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DISKURS/004: Vom Nutzen des Nutzlosen (attempto! - Uni Tübingen)


attempto! 22/2007
Forum der Universität Tübingen - April 2007

Vom Nutzen des Nutzlosen

Von Otfried Höffe


Die Behauptung, die Geisteswissenschaften seien nicht profitfähig, entspringt einer verzerrten Betrachtungsweise. Indem sie den kulturellen Reichtum der Menschheit erforschen, erinnern und bewahren, erfüllen sie gerade im Zeitalter der Globalisierung und Ökonomisierung eine wichtige Funktion.


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Einer der nutzlosen Zeitgenossen des 20. Jahrhunderts, der Existenzphilosoph Albert Camus, lobt in seiner Autobiografie "Der erste Mensch" die Volksschule, denn sie nährte "einen Hunger, der für das Kind noch wesentlicher war als für den Mann, den Hunger nach Entdeckung". Mehr als zwei Jahrtausende früher bringt DER Philosoph, Aristoteles, in seiner "Metaphysik" die persönliche Erfahrung auf den Begriff: "Alle Menschen verlangen nach Wissen von Natur aus."

Weder Camus noch Aristoteles binden den Hunger nach Entdeckung an einen Nutzen. Diese Übereinstimmung von Athen bis Algier über mehr als zwei Jahrtausende vermittelt unserem Zeitalter eine doppelte Botschaft: dem Zeitalter der Globalisierung, dass es kulturübergreifende Gemeinsamkeiten gibt, und dem Zeitalter der Ökonomisierung, dass zu ihnen eine nutzenfreie Wissbegier gehört, eine Entdeckungs- und Erfindungslust, die sich den Zwängen der Ökonomie nicht beugt.

Wer bei der Ökonomisierung der Hochschulen leichteres Spiel haben will, trennt die angeblich profitfähigen Naturwissenschaften samt Medizin und Technik von den scheinbar profitunfähigen Wissenschaften, der Philosophie und den Geisteswissenschaften. Diese Einteilung vergröbert die Wirklichkeit nicht bloß, sie verzerrt sie sogar. Denn die Sinologie beispielsweise und die facettenreiche Orientalistik erschließen Kulturen, deren Verständnis heute unverzichtbar ist: für die Medien, für Unternehmer, nicht zuletzt für Politiker, damit sie uns finanziell und politisch kostspielige Fehlentscheidungen ersparen.

Als nächstes ist dem zu kurzsichtigen Verständnis von Wirtschaftlichkeit zu widersprechen: Bauwerke wie die ägyptischen Pyramiden und griechischen Tempel, wie die europäischen und außereuropäischen Gotteshäuser und Paläste oder Parkanlagen sind weder auf kurzfristigen Nutzen noch aufs bloße Überleben angelegt, haben gerade deshalb Jahrhunderte überdauert und werfen selbst in merkantilen Begriffen, nämlich über den Tourismus, Generation für Generation große Gewinne ab. Die genannten Werke müssen aber erschlossen werden, teils im physischen Sinn, indem man sie ausgräbt oder restauriert, teils im intellektuellen Sinn von Kunstführern und Katalogen. Hinter beiden Aufgaben steht eine Arbeit der Geisteswissenschaften, in deren Genuss die Öffentlichkeit seit langem kommt. Und weil man die Geisteswissenschaften allerorten studiert, tragen Wittgenstein und der Wiener Kreis den Ruhm von Wien, tragen Hegel, Hölderlin und Schelling den Ruhm von Tübingen und tragen die Brüder Humboldt mit Hegel und Schleiermacher den Ruhm von Berlin in alle Welt.

Nimmt man ein drittes Kennzeichen unserer Zeit, die Wissensgesellschaft, ernst, so zählen darin nicht zuletzt kognitive Kompetenzen, die im Fall der Geisteswissenschaften mit einer Art geistiger Wahrnehmung beginnen, nämlich mit der Fähigkeit, selbst komplexe Texte zu lesen und zu entschlüsseln.

Ein Zeitalter der Globalisierung heißt Philosophie und Geisteswissenschaften auch deshalb willkommen, weil sie mit einer zweiten Wissensleistung, dem Erinnern, den kulturellen Reichtum der Menschheit vergegenwärtigen. Mag sich andernorts ein Eurozentrismus, häufiger ein Amerikozentrismus zeigen - die Gesamtheit der Geisteswissenschaften erhebt gegen jeden Kulturimperialismus vehementen Einspruch. Denn studiert werden die sozialen und kulturellen Gegenstände schlechthin aller Gesellschaften und Epochen. Zugleich wird eine der globalen Welt unverzichtbare Fähigkeit eingeübt, die Sympathie und Empathie mit anderen Kulturen: Wer sich in fremde Denk-, Sprach- und Verhaltensmuster 'einlebt', lernt sowohl die anderen in ihrer Andersartigkeit als auch sich und die anderen in ihrer Gemeinsamkeit und nicht zuletzt - durch den Kontrast - sich selbst besser zu verstehen.


Kritische Urteilsfähigkeit

Die Philosophie und Geisteswissenschaften verbinden eine argumentative Klarheit mit sprachlicher Präzision und methodischer Sorgfalt, die den Vergleich mit den Naturwissenschaften nicht zu scheuen braucht. Weil man die Kulturzeugnisse, statt sich auf fremde Meinungen zu verlassen, selber studiert, bildet man sich die eigene Meinung und entwickelt sowohl gegen fragwürdige Versprechen politischer Führung als auch gegen mancherlei Katastrophenpoesie eine kritische Urteilsfähigkeit. Diese erlaubt, was die Gegenwart vornehmlich braucht: weder eine bloße Apologie der Globalisierung und Ökonomisierung noch den planen Widerspruch, wohl aber die unparteiische Suche nach Für- und nach Gegenargumenten und deren richterähnliche Abwägung.

Zu dieser judikativen Kritik gehört eine 'Verblüffungsresistenz', die nicht von jeder Neuerung, weil angeblich revolutionär neu, verblüfft wird. Geisteswissenschaftler erinnern beispielsweise an ältere Globalisierungen: dass sich Philosophie und Wissenschaften, auch Medizin und Technik seit der Antike über die Welt verbreiten; dass dasselbe für viele Religionen zutrifft, die deshalb Weltreligionen heißen; dass schon in hellenistischer Zeit (fast) ein Welthandelsgebiet mit Weltmarktpreisen und sogar Welthandelszentren wie Alexandria entstanden; und dass in der Zeit der klassischen Goldwährung, also in den Jahren von 1887 bis 1914, der globale Handel zwischen den entwickelten Ländern sich fast auf dem heutigen Niveau bewegte. Es gibt ein weiteres ökonomisches Argument für die Geisteswissenschaften: Im globalen Wettkampf der Wirtschaftsstandorte spielt die kulturelle Infrastruktur eine erhebliche Rolle. Dank ihrer Museen, Theater, Musik und Vortragskultur blühen in Mitteleuropa eine Fülle von Metropolen, was ohne die intensive Zuarbeit der Philosophie und der Geisteswissenschaften nicht denkbar ist.

Im Blick auf die derzeit boomenden Lebenswissenschaften samt Medizin drängen sich weitere Argumente für die Notwendigkeit der Geisteswissenschaften auf: Weil viele der einschlägigen Fragen ein existentielles Gewicht haben, sind die Debatten der biomedizinischen Ethik auch in der Öffentlichkeit zu führen. Und hier können in säkularen, überdies multikonfessionellen, neuerdings sogar multireligiösen Gesellschaften im Kern nur philosophische, juristische und historische Argumente überzeugen.

Die bislang genannten Argumente sind zwar gewichtig, aber noch wesentlich unvollständig. Der Gefahr einer Instrumentalisierung treten Philosophie und Geisteswissenschaften mit ihrem Selbstverständnis als 'artes liberales', als freie Studien, entgegen. In einer ersten Bedeutung sind sie frei, weil sie einem dogmatischen und autokratischen Denken widersprechen und weil sie, statt sich auf die eigene Kultur und Epoche zu fixieren, kulturelle Offenheit und Toleranz fördern. Eine zweite Bedeutung von Freiheit tritt im Studium generale und in Senioren-Universitäten zutage: Die Veranstaltungen stehen Personen offen, die sich zumindest vorübergehend dem Zwang zur Erwerbsarbeit entziehen. Die dritte, sachlich aber primäre Bedeutung schließlich erinnert an die griechischen Wurzeln: In der Antike heißt frei (eleutheros), wer sein Leben nicht auf den Tausch funktionaler Beziehungen verkürzen lässt, es vielmehr um seiner selbst willen führt. In diesem Sinn sensibilisieren die Philosophie und die Geisteswissenschaften für Dinge, für die sich auch unter Verzichten zu engagieren lohnt, für so wesentliche Dinge wie Gerechtigkeit und Moral, wie Literatur und Musik, wie bildende Kunst und Architektur, nicht zuletzt für das eigenständig-kritische Denken, die Philosophie, selbst.


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Otfried Höffe ist seit 1992 Professor für Philosophie an der Universität Tübingen und lehrte zuvor in Duisburg und Fribourg (Schweiz). Näheres zum Thema findet sich in seiner Publikation: Wirtschaftsbürger - Staatsbürger - Weltbürger. Politische Ethik im Zeitalter der Globalisierung, Beck: München 2004, Kapitel 17.


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Quelle:
attempto!, April 2007, Seite 22-23
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attempto! erscheint zweimal jährlich zu Semesterbeginn


veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Juni 2007