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BERICHT/121: Die Flugschriftensammlung 1848 (Forschung Frankfurt)


Forschung Frankfurt 1/2007
Das Wissenschaftsmagazin der Johann Wolfgang Goethe-Universität

Demonstration, Straßenkampf und ein brutaler Mord
Die Flugschriftensammlung 1848 im Netz

Von Dr. Anne Hardy und Dr. Wilhelm R. Schmidt


Am 18. September 1849 demonstrierte eine tausendköpfige Menge radikaler Linker vor der Frankfurter Paulskirche. Bereits seit mehreren Monaten agitierten sie, wie der Historiker Thomas Nipperdey es ausdrückt, "gegen das Versacken der Paulskirche und der anderen Parlamente in endlosen Beratungen, Kompromissen, in Schwäche". Den Radikalen ging die Revolution der im Parlament wortführenden Liberalen nicht weit genug. Sie entzogen der Nationalversammlung das Vertrauen und wollten sie durch eine zweite Revolution entmachten. Die Situation spitzte sich zu, als die Abgeordneten des Paulskirchenparlaments im preußisch-dänischen Streit um die Zugehörigkeit Schleswigs einen politischen Schlingerkurs fuhren: Zunächst hatte die Versammlung den Waffenstillstand von Malmö abgelehnt. Das Abkommen sah vor, dass Schleswig nach dem Beispiel Holsteins zu Dänemark überging. Knapp zwei Wochen später beugten sich die Abgeordneten aber dem internationalen Druck und erkannten den Waffenstillstand an.

In Frankfurt versammelten sich daraufhin empörte Volksmassen vor der Paulskirche und bezichtigten die Befürworter des Waffenstillstan des des Verrats am deutschen Volk. Um eine geplante bewaffnete Versammlung in der Frankfurter Innenstadt zu verhindern, riefen der Frankfurter Senat und die Regierung österreichische, preußische und hessische Truppen zum Schutz der Abgeordneten herbei. Tatsächlich versuchten am 18. September 1849 Demonstranten, die Paulskirche zu besetzen, wurden aber vom Militär daran gehindert. Daraufhin entbrannten Straßenkämpfe, die in erbitterten Gefechten bis zum Abend vom Militär niedergeschlagen wurden. 80 Tote waren zu beklagen, darunter auch die konservativen Abgeordneten Fürst Felix von Lichnowsky und General von Auerswald.


Flugblätter und Flugschriften zu 1848

Soweit die Geschichtsbücher. Wer sich einen lebendigen Eindruck der zeitgenössischen Wahrnehmung der Ereignisse verschaffen möchte, sei auf die "Flugschriftensammlung" (Flugblätter und Flugschriften im Zusammenhang der Ereignisse um 1848) der Frankfurter Universitätsbibliothek verwiesen. Die Sammlung ist überwiegend einem speziellen Forschungsinteresse der Frankfurter Universität in den 1970er Jahren zu verdanken. Damals erwarb die Bibliothek die hier einschlägigen Stücke bewusst und gezielt, und sie beschränkte sich dabei durchaus nicht auf die Literatur im Zusammenhang mit den Frankfurter Ereignissen und der Paulskirche. Vielmehr stand damals zumindest auch die weitere Entwicklung in Frankreich mit im Vordergrund. Die Bibliothek erwarb aktiv die dortige Revolutionsliteratur, unter anderem die Zeitschriften "Le Charivari" und "La Caricature", und sie interessierte sich speziell auch für den Bereich der Pariser Commune. Die Ankäufe wurden bis in die späten 1990er Jahre fortgesetzt, zuletzt insbesondere in österreichischen Antiquariaten. Es finden sich Schrifttumsbeispiele aus allen europäischen Revolutionsgebieten.

"Die Materialien zu 1848", wie dieser Bereich in der Frankfurter Bibliothek auch oft benannt wird, ist nicht genrespezifisch, sondern thematisch angelegt. Er beinhaltet nicht nur Flugblätter und Flugschriften im engeren Sinne, sondern auch Monografien, mehrbändige Werke und, dies allerdings nur in sehr kleinem Rahmen, Zeitschriften. Das Material ist weltweit über den HEBIS/PICA-Verbundkatalog recherchierbar und kann - dank eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Digitalisierungsprojekts - am heimischen Computer gelesen werden. Eine Besonderheit sind die im Netz mitgelieferten Kommentare, die von dem Archivar Paul Wentzcke (1879 - 1960), dem früheren Abteilungsleiter im Bundesarchiv Heinz Boberach, seinem Mitautor Horst Zimmermann und dem Bibliothekar Bernhardt Welsch stammen. Die bibliografischen Angaben zu den einzelnen Flugschriften, Autor, Titel, Erscheinungsort und Erscheinungsjahr wurden um Angaben zu den beteiligten oder erwähnten Personen erweitert, weiterhin um die Orte der Ereignisse und um ein längeres Incipit (Beginn des Flugblatttextes). Eine Besonderheit des Angebots ist, dass die einzelnen Dokumente auch zeitlich recherchiert werden können.


Eine Fundgrube für Historiker

Im Falle des Mordes an Felix von Lichnowsky führt die Recherche zu dem Band "Zeitgenossen in Biographien und Porträts", herausgegeben von einem Dr. Günther, erschienen in zweiter Auflage 1849 in Jena. Dem biografischen Porträt Lichnowskys ist ein vierseitiger Nachtrag angefügt, der mit der folgenden Mitteilung beginnt: "Bereits war der Anfang vorstehender Lebensskizze gedruckt, als uns die Kunde von dem niederträchtigen Meuchelmorde des Fürsten von Lichnowsky [...] so schmerzlich überraschte. Wir fügen derselben nachträglich die Schilderung des letzten Lebenstags des Fürsten, wie sie uns ein naher Augen- und Ohrenzeuge jener schwarzen That mittheilt, ausführlich bei, da dieselbe von vielen Seiten her so mannichfach entstellt in's Publikum gekommen ist." [Auszüge aus dem Text im Kasten]


Kasten: Der Mord an Lichnowsky

...nach 1 Uhr verläßt er [Lichnowsky] die [Pauls]Kirche, geht auf die Zeil [...], hinter ihm eine Masse Buben und Schreier, begegnet dem Prinzen Felix zu Hohenlohe-Oehringen, steigt, um dem Gepfeif zu entgehen, mit ihm in eine Droschke, sie fahren die Zeil entlang zum Thor, steigen aus, gehen links auf die Promenade, als sich bald wieder ein Schwarm zischender Burschen hinter ihnen ansammelt. In dieser Zeit tritt noch ein ehrbarer Bürgersmann an sie heran, bittet sie, sich in die Stadt zu begeben, um dem Skandal zu entgehen. - Sie gehen darauf in das Eschenheimer Thor und da noch keine Barrikade dort errichtet ist, so kommen sie glücklich in den Englischen Hof, dort zu essen. Nach dem Essen gehen sie zu Lichnowsky's Hause, wo vor demselben ihnen mehrere Herren begegnen, unter ihnen der General von Auerswald. - In diesem Augenblicke verläßt ihn der Prinz Hohenlohe, und nun muß zwischen dem Fürsten und Auerswald die Verabredung geschehen seyn, der hessischen Batterie, die in Friedberg stand, entgegenzureiten. So bestiegen beide gegen 6 Uhr das Pferd an der Hauptwache und sprengten zum Friedberger Thor hinaus; als sie in die Pappelallee, welche rechts von der Chaussee abführt, kommen, fallen mehrere Schüsse auf sie. - Man trifft aber nicht; eine Rotte, bewaffnet mit Knütteln, Feuergewehr, Sensen, Degen, springt ihnen aus den Chausseegräben entgegen. Statt nun en pleine carrière vorwärts oder rückwärts zu reiten, sprengen sie quer in die Hecken, lassen ihre Pferde vor einem Gartenthor laufen, springen in das Schmidt'sche Gärtnerhaus, von Auerswald verkriecht sich oben unter das Bett, der Fürst in ein Faß im Keller. - Die meuchelmörderische Bande ist ihnen nachgefolgt, und sie finden bald den ersteren, den sie aus dem Hause ziehen, auf grünem Rasen buchstäblich zu Tode prügeln und zuletzt einen Schuß geben. Dann suchen sie den jungen Fürsten wohl eine Viertel-Stunde, finden ihn mit Hülfe von Licht in dem Keller, zerren ihn zu Auerwald's Leiche, [...] hauen ihm den Arm ein, schlagen ihn an anderen Stellen mit fürchterlichen Eisenwaffen, namentlich Sensen, das Fleisch von den Knochen, hacken ihn in den Nacken, schlagen ihn auf den Kopf, und dann fangen sie an, nach ihm zu schießen, indem sie ihn, da er schon zusammengeknickt war, an einer Pappel aufrichten. So stürzt er denn von dem ersten Schuß in den Unterleib getroffen ganz zusammen; die Kugel ging zum Rücken hinaus, noch mehrere Schüsse wurden auf ihn abgefeuert, und nun lassen sie ihn liegen. (Flugschriftensammlung 1848 im Netz: http://1848.ub.uni-frankfurt.de)


Dieses Zitat verdeutlicht den besonderen Wert der Materialien zu 1848 für den Historiker. Sie zeichnen sich zunächst durch die zeitliche Nähe der Flugblätter zu den Ereignissen aus, die sowohl das Geschehene als auch in unterschiedlichsten Gruppierungen kursierende Gerüchte kolportieren. So vermeldete wenige Tage nach dem Frankfurter Blutbad ein Flugblatt in Wien: "Das Deutsche Volk in Frankfurt hat gesiegt! [...] Schon wurde bereits die sichere Nachricht mitgetheilt, daß das Militär die Oberhand behalten, sämmtliche Barrikaden erstürmt und die Ruhe hergestellt habe, aber die neusten Nachrichten lauten ganz anders. Der Kampf dauert fort [...] Heckscher, Auerswald, Lichnowski sind gefallen, und wenn man dem wahrhaft herrlichen, jeden Demokraten bis ins Innerste entzückenden Gerüchte glauben schenken darf, so ist das hessische Militär zum Volke übergegangen."

Zum anderen spiegelt die Sammlung auch ein großes Meinungsspektrum, wie etwa aus der Leichenrede des Pfarrers von Ketteler am Grab der Ermordeten deutlich wird. Fassungslos fragt er die Trauergemeinde: "Wie konnte in unserem theueren Vaterlande, in unserem edelmüthigen Deutschland, an einem deutschen Volksvertreter ein so übergrausenhafter Mord begangen werden? [...] Ihr [Lichnowskys und Auerwalds] ganzes Verbrechen hat nur darin bestanden, daß sie Männer waren, daß sie nach freier, unabhängiger Überzeugung geredet und gestimmt, daß sie in Uebereinstimmung mit der Mehrzahl der deutschen Nationalversammlung gehandelt haben."


Freie Rede oder Provokation?

In der Tat, so ist der Allgemeinen Deutschen Biographie zu entnehmen (die ebenfalls über die Online-Datenbank der Universitätsbibliothek recherchierbar ist), war der schlesische Fürst von Lichnowsky ein scharfzüngiger Redner. Er provozierte die äußerste Linke im Parlament nicht nur durch seinen aristokratischen und Legitimitätsanspruch, sondern auch, indem er seine "persönliche Geringschätzung in der verletzendsten Weise fühlbar" machte. Der Autor des biografischen Eintrags, Franz Freiherr von Sommaruga, zählte Lichnowsky zu den größten Rednertalenten der Nationalversammlung, "obwohl man deutlich fühlte, das ihm weniger daran lag, zu überzeugen, als durch Effekte zu glänzen". Es habe daher nicht ausbleiben können, dass die radikale Partei ihn hasste und sich dieser Hass auch durch Artikel in radikalen Blättern und spöttischen Flugschriften den untersten Volksschichten mitteilte. Eine solche spöttische Darstellung zeigt den Fürsten Lichnowsky als Schoßhündchen der Damen auf der Orgelgalerie in der Paulskirche. Dass er bei den Damen gut ankam, lässt übrigens die Beschreibung des zeitgenössischen Biografen vermuten:

"Fürst Lichnowsky ist ein schöner Mann im vollen Sinne des Wortes, von stattlicher Figur und untadeligem Wuchse; jugendlich strahlt sein volles Gesicht, feurig blitzt sein Auge, und der schwarze Bart an Kinn und Oberlippe gibt ihm ein kriegerisches Aussehen. In seiner ganzen Erscheinung liegt der Ausdruck des Chevalleresken, daher denn auch sein Beiname 'der Husar des Parlaments'."


Sicherung hinfälliger Dokumente

Das Porträt und die Lebensbeschreibung des mit 35 Jahren ermordeten Fürsten kann sich jeder Interessierte mittlerweile über das Datenbankenportal der Universitätsbibliothek ansehen. Das Projekt, die Flugschriftensammlung 1848 zu digitalisieren und über das Internet verfügbar zu machen, wurde 1996 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft bewilligt. Am Anfang stand das Bewusstsein der Notwendigkeit, die historischen Informationsträger, insbesondere natürlich die auf schlechtem Papier gedruckten Einheiten, die ja im 19. Jahrhundert auch nur für den aktuellen Gebrauch und oft mit den einfachsten drucktechnischen Mitteln hergestellt waren, physisch zu erhalten. Die Frankfurter Bibliothek war Ende der 1980er Jahre bereits überregional federführend im Bereich der durch die VW-Stiftung geförderten "Mikrofichierung historischer Buchbestände" tätig, in den 1990er Jahren erlebte man einen gewissen Umschwung vom Mikroplanfilm zum Rollfilm zurück, der zwar schwieriger zu benutzen ist, aber besser digitalisiert werden kann, und dessen Produktion in größeren Mengen sich auch als kostengünstiger erwies. Damals setzte sich der Gedanke durch, dass der Film zwar das bessere Langzeitmedium sei, das Digitalisat aber in jedem Fall das Hauptmedium der künftigen weltweiten Nutzung sein wird. Der Film sollte also den Bereich "preservation" bedienen, das Digitalisat aber den Aspekt "access".

Man trug damit seinerzeit nicht nur der physischen Hinfälligkeit des historischen Materials Rechnung, sondern auch dem deutlichen Anstieg des Benutzerinteresses. Nicht nur die wissenschaftliche Nutzung stieg an, sondern auch die in den Bereichen Bildung und Fortbildung. So wurden beispielsweise Teile des Gesamtmaterials für die Produktion von CDs für die Schulbeziehungsweise Volkshochschularbeit bereitgestellt. Insgesamt wurden um die 90 000 Seiten bearbeitet und ins Netz gestellt. Dies entspricht zirka 2000 Titeln von Flugblättern, Flugschriften und sonstigen revolutionsbezogenen Schriften. Ein Desiderat bleibt die Vernetzung der Frankfurter Materialien zu 1848 mit anderen Sammlungen weltweit, die aber aufgrund der unterschiedlichen Serverlösungen bisher nicht möglich ist - im Unterschied zu dem ebenfalls digitalisierten "Kolonialen Bildarchiv". Hier kooperiert die Bibliothek inzwischen mit amerikanischen Partnern. Sicherlich gibt es auch für die Materialien zu 1848 ein weltweites Interesse und einen weltweiten Markt. Dies suggerieren jedenfalls die einschlägigen Anfragen.


Die Autoren

Dr. Anne Hardy, 41, promovierte in Wissenschaftsgeschichte. Sie ist Referentin für Wissenschaftskommunikation an der Universität Frankfurt.

Dr. Wilhelm R. Schmidt, 59, Bibliotheksdirektor und stellvertretender Bibliothekar der Universität Frankfurt, führte mehrere internationale Digitalisierungsprojekte in Zusammenarbeit mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft durch.


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Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

"Ein Mann von Verdienst kann alles treiben, doch jeder andere laß es bleiben", Karikatur auf die Geschäftstüchtigkeit des insgesamt in vier Branchen tätigen Weinhändlers und (ehemaligen) Majors der Frankfurter Stadtwehr.

Karikatur auf den Vizepräsidenten der Frankfurter Nationalversammlung Soiron, dessen "...wenig souveräne Leitung der Sitzungen ... stark kritisiert [wurde]".

"Die göttliche Komödie unserer Zeit oder das jüngste Gericht...", Satire mit demokratischer Tendenz auf die Rolle der Fürsten, des Klerus und des Volkes während der Revolution.

"Viehkongreß, oder approbirtes Assoziationsrecht...", Karikatur auf den Verlauf der Revolution in Frankreich. Am Ende steht die faktische Restauration der alten politischen Zustände (mit veränderter personeller Besetzung), Zeitpunkt: 1848 (?).

Der Abgeordnete der Frankfurter Paulskirche, Fürst Felix Lichnowsky, wurde am 18. September 1849 von Aufständischen brutal ermordet. Er hatte die radikale Linke im Parlament durch sein aristokratisches Standesbewusstsein und scharfzüngige Reden provoziert.

"Orgel-Galerie. Des Vaterlands Größe, des Vaterlands Glück...", Karikatur auf den Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung Lichnowsky, der als Schoßhündchen vornehmer Damen auf der Zuschauertribüne dargestellt wird.


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Quelle:
Forschung Frankfurt 1/2007, 25. Jahrgang, S. 67-70
Das Wissenschaftsmagazin der Johann Wolfgang Goethe-Universität
Herausgeber:
Der Präsident der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main
Redaktion:
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Forschung Frankfurt im Internet:
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Das Einzelheft kostet 5 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Juni 2007