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DISKURS/006: Geisteswissenschaften im Aufwind? (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion 12/2007

Geisteswissenschaften im Aufwind?

Von Stefan Orth


Die Universität ist die Stätte, an der Gesellschaft und Staat das hellste Bewusstsein des Zeitalters sich entfalten lassen.
(Karl Jaspers)


Das "Jahr der Geisteswissenschaften" neigt sich dem Ende zu. Es teilte das Schicksal so vieler Thementage, -wochen und -jahre. Von den Initiatoren bejubelt, den jeweils Engagierten freudig bis eher skeptisch beäugt und von allen anderen weitgehend ignoriert. Immerhin beim achten Mal - und nur als Ganze - wurden jetzt auch die Geisteswissenschaften bedacht, nachdem zuerst die Physik, dann etwa die Lebens-, Geo- und Technikwissenschaften und zuletzt die Informatik im Mittelpunkt standen und 2008 mit der Mathematik wieder ein anderer Akzent gesetzt wird. Was darf man schon von einer Reihe an Vorträgen, Podiumsdiskussionen und Symposien zu jenem breiten Spektrum wissenschaftlicher Disziplinen erwarten? Manche bemängelten gar, das "Jahr der Geisteswissenschaften" erinnere an jene Versuche, mit denen Naturschutzverbände mit mehr oder weniger Erfolg auf bedrohte Vogelarten aufmerksam machen. Also alles nur Pfeifen im Wald? "Allzu heftige Reanimationsversuche lassen nun einmal darauf schließen, dass ein Patient ins Leben zurückgerufen werden soll, dem letztlich nicht zu helfen ist", frotzelte etwa der Publizist Konrad Adam.

Ganz so leicht sollte, man es sich jedoch nicht machen. Immerhin haben die Geisteswissenschaften in den vergangenen zwölf Monaten auch Auftrieb erhalten. Im vergangenen Herbst, unmittelbar vor dem Beginn des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung verantworteten Aktionsjahres, war der Aufschrei noch groß. In der ersten Runde der so genannten Exzellenzinitiative von Bund und Ländern waren die philologischen und historischen Vorhaben im großen Stil gescheitert. Die Geisteswissenschaften zählten nicht mehr zum Kanon der elitebestimmenden Fächer, klagte der Literaturwissenschaftler und Präsident der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, Dieter Borchmeyer, mit Blick auf die Vorherrschaft Technischer Universitäten. Er löst damit immerhin eine rege Diskussion aus, in der er sich vom Fachkollegen Peter Strohschneider für die verbreitete Untergangsstimmung kritisieren lassen musste: Können Geisteswissenschaftler, so der Vorsitzende des Wissenschaftsrats, ihre Interessen nur in apokalyptischer Perspektive artikulieren?


Die Geisteswissenschaften in der Exzellenzinitiative

Ein Jahr später sieht die Sache ein wenig besser aus. Mitte Oktober wurden mit der Freien Universität Berlin sowie den Universitäten in Freiburg, Göttingen und Heidelberg auch solche in den Kreis der "Elitehochschulen" aufgenommen, deren Namen gerade aufgrund ihrer traditionsreichen geisteswissenschaftlichen Fakultäten weltweit einen Klang haben. Und immerhin jeweils fünf von 20 Exzellenzclustern und 21 Graduiertenschulen, die aus der zweiten Runde erfolgreich hervorgegangen sind, haben einen Zuschnitt, der sie als geisteswissenschaftliche Unternehmung ausweist. Die Geisteswissenschaften sind damit nach ihrem auch sonst geltenden Proporz an der Universität vertreten: Knapp 360.000 Studierende an Deutschlands Hochschulen gehören zu ihnen, das entspricht grob gesprochen einem Viertel.

Auch die zur Verfügung stehende Ausstattung der zugehörigen Institute, Fachbereiche und Fakultäten an Deutschlands Hochschulen ist insgesamt weiterhin beachtlich. Bei genauerem Hinsehen wird allerdings deutlich, wie sich hier die Gewichte in den vergangenen Jahrzehnten kontinuierlich zu Ungunsten der - oft ehemaligen - philosophischen Fakultäten und der ihnen verwandten Wissenschaften verschoben haben. Wo entgegen der allgemeinen Kürzungsvorgaben frisches Geld in die Universitäten gepumpt wurde, betraf dies schließlich andere Fächer; andernorts wurden Stellen und Finanzmittel einfach umgewidmet.

Nach Berechnungen des Deutschen Hochschulverbands haben die Geisteswissenschaften in den vergangenen zehn Jahren 663 Professorenstellen verloren, ein Rückgang von insgesamt 11,6 Prozent. Die Zahl der von ihnen zu betreuenden Studierenden hat sich jedoch erhöht, so dass das Verhältnis inzwischen deutlich ungünstiger ausfällt: Waren nach Angaben des Wissenschaftsrats aus dem vergangenen Jahr 1990 erst 19 Prozent der Gesamtzahl der Studierenden in geisteswissenschaftlichen Fächern eingeschrieben, sind es heute 26 Prozent. Die Betreuungsrelation in den Sprach- und Kulturwissenschaften etwa hat sich von rechnerisch 75 zu 94 Studierenden pro Professor verschlechtert.

Ein ordentliches Studium, gar gemessen an den Humboldtschen Idealen, ist damit nur sehr eingeschränkt möglich - was freilich in Deutschland genauso für die meisten anderen Fächergruppen gilt. Und für die vielen Professoren und die wenigen Professorinnen vor allem in den Geisteswissenschaften folgt daraus, dass die Lehre und die mit jeder Hochschulreform weiter stark zunehmenden Aufgaben der Selbstverwaltung überhand genommen haben und vielfach nur die Freizeit für die Forschung bleibt. Es ist kein Zufall, dass, von Qualifikationsarbeiten abgesehen, größere wissenschaftliche Monographien inzwischen oft genug erst mit der Berufung des Nachfolgers in Angriff genommen werden. Ausnahmen bilden vielleicht noch jene, die sich erfolgreich um eine längere Auszeit, etwa am Berliner Wissenschaftskolleg, beworben haben.


Die Lage der Geisteswissenschaften bleibt weiterhin prekär

Mit Recht wurde in den vergangenen Monaten auch auf die durchaus zahlreichen außeruniversitären Forschungseinrichtungen verwiesen, die es in Deutschland gibt oder die zumindest von hier aus finanziert werden. Und darüber hinaus sind zwischenzeitlich auch eine Reihe weiterer Impulse zur Förderung der Geisteswissenschaften zu vermelden.

Somit mag sich in der Spitze die Situation etwas aufgehellt haben. Gleichwohl bleibt die Lage der Geisteswissenschaften, die im 19. Jahrhundert Herzmitte der Universität waren, heute insgesamt prekär. Daran wird auch der finanzielle Segen der Exzellenzinitiative nichts ändern, zumal nicht sicher ist, dass er sich im allgemeinen Betrieb an den chronisch unterfinanzierten Universitäten merklich positiv auswirkt.

Hauptcrux bei der Verteidigung geisteswissenschaftlicher Forschung in den weiterhin anstehenden Verteilungskämpfen um personelle und finanzielle Ressourcen, die zuletzt auch durch die Stärkung der Hochschulleitung in die Universitäten selbst hineingetragen worden sind, ist die Frage nach der Verwertbarkeit ihrer Ergebnisse, Der wichtigste Beweggrund, Forschung zu fördern, ist und bleibt die Aussicht, aus ihr später auch einen finanziellen Vorteil zu ziehen.

Entsprechend setzte sich seit den achtziger Jahren ein Wissenschaftsbegriff durch, der Sinologen, Kunstgeschichtlern und Historikern im Grunde fremd ist. Für ihre Forschung gilt, dass sie vergleichsweise günstig zu haben ist, weil keine aufwendige Versuchsanordnung, kein Maschinenpark oder ähnliches finanziert werden muss. Die wichtigste Ressource für geisteswissenschaftliche Forschung ist und bleibt neben einer guten Bibliothek die Zeit für Lektüre und Diskussion, Vortrags- und Publikationstätigkeit. Trotzdem bestimmen letztlich die Natur- und Lebenswissenschaften heute auch das Design der Forschungsförderung in den Geisteswissenschaften: das Arbeiten in Teams oder gar Clustern, die Rhythmisierung dieser Arbeit durch Projektanträge, deren Durchführung und ihre abschließende Evaluierung.


Nicht die Fragen der Ausbildung außen vor lassen

Die Geisteswissenschaften bewegen sich deshalb unumkehrbar in der Spannung zwischen jener Freiheit, die sie für den Erkenntnisfortschritt brauchen und den Zwängen des modernen Hochschulwesens. Zur schleichenden Legitimationskrise der Geisteswissenschaften in ihrer derzeitigen Gestalt gehört darüber hinaus, dass die Berufsaussichten der Examenskandidaten nur unterdurchschnittlich sind. Gefeierte Forschungseinrichtungen und klangvolle Namen geisteswissenschaftlicher Fakultäten, gut besuchte Museen oder die Fülle der Buchpublikation deutscher Verlage sind eben noch längst keine wirtschaftliche Grundlage für die Fülle der Absolventen geisteswissenschaflicher Fächer - selbst wenn man einmal die große Zahl der angehenden Lehrer abzieht, die wiederum mit nur schlecht prognostizierbaren Einstellungschancen zu kämpfen haben.

Ungeachtet der Wertschöpfung in der so genannten Kulturindustrie gehören letztlich viele Produkte von Geisteswissenschaftlern in die Kategorie des gern gesehenen, im Ernstfall aber auch verzichtbaren Luxus. Die wenigsten wären bereit, etwa für ein Buch oder einen Vortrag den Preis zu bezahlen, den diese realistischerweise kosten müssten - und der im Falle anderer Güter und Dienstleistungen auch gerne bezahlt wird.

Zwar gilt aufs Ganze gesehen auch für Geisteswissenschaftler, dass ein Hochschulstudium vergleichsweise gut vor Arbeitslosigkeit schützt. Dennoch tun sie sich schon seit einiger Zeit schwer, eine ihrer Ausbildung angemessene und auch entsprechend dotierte Stelle zu finden. Im Bericht des Wissenschaftsrats heißt es: Geistes- und Sozialwissenschaftler "schätzen ihre Tätigkeit in geringerem Maße als andere Absolventen als ihrer Qualifikation entsprechend ein, der Hochschulabschluss ist für die ausgeübte Tätigkeit oft nicht zwingend erforderlich und das Einkommen geringer als bei anderen Absolventen". Als Ausgleich sei freilich die Berufszufriedenheit unter Geistes- und Sozialwissenschaftlern "vergleichsweise hoch".

Besonders schwierig wird es für jene, die sich nach der Promotion dazu entschließen, an der Hochschule zu bleiben. Wer als Habilitierter keine Professur erheischen kann, steht in der Regel vor dem beruflichen Aus. Deshalb sind zuletzt auch vermehrt Forderungen laut geworden, dass es gerade um der geisteswissenschaftlichen Fächer willen wieder an der Universität vermehrt unbefristete Anstellungsmöglichkeiten unterhalb der Professur geben müsse. Denn sonst geht die um der Qualitätssicherung notwendige Auswahl bei der Besetzung von Lehrstühlen vor allem zu Lasten der unterlegenen Bewerber.

Gerade vor diesem Hintergrund eingeschränkter Berufsaussichten wäre es offenkundig fatal, beim wichtigen Streben nach Bildung, die Fragen der Ausbildung außen vor zu lassen. Im "Manifest der Geisteswissenschaften" hatten fünf Wissenschaftler verschiedener Fächer im Jahr 2005 "schulähnliche Unterrichtsstätten" beklagt, "in denen die berufsbezogene Ausbildung von 40 Prozent bis 50 Prozent eines Jahrgangs bewerkstelligt werden muss". Wer dies beklagt, hat bei der Verteidigung der bisherigen Ausstattung schließlich schlechte Karten.

Darüber hinaus gibt es eine weitere Bringschuld. Der Historiker Ulrich Herbert, Vorsitzender der Arbeitsgruppe Geisteswissenschaften des Wissenschaftsrats, kritisiert: "Da werden Massen von Studierenden durch die Hochschulen geschleust. Die können nichts, die wollen nichts - und die braucht auch keiner!" In vielen geisteswissenschaftlichen Studiengängen herrsche deshalb eine "Unkultur der Halbbildung". Die Tendenz, angesichts schwieriger Berufsaussichten eine zumindest überdurchschnittliche Bewertung des nur in Maßen vorhandenen Studienerfolgs als Motivation auszuloben, wäre kontraproduktiv, werden doch die Leistungen aller dadurch geschmälert. Hier müssen die Geisteswissenschaftler auch selbst etwas für die Standards im eigenen Fach tun.


Die Aura der Gelehrten ist heute unwiederbringlich verloren

So problematisch sich die Lage der Geisteswissenschaften weiterhin darstellt: Die jüngsten Ergebnisse der Exzellenzinitiative können immerhin als Indiz dafür genommen werden, dass der Wind die Richtung zu ändern beginnt. Auch mischen sich in den intensiver geführten Diskussionen seit der Jahrhundertwende erfrischend selbstbewusstere Stimmen ein.

Die Geisteswissenschaften bleiben in modernen Gesellschaften unverzichtbar. Es wird wieder verstärkt anerkannt, dass sie als in der Regel historisch orientierte Wissenschaften nicht einfach rückwärtsgewandt sind, sondern ihre Vorschläge zur Gestaltung von Gegenwart und Zukunft gerade aufgrund ihrer Kenntnis der Vergangenheit unverzichtbar sind. In einer sich weiterhin komplexen gestaltenden Welt, in der ein großer Teil der großen Überlebensfragen nicht mit empirischen Methoden beantwortet werden kann, sind sie ohnehin wichtiger denn je. Weder das weitere Zusammenwachsen Europas, die Auseinandersetzung mit dem Islam oder die drängenden bioethischen Fragen beispielsweise lassen sich ohne geisteswissenschaftliche Expertisen angemessen angehen.

Dass der Großteil an Dissertationen nicht auf ein öffentliches Interesse stößt, muss da kein Gegenargument sein. Jörg-Dieter Gauger und Günther Rüther haben in der Einführung des soeben erschienenen Bandes "Warum die Geisteswissenschaften Zukunft haben" darauf hingewiesen, dass bei allem Spott über manche Themenstellung übersehen wird, wie auch in den Naturwissenschaften das wissenschaftlichen Arbeiten an sehr speziellen Fragestellungen eingeübt werde. Nur scheine die Unzugänglichkeit der Materie Naturwissenschaftlern mehr Respekt zu verschaffen.

Für das Geisteswissenschaftlern zustehende Selbstbewusstsein wird wichtig sein, dass dort, wo demnächst verstärkt die Bedingungen für exzellente geisteswissenschaftliche Forschung gegeben sind, deren Ergebnisse zugunsten aller auch ausstrahlen. Gerade in geisteswissenschaftlichen Fächern bestimmen deutsche Forscher ohnehin oft genug nach wie vor die 'standards of excellence' mit, nachdem in den vergangenen beiden Jahrhunderten vielfach die wissenschaftlichen Methoden und Standards hierzulande entwickelt wurden.

Die Aura der Gelehrten des 19. und auch noch des 20. Jahrhunderts jedoch ist nicht zuletzt aufgrund der Spezialisierung, die auch in den Geisteswissenschaften zum Tragen kommt, heute unwiederbringlich verloren. Fehl am Platz ist auch der Dünkel sensibler Künstlernaturen, wie er gelegentlich in die Diskussionen über die Zukunft der Geisteswissenschaft eingestreut wird ("Du sollst nicht lärmen. Wider die Reklame für Geisteswissenschaften und Literatur" titelte die Süddeutsche Zeitung zu Beginn des Jahres der Geisteswissenschaften).

Man wird Geisteswissenschaftler nicht verübeln können, wenn sie auf reale Probleme angesichts der grassierenden und gelegentlich auch blinden Begeisterung für, so die Kurzformel, Info-Nano-Bio aufmerksam machen. Andere für ihre Sache begeistern können sie freilich nur, wenn sie das Ihre auch einem breiteren Publikum nahe zu bringen versuchen. Wo ein Nutzen nicht zu haben ist, weil der Denk- und Erkenntnisfortschritt sich in anderen Sphären bewegt, muss der Gesellschaft doch dessen Bedeutung plausibel gemacht werden können. Nicht zuletzt deshalb würde es auch nicht ausreichen, allein auf die Forschung zu setzen.


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
61. Jahrgang, Heft 12, Dezember 2007, S. 595-597
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Januar 2008