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BERICHT/164: Deutschlands Historiker treffen sich an der TU Dresden (TU Dresden)


Dresdner UniversitätsJournal Nr. 13 vom 15. Juli 2008

Ungleichheiten als Zentralthema
Deutschlands Historiker treffen sich an der TU Dresden

Von Nick Wagner


Vom 30. September bis zum 3. Oktober 2008 kommen zirka 3.000 Vertreter der Geschichtswissenschaft aus dem In- und Ausland nach Dresden, um die neuesten Ergebnisse ihrer Forschung zu diskutieren. Das Universitätsjournal sprach aus diesem Grund mit Prof. Martin Jehne. Der Althistoriker und Caesar-Experte ist Sprecher des Organisationsteams vor Ort. Es fragte Nick Wagner.


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UJ: Herr Prof. Jehne, Europas größter geisteswissenschaftlicher Fachkongress kommt im Herbst 2008 nach Dresden. Was bedeutet ein so wichtiges Ereignis für das Institut für Geschichte und die Geisteswissenschaften insgesamt?

PROF. MARTIN JEHNE: In der Welt der Geschichtswissenschaft haben wir uns seit der Begründung der geisteswissenschaftlichen Fakultäten an der TU Dresden einen guten Namen erarbeitet. Dass wir den Historikertag - mit der unverzichtbaren Unterstützung von Universität, Stadt und Land - nach Dresden holen konnten, bestätigt nicht nur diesen guten Ruf, sondern zollt auch unserer Forschung und Lehre in den letzten 15 Jahren in einer öffentlichkeitswirksamen Weise Anerkennung.

UJ: Über vier Tage diskutieren Historikerinnen und Historiker aus dem In- und Ausland soziale, wirtschaftliche, religiöse und ethnische Ungleichheiten und daraus resultierende Problemlagen aus historischer Perspektive. Trägt die Wahl eines solchen überaus aktuellen Schwerpunktthemas zu einer Steigerung der Bedeutung des Faches bei?

PROF. MARTIN JEHNE: Ich denke, dass die Geschichtswissenschaft in der Gesellschaft ohnehin ein beachtliches Ansehen genießt, wie ja unter anderem daraus hervorgeht, dass der Bundespräsident uns die Ehre erweist, den Kongress zu eröffnen. In der Politik wie in anderen Zusammenhängen wird ja auch immer wieder historisch argumentiert, weil die Menschen ihren Erwartungshorizont und ihre Verhaltensstandards aus Erfahrung aufbauen, also aus der Vergangenheit. Was wir Historiker aber noch nicht so richtig schaffen, ist das Vordringen in die Planungsstäbe, in die Historiker eigentlich hineingehören. Immerhin blicken sie auf eine bunte Vielfalt von verschiedenen Gesellschaften zurück, die für ähnliche Probleme völlig unterschiedliche Lösungen gefunden haben. Aber auch ein großer Kongress wird wohl kaum etwas daran ändern, dass heute in den Ministerien und anderswo eher Spezialisten des Weiterdenkens in vorgegebenen Schranken beschäftigt werden.

UJ: Welche Problemlagen werden im Bezug auf Ungleichheiten aufgegriffen?

PROF. MARTIN JEHNE: Dem Grundanliegen der Historikertage entsprechend, Historikerinnen und Historikern aller Ausrichtungen und Spezialisierungen ein Forum zu bieten, ist unser Programm ausgesprochen bunt und vielfältig. Mehrere Themen knüpfen unmittelbar an aktuelle Gegenwartsprobleme an. So befassen wir uns z.B. mit wirtschaftlicher Ungleichheit als globalem Problem des 20. Jahrhunderts oder der Rolle der Ungleichheit im deutschen und britischen Sozialstaat. Aber wir haben auch die Korruption in Westeuropa vom 15. bis 20. Jahrhundert im Blick, und wir beschäftigen uns mit ethnisch gemischten Gesellschaften wie denen des Hellenismus, in denen bestimmte Bevölkerungsgruppen aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit ganz selbstverständlich zurückgesetzt wurden. Und wir haben Sektionen über das deutsch-tschechische Verhältnis und die Ungleichheiten, die dabei konstruiert wurden, ebenso im Programm wie die unterschiedlichen Pfade der westdeutschen und ostdeutschen Innovationskultur in den Zeiten der Zweistaatlichkeit.

UJ: Die Frage nach dem richtigen Maß von Gleichheit in einer Gesellschaft scheint derzeit nicht wegzudenken aus politischen Diskussionen. Sie ist jedoch keine neue. Welche Parallelen oder Unterschiede sehen Sie zu vergangenen Zeiten?

PROF. MARTIN JEHNE: In der Tat ist das ein steinaltes Problem. Zur Gegenwart gibt es meiner Ansicht nach einen wichtigen, wenn auch leider eher graduellen als prinzipiellen Unterschied: In der heutigen Zeit ist die Basisgleichheit der Menschen wenigstens in einem Teil der Welt anerkannt, auch wenn sie in der Praxis nicht immer berücksichtigt wird und immer bedroht ist - schließlich liegt die Herrschaft der Herrenmenschideologie noch nicht lange zurück. Aber es wird eben nicht mehr vertreten, dass jemand der Natur nach Sklave ist und Ähnliches. Doch der Kampf der Argumente, wieviel Gleichheit notwendig ist und wie viele Anstrengungen angemessen sind, um diese herbeizuführen, ist sicherlich in vielen historischen Gesellschaften anzutreffen, wenn auch mit unterschiedlichen Idealkonzepten und konkreten Füllungen.

UJ: Freiheit - Gleichheit - Brüderlichkeit gilt als Leitbild oder Zielvorgabe der Französischen Revolution. In welchem Verhältnis stehen diese drei Maximen in unserem Kulturkreis aus geschichtlicher Sicht?

PROF. MARTIN JEHNE: Darin offenbart sich ein unauflösliches Spannungsverhältnis, denn diese drei Werte wird man nie gleichzeitig und komplett verwirklichen können. In unserem Kulturkreis ist die Freiheit sehr hoch angesehen, besonders nach dem Niedergang der sozialistischen Staaten. Dies ist in vielerlei Hinsicht ein Segen, verlangt den Menschen aber auch einiges ab. Seit dem 19. Jahrhundert ist gerade die wirtschaftliche Handlungsfreiheit gerne mit der Ideologie verknüpft worden, dass der darin angespornte Egoismus über seine Nebenwirkungen allen zugute komme. Davon muss man sich wohl noch stärker verabschieden, als man es ohnehin schon getan hat. Die Brüderlichkeit der Französischen Revolution ist ein Terminus des sozialen Mitgefühls, und ohne das ist es nie gegangen und wird es nicht gehen. Keine indirekte Wohlstandsförderung kann die direkte menschliche Zuwendung ersetzen, die die Verwerfungen der Ungleichheit lindern muss.

UJ: Inwiefern werden Erkenntnisse der Geschichtswissenschaft in anderen Disziplinen, aber auch in der Politik aufgegriffen?

PROF. MARTIN JEHNE: Im Zeitalter der Interdisziplinarität werden die geschichtswissenschaftlichen Erkenntnisse in anderen Disziplinen bereitwillig aufgegriffen, in der Politik ist das sicher weniger der Fall. Aber unsere Politiker spiegeln nur das Verhältnis der Gesellschaft zur Geschichte: Man interessiert sich dafür, man empfindet die exotischen Reize des vergangenen Fremden. Doch man bezieht daraus kaum Anregungen für die Gestaltung der Gegenwart - oder, um die gängige Ausdrucksweise zu verwenden: der Zukunft. Vergangenheit und Zukunft sind getrennte Welten in einer Zeit, in der wir professionelle Entscheider in großer Zahl beschäftigen, deren Rechtfertigung nur in der Suggestion liegt, sie wüssten besser als andere, wie man die Zukunft plant. Dieser Anschauung ist das geschichtliche Material in der Tat abträglich, denn da kann man auf Schritt und Tritt beobachten, wie in allen möglichen Gesellschaften die Entscheidungen ganz andere Wirkungen hervorgebracht haben als die, die man angestrebt hatte.

(Anmeldungen zum Historikertag waren bis zum 15. August 2008 möglich.)

Weitere Informationen unter www.historikertag.de


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Quelle:
Dresdner UniversitätsJournal, 19. Jg., Nr. 13 vom 15.07.2008, S. 3
Herausgeber: Der Rektor der Technischen Universität Dresden
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. August 2008