nach den Gesetzen und der Logik einer Marktwirtschaft, in der Korruption (im Prinzip) mit den "Spielregeln" unvereinbar ist. In vielen Gesellschaften folgen Schmiergelder, Vergünstigungen, Vetternwirtschaft - und sogar gewalttätige Praktiken wie Schutzgelderpressung oder die Vendetta - unsichtbaren Gesetzen, die auf Gegenseitigkeit beruhen und die die Werte der Solidarität und des Schutzes sowie eine hierarchische Legitimierung und Erfolgssymbolik tragen. Die Forschergruppen von 'Crime and Culture' analysieren jeweils in ihren eigenen Ländern die realen Bedingungen, denen diese Form der sozioökonomischen Abweichung unterliegt. "In unserer Forschung sollen keine Daten zu einem bestimmten Phänomen gesammelt werden, sondern sie soll uns Definitionen für das Phänomen liefern, das wir untersuchen", erklärt der Koordinator. "Die alltäglichen Korruptionstheorien sind in gesellschaftlichen Wahrnehmungsmustern verankert, die von ihren Akteuren unbewusst angewendet werden." Die Forscher haben anhand von Verwaltungs- und offiziellen Dokumenten sowie mit Hilfe von Interviews diese Wahrnehmungsmuster in sechs Zielgruppen untersucht: in der politischen Welt, in der Rechtssphäre, bei der Polizei, bei den Medien, die "als ein mächtiges Instrument zur Korruptionsbekämpfung anerkannt sind", in der Zivilgesellschaft und bei den Kräften des Marktes. In jedem Fall basiert der Forschungsansatz auf zwei Untersuchungen von Staatsaffären, bei denen politisch Verantwortliche unter Korruptionsverdacht standen oder anderweitig in diese Affären verwickelt waren. Eine gewisse Kultur

Welche Bedeutung soll man nun dem Kulturbegriff geben, der im Projekttitel verwendet wird? "Kultur ist keine Substanz oder ein spezifischer Aspekt, sondern eher die Form einer gesellschaftlichen Realität", heißt es in der Präsentation von Dirk Tänzler. Der Begriff ist im Rahmen einer breiten gesellschaftlichen Akzeptanz zu sehen, die als eine "Welt, in der die Akteure leben" und als "Wissensbestand, den Menschen zur Konstruktion ihrer eigenen Realität nutzen," definiert wird. Abgesehen davon interessieren sich die Forschergruppen nicht nur für die Sachlage in den gesammelten Berichten, sondern auch für die Art und Weise, mit der die Akteure berichten, d. h. für ihre Erzählform und ihre Art der Argumentation. Erwartungsgemäß unterscheiden sich die einzelnen Haltungen zur Korruption. Aber es bestehen der Untersuchung zufolge größere Unterschiede zwischen den Ländern als zwischen den einzelnen sozialen Gruppen. Analysiert man zum Beispiel zwei Rechtsstaaten wie Deutschland und das Vereinigte Königreich, trifft man auf eine generelle Ablehnung der Korruption, obwohl es allerdings Nuancen gibt, die auch nicht unerheblich sind. Die Deutschen sehen ihr eigenes Land als "sauber" an und die "tägliche" Korruption scheint ihnen keine relevante Größe zu sein. Institutionen und die öffentliche Verwaltung scheinen ehrlich zu sein. Dennoch fühlen sie sich von der politischen Korruption betroffen, die auftreten kann, während wiederum die herrschenden "Klüfte" in der Finanzwelt nicht als destabilisierende Faktoren betrachtet werden. Abschließend sind die Deutschen der Meinung, dass die Vorteile und die Bereicherung, die sich aus mancher "Mauschelei" ergeben, auf das wirtschaftliche Leben sogar anregend wirken könnten. Für die Briten haben die Verbindungen zwischen der politischen und der wirtschaftlichen Sphäre jedoch eine sehr negative Konnotation. Zur Bekämpfung dieser Entgleisungen vertrauen sie sehr stark den Medien - wichtigen Akteuren, die die öffentliche Meinung mobilisieren können -, den NRO als hervorragende Hebel zur Sensibilisierung der Bürger, aber auch den Parlamentariern. Die aktiven Schritte zur Korruptionsbekämpfung, die seit rund 15 Jahren im Land unternommen werden, werden in der Regel als wirksam eingestuft, selbst wenn die skeptischsten Bürger darin nichts weiter als eine oberflächliche Transformation sehen, die die Realität des "Business as usual" nur unzureichend kaschiert.


Die Umwälzungen des Übergangs

In den neuen Ländern der Union ist man von diesen Verhältnissen aber noch weit entfernt. Wie die bulgarischen Forscher verbinden auch die rumänischen Forschergruppen die Korruption mit dem Übergangsprozess. "Die Eskalation wird bereits seit vielen Jahren durch das Klima einer funktionsgestörten Marktwirtschaft begünstigt, die sich zwischen dem Staat und dem Privatsektor aufteilt. Das übertriebene staatliche Gewicht hat eine Inflation des Korruptionsverhaltens ermöglicht, egal ob es sich um die Finanzverwaltung, um die Begünstigung öffentlicher Unternehmen oder um bürokratische und diskriminierende Praktiken bei der Verteilung der Agrarsubventionen handelt, und das alles in einer Wirtschaftsumgebung ohne tatsächlichen Wettbewerb und Transparenz. Die negativen Auswirkungen dieses Zeitalters der Umwälzungen haben die steigende Bedeutung der Schattenwirtschaft und der Schwarzarbeit noch mehr ausgeweitet - ein Doppelphänomen, das der Illegalität einen fruchtbaren Boden bietet. Die rumänische Korruption lässt sich auch auf die langsame Durchführung und mangelnde Transparenz in der Privatisierungspolitik zurückführen. Der Verkauf staatlichen Eigentums hat einfache Korruptionsmöglichkeiten begünstigt. Der Bankrott einiger großer staatlicher Unternehmen und die Gründung neuer Gesellschaften (vor allem im Bankensektor) waren eine "wichtige Quelle für die Gewinne politischer Führer oder hochrangiger Privatpersonen". Die Rumänen sind sich aber auch vollständig dessen bewusst, wie die Korruption die Demokratie unterhöhlt, wie sie das Land vor die Tür der globalen Wirtschaft setzt und sich auf seine wirtschaftlichen Aussichten auswirkt, wie sie die Armut verstärkt und dem internationalen Image schadet. Korruption wird - von allen analysierten Gruppen - als ein verallgemeinertes Phänomen empfunden, das sich durch alle gesellschaftlichen Bereiche zieht und sich im Schneeballeffekt von der höchsten Ebene des Staates bis zu den kleinen individuellen Transaktionen verbreitet sowie zu einer Schattenwirtschaft führt, die für das Überleben meist auch absolut notwendig ist. "Die Bekämpfung der Korruption scheint von allen begrüßt zu werden - ohne dass aber jemand eine kurzfristige Lösung dafür finden kann."

(1) 'Crime and Culture' (Crime as a Cultural Problem. The Relevance of Perceptions of Corruption to Crime Prevention).

(i)
Crime and Culture
7 Länder (BU-DE-GR-HR-RO-TR-UK)
www.uni-konstanz.de/crimeandculture/index.htm
dirk.taenzler@unikonstanz.de


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Korruption 2007

Die Korruption in der Welt (32 Länder) ist Thema des jüngsten 'Global Corruption Report' von 'Transparency International' (TI). Der Titel selber mag ein wenig irreführend sein, da sich die Analyse vor allem mit der Korruption in der Justiz befasst, durch die manchen Bürgern der Zugang zur Justiz, zu gerechten Verfahren oder einfach nur überhaupt zu einem Verfahren verweigert wird. Es gibt hauptsächlich zwei Korruptionswerkzeuge: die politische Einflussnahme auf die Sphäre des Rechtssystems und die Schmiergeldpraxis. Im Bereich der Einflussname sind der Abbau der internationalen rechtlichen Normen, Richterwechsel oder Rücktrittsforderungen zu verzeichnen. Die Zahlung von Schmiergeldern, die verlangt wird, um Zugang zum Gericht zu erhalten, ist eine "geläufige" Praxis: In rund 25 Ländern hat einer von zehn Haushalten einen derartigen Zuschuss bereits gezahlt, in weiteren 20 Ländern mehr als drei von zehn Haushalten. Akere Muna, Vizepräsident von TI und Vorsitzender der panafrikanischen Rechtsanwaltsvereinigung, fasst die Situation klar zusammen: "Wenn die Justiz auf Geld und Macht aufbaut, sind die Armen aus dem Rennen." Der Bericht endet mit einer Reihe von Empfehlungen zur Stärkung der Unabhängigkeit der Justiz (Bestellungen, Arbeitsbedingungen, Transparenz usw.).

'Transparency International' ist auch vor Ort aktiv. Die Organisation verfolgt Verhandlungen und bietet Korruptionsopfern kostenlose juristische Beratung.

(i)
Global Corruption Report 2007, Cambridge University Press, 372 p.
www.transparency.org/
dzinnbauer@transparency.org


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Quelle:
research*eu Nr. 53 - September 2007, Seite 36-38
Magazin des Europäischen Forschungsraums
Copyright: Europäische Gemeinschaften, 2007
Herausgeber: Referat Information und Kommunikation der
GD Forschung der Europäischen Kommission
Chefredakteur: Michel Claessens
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E-Mail: research-eu@ec.europa.eu
Internet: http://ec.europa.eu./research/research-eu

research*eu erscheint zehn Mal im Jahr und wird auch
auf Englisch, Französisch und Spanisch herausgegeben.


veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Januar 2008