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BERICHT/049: Mit Mathematik die Welt verstehen (Leibniz)


Leibniz - Journal der Leibniz-Gemeinschaft 2/2008

Mit Mathematik die Welt verstehen

Ein Gespräch mit Dr. Sonja Peterson und Prof. Dr. Thomas Lux vom Institut für Weltwirtschaft über die Bedeutung der Mathematik in den Wirtschaftswissenschaften
Das Interview führte Christoph Herbort-von Loeper.


Der Ölpreis steigt auf neue Höchststände - und mit ihm auch die Benzinpreise an den Tankstellen. Unterdessen fallen die Aktienkurse, besonders von Bankwerten, ausgelöst durch die US-Immobilienkrise immer weiter. Die vordergründige Mathematik hinter diesen Phänomenen ist die, dass viele Autofahrer und Aktienbesitzer rechnen müssen, wie lange sie sich diese Entwicklungen noch leisten können. Nicht nur findige Anlageberater, sondern häufig auch Wirtschaftswissenschaftler vermitteln oft den Eindruck, wirtschaftliche Entwicklungen verlässlich vorhersagen zu können. Dennoch trafen sie Ölpreisexplosion und Immobilienkrise weitgehend unvorbereitet. Prof. Thomas Lux und Dr. Sonja Peterson vom Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW) erklären im Gespräch mit dem Leibniz-Journal, wie viel Mathematik heute in den Wirtschaftswissenschaft steckt - und wo die Grenzen des Vorausberechenbaren liegen.


LEIBNIZ: Die US-Immobilienkrise hat sich seit dem vergangenen Jahr zu einer globalen Bankenkrise ausgewachsen, die auch deutsche Kreditinstitute an den Rand ihrer Existenz gebracht hat - und das alles "nur", weil Hausbesitzer in den USA ihre Immobilienkredite fürs Eigenheim nicht mehr bezahlen konnten? War das wirklich unvorhersehbar oder haben die Banken aus Gewinninteresse einfach nur nicht auf die mahnenden Stimmen gehört?

LUX: Nun, zunächst finden Sie im Nachhinein fast immer jemanden, der eine eingetretene Entwicklung vorhergesagt hat oder haben will. Vor einem Jahr war sich die Fachwelt weitgehend einig, dass man auf diesem Anlagemarkt für Kreditderivate - also dem Handel mit bzw. der Übertragung von Krediten und deren Risiken auf Dritte - keiner akuten Gefahr ausgesetzt war und vielmehr die Entwicklung dieser Instrumente eine sehr viel effizientere Risikostreuung als zuvor ermöglichte. Die moderne Finanzmathematik spielte übrigens eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung dieser Märkte, da erst die von der Wissenschaft entwickelten Modelle zur Bepreisung derartig komplexer Produkte den Weg für ihren breiten Einsatz in der Finanzpraxis eröffnet haben.

LEIBNIZ: Also ist die Mathematik sogar an der ganzen Krise Schuld? Gerade im Anlagebereich wird doch häufig suggeriert, Risiken ließen sich verlässlich berechnen. Hat da die (Finanz-)Mathematik versagt?

LUX: Nein, denn die Berechnung der Risiken basiert immer auf vorhandenen Informationen, die in ein Modell einfließen. Hier war es aber so, dass viele Fakten nicht allgemein bekannt waren. Dass die Risiken so stark im Bankensektor konzentriert waren, ist durch das komplizierte Geflecht von Weiterverkäufen und Bündelungen lange nicht erkennbar gewesen. Außerdem können Berechnungen immer nur vergangene Szenarien einbeziehen, und die landesweite negative Entwicklung der Immobilienmärkte in den USA hat in ihrem Ausmaß in den vergangenen hundert Jahren kein Vorbild.

LEIBNIZ: Also sind wir jetzt für die Zukunft gegen ähnliche Krisen gewappnet?

LUX: Nur sehr bedingt. Die selbe Krise kommt sicher kein zweites Mal, aber Krisen kommen regelmäßig, wir wissen nur nicht genau wann - und welche unvorhergesehenen Faktoren dann die Auslöser sein werden, wissen wir leider auch nicht. Allerdings kann die (Finanz-) Mathematik verlässlich die Häufigkeit von Krisen und Kurseinbrüchen vorhersagen.

LEIBNIZ: Apropos vorhersehbar. Frau Peterson, beim Thema Energie und natürliche Ressourcen stehen aktuell der Ölpreis und die daraus resultierenden hohen Kosten, vor allem für Benzin, im öffentlichen Fokus. Vorhersehbar und allgemein bekannt war seit langem, dass die Energiepreise steigen würden. Eine Steigerung aber um fast das Zehnfache von 1999 mit 15 Dollar pro Barrel Öl zu aktuell 140 Dollar übertrifft die Vorhersagen nahezu aller Experten.

PETERSON: Der Ölpreis ist gerade ein Faktor, der sehr schwer vorhersehbar ist, selbst wenn sich im Nachhinein die Gründe für seine Entwicklung schlüssig nachvollziehen lassen. Mehr als allgemeine Trendvorhersagen sind kaum möglich - dafür spielen da zu viele Faktoren eine Rolle, die nur schwer in Modellen abgebildet werden können.

LEIBNIZ: Wo setzen Sie Mathematik in Ihrem Forschungsbereich ein?

PETERSON: Wir setzen zum Beispiel Standardmethoden der Ökonometrie ein, um Zusammenhänge zwischen verschiedenen Größen, wie etwa Preise von CO2-Zertifikaten und Energiepreisen empirisch zu untersuchen und zu quantifizieren. Komplexe Mathematik spielt eine Rolle, wenn wir etwa im Rahmen des Kieler Exzellenzcluster "Ozean der Zukunft" optimale Emissionsreduktionen unter Berücksichtigung der Wechselwirkungen von Atmosphäre und Meer im globalen Kohlenstoffkreislauf berechnen. Dazu müssen wir erst eigene Modelle entwickeln. Das ist ohnehin die eigentliche Kunst - ein für eine bestimmte Fragestellung geeignetes Modell zu entwickeln, um später in verschiedenen Szenarien durchspielen zu können, wie sich unterschiedliche Ausgangsvariablen und Annahmen auswirken würden. Die Mathematik kann immer nur so gut rechnen, wie die Modelle die Realität abbilden; nicht sie versagt bei fehlerhaften Vorhersagen, sondern die mangelhaften Modelle.

LEIBNIZ: Was simulieren Sie denn konkret mit Ihren Modellen?

PETERSON: Ein Beispiel aus der Klimapolitik. Wir versuchen zu simulieren, welche ökonomischen Auswirkungen das Europäische Emissionshandelssystem hat. Wie beeinflusst es die Wettbewerbsfähigkeit deutscher und europäischer Unternehmen? Wie weit steigen die Energiepreise? Wie sind die Haushalte betroffen? Wie viele Emissionsrechte sollte Deutschland an die Unternehmen verteilen, um die gesamtwirtschaftlichen negativen Effekte zu minimieren? Wir versuchen, verschiedene Handlungsmöglichkeiten und ihre Folgen abzuschätzen, um der Politik eine Grundlage für künftige Entscheidungen zu geben.

LEIBNIZ: Die Mathematik ist also ein Hilfsmittel, komplexe Zusammenhänge abzubilden und verschiedene Einflüsse in Form von Variablen auf ihre Ergebnisse zu berechnen?

LUX: Genauso ist es. Als diese Hilfswissenschaft ist die Mathematik heute aus den Wirtschaftswissenschaften nicht mehr wegzudenken. Vor einigen Jahrzehnten wurde die Mathematik in der Volkswirtschaftslehre fast nur als theoretisches Werkzeug im Rahmen der sogenannten allgemeinen Gleichgewichtstheorie verwandt, also zum Studium sehr abstrakter Modelle des gesamten Wirtschaftskreislaufs. Die modernen Möglichkeiten der computergestützten Datenverarbeitung haben die Fähigkeiten zur Lösung komplexer Modelle extrem vergrößert und einen sehr viel anwendungs- und datenorientierteren Einsatz mathematischer Modelle ermöglicht. Ganze Teilbereiche der Wirtschaftswissenschaften, etwa die Ökonometrie, sind durch sie überhaupt erst möglich geworden. Dennoch stelle ich immer wieder fest, dass VWL-Studenten über den Anteil von Mathematik am Studium völlig falsche Vorstellungen haben oder ihn deutlich unterschätzen.

PETERSON: Aber Mathematik ist mehr als nur eine Hilfswissenschaft! Mathematik ist auch eine gemeinsame Sprache der Wissenschaft über Disziplingrenzen hinweg. Wenn wir mit unseren Kollegen aus den Meereswissenschaften zusammensitzen, gibt es oft Missverständnisse mit Fachbegriffen - wenn wir aber einen Prozess als mathematische Formel aufschreiben, wissen alle, was gemeint ist.

LEIBNIZ: Also lautet die Devise: Mathe lernen, um die Welt - und die Kollegen - zu verstehen?

PETERSON: Ja, irgendwie schon. Mathematik ist heute auch im Alltag eine Schlüsselqualifikation. Die eigene Altersvorsorge, das private Haushaltsbudget - sie bekommen das doch alles ohne Mathe überhaupt nicht mehr hin.

LEIBNIZ: Trotzdem leidet Mathematik an einem akuten Imageproblem.

PETERSON: Ja, denn Mathematik wurde und wird zum Teil immer noch als dröge empfunden, etwas, das ohne Anwendungsbezug ganz stupide gelernt werden muss. Dabei kann Mathematik an sich sehr faszinierend sein und dabei helfen, praktische Probleme zu lösen und Zusammenhänge zu erkennen. Außerdem hat reine Mathematik viel mit Kunst und Kreativität zu tun. Wenn jemand zum Beispiel einen besonders eleganten Weg findet, eine mathematische Aussage zu beweisen, ist das für mich fachlich faszinierend, aber auch irgendwie ästhetisch.

LUX: Gerade auf dem Gebiet der Visualisierung mathematischer Formeln und Strukturen kann man heute mithilfe von Computern viel machen, was oft an künstlerische Gemälde erinnert. Da müsste in den Schulen noch viel mehr passieren, um das Faszinierende an der Mathematik zu vermitteln.

PETERSON: Nur an einem Punkt kommt man nicht vorbei. Mathematik ist durchaus auch schwierig, es erfordert einige Investitionen, um sie zu lernen - aber das sind Investitionen, die sich lohnen.


Dr. Sonja Peterson studierte Wirtschaftsmathematik und Volkswirtschaftslehre in Hamburg und an der University of Colorado at Boulder und ist seit 2006 Leiterin des Forschungsbereichs Umwelt und natürliche Ressourcen am Institut für Weltwirtschaft in Kiel.

Prof. Dr. Thomas Lux ist Professor für Volkswirtschaftslehre, insbes. Geld, Währung und internationale Finanzmärkte, an der Universität zu Kiel und im Forschungsbereich "Risiken im Bankensektor" des Instituts für Weltwirtschaft.


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Quelle:
Leibniz - Journal der Leibniz-Gemeinschaft, Nr. 2/2008, Seite 6-7
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Juli 2008